Schatten der Anderwelt

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4.

Am späten Nachmittag traf Norbert im Gasthof zum schwarzen Raben ein. Es waren keine Gäste anwesend. Im hinteren Teil des Schankraums saß Aila und spielte für sich allein leise, sanfte Klänge auf ihrer Reiseharfe. Gordon wechselte die abgebrannten Kienspäne auf den Tischen gegen neue aus.

Norbert setzte sich an die Feuerstelle. Den Beutel mit den wenigen Sachen, die er gekauft hatte, legte er neben sich auf einen Stuhl: eine wollene Schlupfjacke, nach der er lange gesucht hatte, weil er eine ohne Kapuze wollte, die er unter der Lederjacke tragen konnte. Dazu zwei Leinenhemden und zwei Paar Webstrümpfe für die Stiefel. Er hatte nicht vor, noch lange in Altenweil zu bleiben und im Gornwald konnte er mit städtischer Kleidung nichts anfangen. Nach dem Einkaufen hatte Norbert an einem Bierausschank gesessen, weil er nichts mit sich anzufangen wusste. Überall auf dem Markt wurde er mit ehrfürchtiger, manchmal ängstlicher Scheu behandelt. Die Altenweiler hielten respektvollen Abstand von ihm. Ihm war es recht so.

Gordon nickte ihm zu: „Bisschen was zum Abendbrot?“

„Gern.“

Gordon ging in die Küche. Sarah ließ sich nirgendwo blicken. Kurze Zeit später kam Gordon mit einem Teller voll gebratenem Schweinefleisch, gestampften Möhren und Brot zurück. Er stellte Norbert einen Humpen Bier daneben. Norbert fingerte einen Silberling aus seiner Tasche und schob ihn Gordon hin. Aber es kam ihm knauserig vor und er legte noch einen zweiten Silberling daneben.

„Hier. Für Zimmer und Essen und alles. Und ich hab ja auch oft nicht bezahlt.“

Gordon schüttelte den Kopf und schob den zweiten Silberling zurück.

„Wenn der eine aufgebraucht ist, geb' ich dir Bescheid.“

Während Norbert den Silberling wieder einsteckte, setzte er zu einer Frage an, die ihm auf dem Herzen lag, aber er wusste nicht recht, wie er sie stellen sollte, und ob überhaupt, und druckste verlegen. Gordon wartete stumm ab.

„Gordon, ich... Ich war doch bei Darulan gefangen.“

Aila hörte auf zu spielen und hörte still zu. Norbert bekam einen Kloß im Hals und musste schlucken.

„Wahrscheinlich sucht er jetzt nach mir. Er wird sich rächen wollen, weil... ich hab ihm doch die Zaubersprüche gestohlen und...“

Er brachte es nicht über sich, von dem Mord an Ruth zu berichten, den er in Notwehr begangen hatte.

Gordon schüttelte den Kopf: „Hier brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Mag sein, dass er auf der Suche nach dir ist. Dort in dem Tal am Fuß des Laendorgebirges, wo sein Haus steht, dort ist sein Reich, dort kann er seine Macht ausüben, soweit ein Sterblicher das eben möglicherweise kann. Aber dieser Gasthof hier in Altenweil ist mein Haus. Und wenn er klug ist, wird er es tunlichst vermeiden, auch nur in die Nähe des Gasthofs zum schwarzen Raben zu kommen.“

Gordon setzte sich zu Norbert an den Tisch. Er deutete auf den dampfenden Teller.

„Iss. Dein Essen wird kalt.“

Während Norbert mit Messer und Fingern aß, meinte Gordon nachdenklich, mit seinem gesunden Auge ins Unbestimmte blickend, als schaute er in weite Ferne: „Darulan - auch er ist ein Suchender, ein Wanderer. Aber er hat einen höllischen Abweg eingeschlagen.“

Er wandte sich wieder an Norbert: „Du hast das Mädchen gesehen, das er jetzt als Initiantin bei sich gefangen hält. Er hat ihr den Initianten-Namen Ligeia gegeben.“

Norbert hörte auf zu essen und blickte Gordon überrascht an.

„So sehr sie unter seinen Misshandlungen leidet, sie ist viel stärker als er. Eines Tages wird sie über ihn hinauswachsen.“

„Woher weißt du das alles?“ rief Norbert.

