Schatten der Anderwelt

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Auf der Zugbrücke holte Norbert Luft. Er merkte, wie sein Körper sich anspannte in Erwartung dessen, was ihm bevorstand. Das auf beiden Seiten von Monsterfratzen steinerner Wasserspeier flankierte Burgtor gähnte dunkel in der über einen Steinwurf hohen, zinnenbewehrten Mauer. Aus der trüben Helle des Burghofs jenseits der Torpassage drangen dumpf die Schmerzensschreie einer Frau durchs Tor. Unter dem knapp über ihren Köpfen hängenden Fallgitter hindurch betraten Norbert und Alia das Burgtor. Die Torwachen stellten sich ihnen entgegen.

„Keinen Schritt weiter!“

Die narbengesichtigen Männer in den steifen Lederrüstungen nahmen ihre Piken quer, um den beiden den Weg zu verbarrikadieren. Sie blickten nervös nach Ailas und Norberts Waffen.

„Kein Zutritt für Freischärler. Befehl des Markgrafen.“

Aila stand aufrecht und ruhig.

Ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete sie die heftig atmenden Torwachen, deren eine über die Schulter nach hinten in Richtung Wachstube rief: „Karl, Hannes, Rüdiger, kommt mal her!“

Norbert setzte die Beine leicht auseinander. Sein Körper ging von allein in Kampfstellung. Er zwang sich, die Hand nicht an den Schwertgriff zu legen. Noch nicht. Ein großer Kerl schaute aus der Wachstube.

Er erkannte die Situation und murmelte: „heilige Scheiße!“

Er und die anderen Männer in der Wachstube hatten offenbar keine Eile, zum Beistand ihrer Kameraden herauszukommen.

Schnell erklärte Norbert: „Ich bin Norbert Lederer. Der Markgraf hat mich zu sich befohlen.“

Die Torwachen musterten ihn mit zusammengekniffenen Augen.

„So? Also gut. Aber nur du allein. Sie dort bleibt draußen!“

„Wir gehen gemeinsam hinein zum Markgrafen,“ sagte Aila.

Sie sagte es vollkommen ruhig, wie selbstverständlich. Die Hände der Torwachen begannen zu zittern.

Schwer atmend presste der Wortführer der beiden hervor: „Na gut, wie ihr wollt. Aber ohne Waffen. Die Waffen lasst ihr hier!“

An der Tür zur Wachstube beobachtete die Wachmannschaft mit unruhigen Mienen das Geschehen. Sie hielten ihre Piken, als wäre es ihnen peinlich, ihre Waffen zu zeigen.

„Wir gehen bewaffnet hinein, so wie wir sind,“ sagte Aila.

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie dem Wortführer in die Augen.

„Wir kommen in Frieden!“

Ein kaltes Lächeln stand in ihrem Gesicht.

„Das geht nicht!“ murmelte jemand bei der Wachstube.

Die beiden Torwachen sanken unter Ailas Blicken in sich zusammen. Sie senkten zögernd die Piken und schwankten zur Seite.

„Na gut,“ raspelte der Wortführer der beiden heiser.

Mehr brachte er nicht heraus. Keiner seiner Kameraden kommentierte die Entscheidung. Aila und Norbert betraten den Burghof.

Der Geruch des Todes im Burghof drehte Norbert den Magen um. Obwohl er mit jener an den Nerven reißenden Spannung gerechnet hatte, die Menschen beim Anblick von Schwerverwundeten, blutig Geschlagenen, Folterkrüppeln und Sterbenden überfällt, hatte er einen Moment lang das Gefühl, ihm würde der Boden unter den Füssen weggezogen und er musste stehen bleiben, um nicht zu taumeln.

Auf der Richtstätte, die als erhöhte Bretterbühne die linke Seite des Burghofs zwischen dem Tor und dem Rundturm einnahm, zogen Kriegsknechte einen Verurteilten am Strick um den Hals in die Höhe. Dem Gehängten quoll die Zunge aus dem Mund. Er schwankte mit heftig zuckenden Beinen am Strick. Mindestens ein Dutzend Gehängte hingen an auf der Richtstätte errichteten Galgen. Entsetzt sah Norbert, dass auch in Lumpen gekleidete Kinder darunter waren. Scharen von Krähen hockten oben auf den Galgenbalken und warteten darauf, dass die Kriegsknechte von der Richtstätte stiegen, um sich auf die Kadaver der Gehängten zu stürzen. Vor der Richtstätte stand eine Bürgerin mit zwei kleinen Kindern. Sie verbargen ihre Gesichter in ihrem Rock.