„Ich war einmal dort. Vor gar nicht mal so langer Zeit. Aber er hat mich nicht erkannt.“

Mit diesen Worten stand der Wirt des Schwarzen Raben auf und kehrte Norbert den Rücken, um im hinteren Teil des Schankraums Tische abzuwischen. Norbert war klar, dass Gordon keine weiteren Fragen dulden würde. Aila nahm ihre leise Harfenmusik wieder auf. Gedankenverloren aß Norbert sein Essen. Gordon, der Wirt des Schwarzen Raben, sei mächtiger als der Schwarzhexer Darulan? Dass es mit diesem Gasthof etwas Besonderes auf sich hatte, war Norbert schon seit längerem klar. Das freie Volk, die Abenteurer, ihre Sitten und Gebräuche gaben ihm immer neue Rätsel auf.

Gordon räumte Norberts leergegessenen Teller ab und stellte ihm wortlos ein weiteres Bier hin. Während Norbert langsam sein Bier trank, lauschte er den leisen Klängen von Ailas Harfe. Als der Humpen leer war, stand er auf und ging hinauf in sein Zimmer. Diese Nacht schlief er traumlos und tief.

***

Eine Stunde vor Morgengrauen wurde Norbert wach. Der Mond war untergegangen und es war stockdunkel im Zimmer. Norbert entzündete den Kerzenstummel, zog seine neu erstandenen Sachen an und schlüpfte in die Ledermontur. Heute wollte er Aila nach einem Jagdbogen und Pfeilen fragen. Er hatte nichts mehr verloren in dieser Stadt.

Norbert legte den Beutel mit den Goldtalern in den Schrank und steckte sich lediglich ein paar Kupfermünzen in die Tasche, soviel, wie er meinte, bis zum Abend vielleicht zu benötigen. Er wusste, dass sein Gold im Schwarzen Raben sicher war.

Unten im Flur kam ihm Sarah von der Hintertür her entgegen. Sie war in einen langen Kapuzenumhang gehüllt und trug Lederschuhe, als wäre sie zu dieser frühen Stunde schon unterwegs gewesen. Sie streifte sich die Kapuze ab und ging erhobenen Hauptes an ihm vorbei in die Küche.

„Guten Morgen, Sarah!“

Sie nuschelte etwas Unverständliches, bevor sie die Küchentür schloss.

Im Schankraum saß Aila am prasselnden Feuer. Ein einzelner Kienspan brannte auf dem Tisch, an dem sie saß und verbreitete schütteres, warmes Licht in dem sonst dunklen Raum. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen, die Arme auf den Tisch gelehnt und blickte ins Licht des Kienspans. Ihr offenes, langes Haar glänzte seidig im Lichtschein.

„Du bist schon wach?“ wunderte sich Norbert.

Sie blickte auf.

„Du auch!“ stellte sie statt einer Antwort fest.

Norbert setzte sich ihr gegenüber.

„Ich steh immer vor Morgen auf. Im Wald, wenn man zur Jagd will, muss man noch viel früher aufstehen. Kurz vor Tagesanbruch ist das Wild auf den Fährten unterwegs.“

Aber warum erzähle ich ihr ihr das? dachte er. Sie ist ja selbst eine Jägerin!

Aila blickte wieder in die Flamme.

„Gestern am späten Abend,“ meinte sie in ihrer nüchternen Art, „war ich noch einmal in der Stadt unterwegs. Bei der Brandzone habe ich einen großen Flughund fliegen gesehen. Er kreiste in der Abenddämmerung ein paarmal um die Ruine des Turms deines umgekommenen Lehrmeisters. Dann flog er nach Südwesten davon.“

Sie schaute den schockierten Norbert an.

„Ich glaube nicht, dass er wiederkommen wird.“

Wenn Darulan glaubte, dass Norbert zusammen mit seinem Lehrmeister umgekommen war, dann wäre Norbert fürs erste tatsächlich sicher vor seiner Rache. Aber der Hexenmeister brauchte sich bloß in der Stadt umzuhören, um zu erfahren, dass es nicht so war. Oder hatte da etwa Aila die Hand im Spiel, da sie so sicher war, der Hexer würde nicht zurückkommen? Nachdenklich blickte Norbert die vermeintliche Magierin an. Ihr aufgespannter Bogen und der Köcher hingen neben ihr über einer Stuhllehne. Ailas ernste Gesichtszüge verrieten nichts.

Sarah kam mit einem Tablett herein, in dem braunen Kleid, das sie immer trug und in klackenden Holzschuhen. Wortlos stellte sie gebratene Eier mit Speck, Brot und Bier auf den Tisch. Norbert gegenüber machte sie eine beleidigte Miene.

Er kannte sie gut genug, um ihren Gesichtsausdruck zu deuten: Sprich mich nicht an!

Während sie frühstückten, bemerkte Norbert immer wieder, wie Aila ihn forschend betrachtete. Er versuchte, es zu ignorieren.

Nach dem Frühstück frage ich sie nach Pfeil und Bogen.

Aila schob ihren Teller beiseite und blickte in die Glut auf der Feuerstelle.

„Den Seelenort einer Untoten in der Anderwelt zu finden, ist ein schwieriges Unterfangen,“ sagte sie in der unaufgeregten Art, auf die sie immer sprach.

Norbert vergaß den Bissen in seinem Mund, hörte auf, zu kauen und starrte sie an.

„So schwierig,“ redete Aila weiter, „dass es an Wahnsinn grenzt, es zu versuchen.“

„Du redest wie Telluk!“ platzte Norbert mit vollem Mund heraus, verschluckte sich und musste husten.

„Höre mir zu,“ unterbrach Aila ihn. „Wenn Lonnie eine Banshee ist, dann wird sie dich selbst dorthin führen, wo ihr Seelenort ist, um dich dort zu bannen und für immer festzuhalten. Es ist ihr ureigenster Trieb, sie kann sich nicht dagegen wehren. Egal, was sie zu dir sagt.“

Ailas Blick duldete keinen Widerspruch. Norbert trank einen Schluck Bier, um sie nicht anschauen zu müssen. Er setzte eine trotzige Miene auf.

„Wenn du sie befreien und zurückholen willst,“ erklärte Aila weiter, „musst du stark genug sein, ihren Bann zu brechen.“

Norbert schluckte.

„Ich habe den Ritualgesang des Lebens,“ verteidigte er sein Vorhaben. „Er hat mir auch gegen die Banshee geholfen, die das blaue Feuer entfacht und Dreyfuß herabgezogen hat. Obwohl der Zauber sie nicht ins Leben zurückgeholt hat. Er hat sie hinunter gebannt.“

„Du musst den Gesang des Lebens an Lonnies Seelenort anstimmen,“ meinte Aila ernst. „Du musst zum Sänger im Totenreich werden. Aber du musst dir im Klaren sein, in welche Gefahr du dich begibst! Ich weiß nur von einem einzigen Sterblichen, dem es jemals gelungen ist, von dort wieder zurückzukommen: einem Sänger, einem großen Magier. Jedoch mit seiner Mission, die Frau die er mehr liebte, als sein Leben, von den Toten zurückzuholen, ist er gescheitert. Auf halben Weg zurück überkamen ihn Zweifel. Als er sich nach ihr umsah, musste er mitansehen, wie sie auf ewig in den Abgrund hinabgerissen wurde.“

 

Der tödliche Ernst ihrer Worte ließ Norberts Trotz schwinden. Höchstwahrscheinlich hatte sie recht. Aber was blieb ihm übrig?

„Wenn ich immer erst nachgegrübelt hätte,“ murmelte er, ohne Aila anzuschauen, „wie gefährlich eine Sache sein könnte, dann wär ich nie aus Wildenbruch weggegangen und wäre jetzt tot. Ich wär nie zu Dreyfuß in die Lehre gegangen – und die Ritualmagie des Lebens hätte ich auch nie gelernt!“

Aila schüttelte ratlos den Kopf. Aber ihr Blick war sanft.

„Dann iss dein Frühstück, trink dein Bier aus und komm!“

„Was?“

„Komm mit.“

„Aber wohin denn?“

„Zu einem heimgesuchten Ort. Zu einem Tor nach drüben!“

Fassungslos starrte Norbert sie an. Seine Gedanken und Gefühle wirbelten wild durcheinander.

„Du weißt...?“

„Ja!“

Sie deutete auf seinen Teller.

„Iss jetzt auf!“

***

Die Hüttentüren in den Gassen des Armenviertels waren noch geschlossen, als Norbert und Alia kurz vor Tagesanbruch den Gasthof Zum schwarzen Raben verließen. Die Regenwolken vom Vortag hatten sich verzogen und der östliche Himmel strahlte in erstem, tiefblauem Morgenlicht. Norbert schaute in den Himmel über der Stadtmauer.

„Es ist dasselbe tiefe Blau wie das Leuchten in der Anderwelt.“

„Landor – der frühe Morgen,“ sann Aila nach. „Die Stunde der Schöpfergötter. Geburtsstunde des neu erwachenden Lebens.“

In ihrer Stimme schwang Musik.

„Zu dieser Stunde ist es wohl möglich, dass neues Leben aufersteht aus dem Totenreich.“

Norbert spürte, wie sein Herz höher zu schlagen begann. Also war es nicht völlig hoffnungslos! Es konnte gelingen!

„Wohin gehen wir?“ wollte er wissen.

„Komm einfach mit.“

Zwischen den noch leeren Ständen auf dem Marktplatz schlichen in Lumpen gehüllte Kinder umher und suchten nach Gemüseabfällen, die von den Bettlern am Vorabend verschmäht worden waren. Mit ängstlichen Hungeraugen blickten sie Norbert und Aila aus sicherem Abstand hinterher.

Die Torgasse lag noch verlassen in der Morgendämmerung. Eine einsame Gestalt bewegte sich gebückt zwischen den Trümmern in der Asche der Brandzone. Ihr jammerndes Klagen hallte über die Gasse. Das Kleid der weinenden Frau, ihre Hände, ihr Gesicht und ihre Haare waren rußverschmiert. Mit beiden Armen wühlte sie in den Trümmern.

„Anna, mein Annchen!“ weinte sie. „Wo bist du? Deine Mama ist ja hier! Mein Annchen, komm doch! Hier stand doch dein Bettchen! Wo bist du denn?“

„Niemand kann ihr helfen,“ meinte Alia im Weitergehen leise zu Norbert. „Der Tod ihrer Tochter in den Flammen hat sie wahnsinnig gemacht. Sie hat keine andere Möglichkeit, ihren Schmerz darüber auszudrücken, dass ihr Kind verbrannt ist.“

Das Stadttor war gerade erst geöffnet worden. Die Wachen im Tor standen müde auf ihre Piken gestützt. Als Norbert und Aila den Tordurchgang betraten, schauten sie auf. Aila blickte die Torwachen mit unbewegter Miene an. Sie ging an ihnen vorbei, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Norbert blieb an ihrer Seite. Die großen Männer blickten stumm zu Boden.

Draußen vor dem Tor drängten sich notdürftig aus Planen und Decken errichtete Unterstände aneinander. Viele der Ausgebrannten lagerten lieber vor den Stadtmauern, als sich der erdrückenden Enge und dem Elend der Hütten des Armenviertels auszuliefern. Im Lager konnten sie beieinanderbleiben und einander gegenseitig helfen. Zwischen den Unterständen brannten die ersten Lagerfeuer. Gruppen von Frauen, Männern und Kindern drängten sich um die Feuer und teilten die wenigen Bissen miteinander, die sie besaßen.

Aila bog vom Hauptweg ab auf einen ausgetretenen Nebenpfad, der am Lager vorbei an der Stadtmauer entlangführte. Norbert fragte sich, wo sie hinwollte. Aber er mochte sie nicht noch einmal fragen.

Die Stadt mit dem steil aufragenden Burgfelsen lag auf einem Hügel, der sich über die von hügeligen Feldern, Hecken und Brachen geprägte Landschaft rings umher erhob. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Feuchte Kälte stieg vom Boden auf. Frühnebel bedeckten das Land und ließen alle Konturen zu geisterhaften Schatten verschwimmen. Der Trampelpfad zog sich durch hohes, feuchtes Gras um die Mauer der annähernd rechteckig angelegten Stadt herum.

Als sie an einem vorstehenden Rundturm vorbei um die Mauer bogen, kam der Friedhof ins Blickfeld. Norbert blieb wie angewurzelt stehen.

Die Grabmäler auf dem von einer niedrigen Mauer umgebenen Friedhof unten in der Senke waren im Nebeldunst nur vage auszumachen. Rings um die Friedhofsmauern war das Brachland umgegraben zum Totenacker. Der Friedhof vermochte die Brandopfer nicht mehr zu fassen. Jeder Fleck innerhalb der Friedhofsmauern war bereits genutzt worden, um die Hungertoten des vergangenen Winters zu begraben. In der Mitte des Friedhofs ragte grau das Spitzgiebeldach der Kapelle mit dem kleinen Glockenturm aus den Nebelschwaden. Das matt glänzende, nebelfeuchte Schieferdach schimmerte fahl in unwirklichem Blau.

Der Friedhof natürlich! Nach all den elenden Hunger- und Feuertoden in der Stadt! Dass Norbert nicht selbst darauf gekommen war!

Aila sah ihn warnend an.

„Dort liegt der Abstieg in die Hölle. Das ist dein Weg, Norbert!“

Norbert holte Luft.

„Ja. Ich hab es Lonnie versprochen.“

Kehr um! schrie eine Stimme im hintersten Winkel seines Bewusstseins. Aber er wollte nicht hinhören.

„Dann komm!“

Aila nahm ihren Bogen von der Schulter und schritt voraus, hinab in die Talsenke.

***

Der Nebel wurde dichter, während sie dem Pfad hügelabwärts folgten. Kalte Dunstschwaden zogen an ihnen vorbei. Die Friedhofsmauer und die zu Erdhügeln aufgeworfenen Gräber auf dem Totenacker verschwammen grau im Dunst. Bewegte sich da etwas zwischen den Gräbern? Norbert traute seiner Sicht im ziehenden Nebel nicht. Aila nahm einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf. Sie schritt weiter, ohne den Bogen zu spannen. Ein dünner, klagender Schrei ertönte zwischen den Gräbern, wie von einem gequälten Tier. Norbert strengte seine Augen an, aber er konnte nichts ausmachen.

Zwischen den Gräbern nahm die Kälte zu. Die Friedhofsmauer lag nur hundert Schritt vor ihnen, doch im dichten Nebel war sie kaum zu erkennen. Die Erdhügel auf vielen Gräbern sahen aus, als hätte jemand sie vor kurzem wieder aufgewühlt. Oder als hätte etwas sich aus ihnen heraus gewühlt. Norbert packte sein Schwert, bereit, es sofort zu ziehen. Aila verlangsamte ihren Schritt. Nach allen Seiten spähend ging sie zwischen den Gräbern voran. Knochen und Schädelreste lagen auf dem Weg. Viele sahen zernagt aus. Norbert blieb abrupt stehen. Aila spannte ihren Bogen ein wenig, hielt ihn aber gesenkt.

Die wie zum Sprung geduckte Gestalt zwischen den Erdgräbern kauerte keine fünf Schritt vor ihnen. Aus aufgerissenen, in tiefen Höhlen liegenden Augen starrte sie Aila und Norbert entgegen. Fingerlange Stiftzähne bleckten. Die Kreatur war in zerrissene Fetzen gehüllt. Sie krümmte sich, ein hohles Kreischen ausstoßend. Ihre Krallenhände öffneten und schlossen sich zuckend. Aila hob den Bogen. Mit einem Satz sprang das Wesen zur Seite und huschte zwischen den Gräbern davon.

Aila entspannte die Bogensehne wieder.

„Ghuls,“ meinte sie. „Sie sind Leichenfresser. Hier herum sind sie meist ungefährlich, aber drüben können sie zu einer ernsten Bedrohung werden.“

Überall zwischen den Erdhaufen sah Norbert die geduckten Kreaturen: mit den Krallen wühlend, buddelnd, nagend.

Das eiserne Gittertor des ummauerten Friedhofs war nur angelehnt. Es kreischte in den Angeln, als Aila es aufstieß. In dichten Schwaden lag der Nebel über den Gräbern. Jeder Platz zwischen den alten Grabstellen mit ihren schiefen, teilweise umgestürzten Grabmälern wurde von Erdgräbern eingenommen. Sie waren vor nicht langer Zeit angelegt worden. Noch während der Schneeschmelze hatten die Friedhofsgärtner sie hastig ausgehoben, sobald die im Winter steinhart gefrorene Erde mit Hacken und Spaten aufgebrochen werden konnte. Die Hungerleichen hatten den Winter über in der Kapelle gelegen, gestapelt bis unters Dach. Mit dem Tauwetter kam der Leichengestank. Er wurde schnell unerträglich, verpestete die Luft bis über die Stadtmauer ins Armenviertel hinein. Die Totengräber arbeiteten nach der Schneeschmelze Tag und Nacht. Sie verschwendeten keinen Gedanken an die Würde der Toten, die sie hastig verscharrten.

Es schien, als wäre der Tag innerhalb der Friedhofsmauern noch kaum angebrochen. Der Himmel über der Kapelle war dunkel. Fahler, unwirklich glühender Dunst stieg von den Gräbern auf. Das leise Seufzen vieler Stimmen drang von allen Seiten her an Norberts Ohren. Wie ein kauerndes Raubtier duckte sich in der Friedhofsmitte die Kapelle unter den dunklen Himmel. Blaues Anderweltglühen umgab ihre gedrungenen Feldsteinwände.

Eine menschliche Gestalt zeichnete sich im Nebel zwischen den Silhouetten der unmöglich schief stehenden Grabmäler ab. Heulendes Klagen lag in der Luft. Die Kleidung oder die Haut an den dürren Armen und Beinen des schwankenden Schemens schien im Nebel zu zerfasern. Unsicher staksend kam er heran, reckte die Arme nach Norbert. Das Klagen wurde zum schrillen Kreischen. Weiter hinten, zur anderen Seite, erhob sich ein weiterer Schemen. Ailas Bogensehne gab einen singenden Ton von sich. Die hell glänzende Spitze ihres Pfeils traf den heranwankenden Schatten in die Brust. Mit einem krachenden Lichtblitz zerstob die Geistererscheinung. Im selben Atemzug schwirrte ein weiterer Pfeil dem zweiten Gespensterschemen entgegen. Erneutes Krachen und Aufblitzen. Die Erscheinung verschwand.

Erstaunt bemerkte Norbert: „Deine Pfeile sind magisch!“

Aila ging nicht darauf ein. Sie wies auf die Kapelle.

„Dort! In der Kapelle. Geh rasch. Ich passe auf!“

Jetzt also war es soweit! Angst peitschte in Norberts Magengrube. Aber hatte er nicht auch die Hölle von Darulans Haus überlebt? Er war hingegangen, trotz seiner Angst. Noch vorgestern hatte er einen Kampf mit einem Poltergeist überlebt. Dieses Mal jedoch wusste er, was auf ihn wartete. Er konnte sich nicht einreden, es würde schon nicht so schlimm werden. Norbert biss die Zähne zusammen. Er umklammerte das Schwert am Gürtel und schritt auf die Kapelle zu. Er hatte es Lonnie versprochen – Lonnie, dem Wolfsmädchen – der Todesfee – seiner Todesfee!

... sie zieht dich hinab!

Du musst zum Sänger im Totenreich werden! hatte Aila gesagt. Es ist nicht unmöglich! sagte er sich vor, mit jedem Schritt erneut.

An der Kapellenpforte sah er sich noch einmal nach Aila um. Mit aufgelegtem Pfeil spähte sie über den Friedhof. Wo sie stand, schien es heller zu sein, als zwischen den fahlblau glühenden Gräbern. Sie nickte ihm zu. Norbert stieß die Pforte auf.

Hohles Stöhnen drang ihm entgegen, wie von unzähligen gemarterten Seelen. Der Pesthauch aus der Kapelle machte ihn würgen. Aus dem Steinboden des kahlen, schmucklosen Innenraums schlugen blaue Flammen. An den steinernen Wänden züngelte blaues Feuer empor. Es war kalt, trotz des Feuers. Halb erwartete Norbert, das Mädchen in dem triefend nassen Kleid dastehen zu sehen, aber er konnte sie nicht entdecken. Und doch wusste er, dass sie auf ihn wartete.

Vor ihm lag das Tor. War er erst hindurchgegangen, gab es womöglich kein Zurück mehr. Norbert zögerte nur einen Moment. Er richtete all seine Gedanken auf das Wolfsmädchen, konzentrierte sich auf das blaue Leuchten der Anderwelt. Sein Schwert blitzte hell auf, als er es aus der Scheide zog. Norbert umschloss den Schwertgriff fest mit der Faust. Dann schritt er durch die Pforte.

***

Blaues Feuer hüllte ihn ein. Das Brausen der Flammen irritierte ihn nicht. In Dreyfuß‘ und Telluks harter Schule hatte er gelernt, konzentriert im blauen Feuer zu sitzen. Aufmerksam und auf alles gefasst schritt er über den Steinboden der Kapelle, bis seine Fußspitze gegen einen Widerstand stieß. Sehr vorsichtig zog er den Fuß zurück, darauf achtend, dass er im Gleichgewicht blieb. Bei früheren Grenzübertritten war er unachtsam in Abgründe gestürzt, war in anderweltlichen Sümpfen versunken. Er zwang seinen Atem zur Ruhe. Vorsichtig setzte er den Fuß auf den Boden. Es war Erdboden. Das Feuer zerstob.

 

Leichengeruch drang ihm entgegen. Er kämpfte mit seinem Würgereiz. In der dunklen Öffnung vor ihm hing eine offenstehende Brettertür schief in den Angeln. Die Türöffnung gehörte zu einer verfallenen Hütte. Im grauen Zwielicht – Norbert wusste nicht, ob es Morgen- oder Abenddämmerung war oder ob es hier überhaupt Tageszeiten gab – im dämmrigen Licht konnte Norbert ein eingesunkenes Schilfdach und abblätternden Kalk an der Hüttenwand erkennen. Der Verwesungsgeruch kam direkt aus der Hütte. Norbert wäre über die Türschwelle mitten hineingestolpert.

Der Anblick der Hütte versetzte ihm einen Schock. Konnte es sein, dass...? Haufen modernder Lumpen lagen zwischen den Resten einer zusammengebrochenen Bank an der Hüttenwand. Es waren keine bloßen Lumpen. Sie umhüllten die braunen Gebeine einer Frau und eines Mädchens. Der Schädel des Mädchens lag eingesunken in sich auflösende Rockfetzen im Schoß der Frau. Ihr Haar schien einst blond gewesen zu sein.

Maja!

Norbert taumelte zur Seite und erbrach sich würgend. In der Ferne hallte das Grollen eines Raubtiers. Verzweifelt versuchte Norbert, das Entsetzen zurückzudrängen, das ihn gepackt hatte, den Würgekrampf zu beherrschen, der ihn schüttelte. Maja - seine erste Jugendliebe! Im Herbst hatte er eine Vision von ihrem Sterben gehabt: hier, vor der Hütte ihres Vaters in Wildenbruch, zu Füßen ihrer kurz zuvor verhungerten Mutter.

Reiß dich zusammen, um alles in der Welt, konzentriere dich! Die schwarze Dame! Durch deine Panik wächst ihre Macht nur weiter an!

Er wusste, dass die Dämonin ihm auf der Spur war. Bei nahezu jedem Grenzübertritt hatte sie ihn verfolgt.

Außer Atem richtete er sich auf. Er stand mitten im Hof Björn Feldnersohns! Weiter weg, vor den bewaldeten Felsen, die das Tal landeinwärts begrenzten, waren die Höfe anderer Siedlerfamilien auszumachen. Viele Hütten waren eingefallen. Der Geruch des Todes wehte über der Siedlung. Norbert keuchte. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich.

Warum bist du nicht im Herbst noch gekommen, als du die Vision hattest? Du hättest sie retten können! Jetzt ist es zu spät! Du darfst sie nicht da liegen lassen, wo die Krähen und die Ratten an sie herankommen! Du musst sie begraben! Wenigstens Maja und ihre Mutter!

Raubtiergrollen erscholl vom Felsenwald her. Er wusste, dass er nur wenig Zeit hatte, bevor sie ihn stellen würde. Verzweifelt sah er sich um.

Irgendwo hier muss doch ein Spaten sein!

Wie zur Antwort erklang ein Heulen aus der gegenüberliegenden Richtung, von jenseits der Flussaue, wo am Ufer der Gorn auf einer Erhebung die Ruinen des Elbendorfs lagen: ein langgezogenes, klagendes Wolfsheulen.

Norbert fuhr auf. Der Himmel über den Baumkronen - er war tiefblau! Die Schemen der Hütten im Dämmerlicht wurden blass. Mit einem Mal fiel ihm ein, wo er war.

Du bist jenseits der Grenze! Das ist nicht Wildenbruch! Es ist eine Täuschung! Es ist sie! Sie versucht, dich zu bannen!

Um ein Haar hätte sie ihn gehabt! Norbert zwang sich, seinen Blick von den verfallenen Hütten zu wenden und fest gegen den Horizont zu richten, dorthin, wo er die Wölfin rufen hörte. Es tat weh, nicht an Maja zu denken. Es war, als verriete er sie ein weiteres Mal. Er zwang sich zur Konzentration. Vorsichtig auf jeden seiner Schritte achtend ging er zwischen den unwirklichen Schemen der Dorfhütten hindurch dem klagenden Wolfsheulen entgegen.

Die Bäume in der überschwemmten Flussaue unterhalb der Siedlung waren kahl. Ihre Kronen zeichneten sich wie schwarzes Gitterwerk vor dem blau glühenden Horizont ab. Flussaufwärts ragte ein flacher, von Erlengehölz überwucherter Hügel wie eine Landzunge aus der überschwemmten Niederung. Als Schattenrisse standen die hohen, spitzen Dächer des Elbendorfs vor dem tiefen Blau des Himmels. Jenseits des Elbendorfs verlor sich die Gorn in einem von Wasserläufen zwischen dunklen Teichen durchzogenen Moor. Bei dem Wildenbruch in Norberts Erinnerung hatte es kein Moor gegeben, nur den sich nach allen Richtungen erstreckenden Gornwald. Noch irrealer jedoch war das steile Gebirge, dessen dunkle Wände zu Norberts linker Hand aus dem kahlen Wald aufragten. War es vorhin schon da gewesen? Ein Bergpfad schlängelte sich den Felshang entlang hinauf zu einer Burgruine auf einem vorstehenden Berggrat. Im höchsten Fenster des Burgturms flackerte schütteres Kerzenlicht.

Komm zu mir. Komm nach Hause!“

Eine plötzliche Sehnsucht überwältigte Norbert, schlimmer als die Sehnsucht nach Maja und sein elend schlechtes Gewissen wegen ihr. Oben beim Turmfenster bildete sich ein leuchtender, kreiselnder Nebelschwaden. Er schien näher zu kommen. Das Sehnen trieb Norbert Tränen in die Augen. Seine Sicht verschleierte sich.

Er murmelte einen Bannzauber. Die schmerzhaften Gefühle nahmen ab. Er blinzelte Tränen fort. Den Blick fest auf den Boden vor seinen Füßen richtend, schritt er voran, ohne noch einmal zur Burgruine hinaufzuschauen oder auf den Schrei in seinem Herzen zu hören. Er versuchte, auf nichts zu achten, was links oder rechts von ihm geschah. Überall in den Abgründen der Anderwelt lauerten tödliche Gefahren. Blieb man nicht messerscharf auf das gesteckte Ziel konzentriert, war man verloren. Ein röchelndes Grollen in seinem Rücken, einen Steinwurf entfernt vom oberen Rand der Siedlung her ließ das Blut in seinen Adern gefrieren.

Nicht hinhören! Nicht darauf achten!

Er bezwang seinen Drang, schneller zu gehen. Ohne den Schritt zu beschleunigen, ging er voran. Er hörte die Wölfin heulen. Sie rief ihn. Ihr klagender Ruf drang aus der Richtung des Elbendorfs zu ihm. Konzentriert, auf jeden seiner Schritte achtend, folgte er dem Ruf der Wölfin.

Die Häuser oben auf der Erhebung waren keine Ruinen. Wie Scherenschnitte konnte Norbert das Schnitzwerk an Giebelbalken und Dachfirsten vor dem blau glühenden Horizont erkennen. Zum Fuß der Erhebung hin verdichtete sich das Buschwerk. Schwarzes Gezweig versperrte Norbert den Weg. Er packte sein Schwert fester. Die Klinge leuchtete hell. Anderweltliches Unterholz war ihm nicht geheuer. Er hatte schlechte Erfahrungen damit gemacht auf früheren Anderweltfahrten mit dem Meister.

Die Zweige ließen sich mühelos zur Seite biegen. Keine Dornen wuchsen empor, keine Zweige rankten sich um ihn oder versuchten, ihn festzuhalten. Mühelos bahnte er sich den Weg durch das Erlengehölz. Oben auf dem Hügel standen hohe, schlanke Gestalten - Männer und Frauen. Die Männer waren in weiches Fransenleder gekleidet. Sie hielten lange Bögen schussbereit in den Händen. Die Frauen waren in gemusterte Decken gekleidet. Alle hatten langes, glattes und helles Haar.

Genau wie Aila. Und ob sie eine von ihnen ist! Auch, wenn sie es nicht zugeben mag.

Norbert schob das Schwert in die Scheide zurück und schritt ihnen entgegen. Unten im Erlengebüsch, kaum ein Dutzend Schritt entfernt, hörte er kehliges Röcheln – ihr Röcheln! Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Nicht umsehen! Konzentriere dich auf Lonnie!

Die Elbenkrieger – oder, korrigierte Norbert sich, die Totengeister der vor Jahrhunderten von kaiserlichen Truppen ermordeten Elben – richteten ihre feindlichen Blicke nicht auf Norbert, sondern auf etwas hinter ihm. Mehrere riefen ihn warnend an in ihrer fremden Sprache, deuteten mit ausgestrecktem Arm dorthin, wo Norbert das Raubtiergrollen hörte. Er wandte sich nicht um, versuchte, jeden Gedanken an die Dämonin zu bannen. Gäbe er der Drohung nach, es wäre vorbei! Den warnenden Rufen zum Trotz ging er weiter, den Elbenhäusern vor dem blauen Horizont entgegen, ohne schneller oder langsamer zu werden, obwohl das Grauen ihm Schauder über den Rücken jagte.

Er hatte erwartet, wie bei früheren Grenzübertritten die klaffenden, blutenden Wunden zu sehen, welche die Kriegsknechte des Kaisers den Elben zugefügt hatten, aber er sah keine Verwundeten. Die Gesichter der Männer und Frauen, die Norbert entgegenblickten, waren grau und ausgemergelt. Fieberglanz lag in ihren Augen. Die Augäpfel waren von ungesunder, gelber Farbe. Viele standen gebeugt. Ein Säugling auf dem Arm einer mageren Frau greinte rasselnd und heiser.

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