„Recht geschieht dir das,“ kreischte sie zum Galgen hinauf. „Da hast du den Lohn für deine Plünderei!“

Aus dem vergitterten Kellerfenster des Rundturms hallten die schrillen Angst- und Schmerzensschreie einer Gefolterten über den Hof.

Mit steinerner Miene wartete Aila, bis Norbert sich gefangen hatte. Seite an Seite gingen sie über den Burghof.

„Die gerechte Herrschaft der Könige und Fürsten! Hier zeigt sie ihre wahre Fratze!“ sagte Aila, ohne darauf zu achten, ob jemand im Burghof ihre Worte mitbekam. „Sie behaupten, sie würden von Gnaden der Götter herrschen. Eine größere Lüge haben Menschen nie erfunden!“

Knechte, Mägde und Handwerker, die vor den Werkstätten und Ställen zusammenstanden, beäugten die beiden mit verhaltenem Unbehagen.

An der Pforte zur Markgrafenhalle mussten sie warten, während die Wache sie meldete. Kurz darauf wurden sie eingelassen. Drinnen wurden sie von einem halben Dutzend Wachen umringt. Die Wachen geleiteten Norbert und Aila an einen Platz an der Schmalseite der Halle nahe der niedrigen, eisenbeschlagenen Tür, von der Norbert wusste, dass sie zum Kerker hinabführte. Gedämpfte Schmerzensschreie drangen durch die Tür.

Norbert hatte die Markgrafenhalle zuvor nur ein einziges Mal betreten. Während der Gerichtsverhandlung über die Erbschleicherin waren die Schmalseiten und die Außenseite der Halle mit den hoch gelegenen Fenstern gedrängt voll gewesen mit Schaulustigen. Jetzt war die von einer Reihe hölzerner Pfeiler getragene Halle menschenleer. In der Hallenmitte stand ein Mönchsbruder mit geneigtem Kopf vor der langen Holztribüne, die sich an der Innenseite der Halle entlangzog. Wie beim vorigen Mal standen mit glühenden Kohlen gefüllte Becken vor der Tribüne. Sie spendeten kaum Wärme in der großen Halle.

Markgraf Lothar saß umgeben von Leibwachen auf einem ausladenden Lehnstuhl, dessen hohe Lehne über dem Kopf des Markgrafen das Wappen der Wulfinger zeigte: Eber und Schwert auf grünem und goldenem Grund. An der Seite des Markgrafen stand ein Mönch, ein beleibter kleiner Mann mit bis auf einen schmalen Haarkranz kahlgeschorenem Schädel. Er trug eine Kapuzenkutte aus grobem, braunem Stoff, nicht die weit geschnittene, weiße Kutte der Armen Brüder. Der Markgraf selbst saß breitbeinig zurückgelehnt, mit auf die Faust gestütztem Kopf da und betrachtete mit gelangweilter Miene den Klosterbruder, der vor ihm stand. Sein pelzbesetzter Umhang hing achtlos hingebreitet über die Armlehnen herab.

Der Mönch vor der Tribüne war offenbar gerade dabei, die Rede, die er vor dem Markgrafen gehalten hatte, zusammenzufassen: „...und so zweifle ich nicht daran, Eure Durchlaucht, dass Ihr aufgrund des aufopferungsvollen Einsatzes der Armen Brüder, der Opferung der großen Mengen kostbaren Weihrauchs und der hohen Auslagen des Klosters zur Linderung der Not in der Stadt Euch der demütigen Bitte des Abtes nicht verschließen werdet und dem Kloster die gegen alle Opfer der Armen Brüder zwar geringe, jedoch wohlfeile Summe von neunhundert Goldtalern an das Kloster auszahlen werdet.“

Der Markgraf antwortete nicht sofort. Mit auf die Faust gestütztem Kinn betrachtete er den sauber gekleideten Ordensbruder, der mit gesenktem Kopf und demütig gefalteten Händen vor der Tribüne stand.

Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme gelangweilt: „Jeder in der Stadt hat Opfer gebracht. Alle haben sich bei dem Brand bis zum Äußersten aufgeopfert. Viele tun es noch immer. In Zeiten der Not Opfer zu bringen und für das Wohl der Stadt zu beten, ist die Pflicht der Armen Brüder zu Altenweil. Sollte das Kloster durch die erbrachten Opfer wirklich arm werden, dann würden die Armen Brüder ihrem Namen vielleicht einmal wieder Ehre machen.“

Der Ordensmann beugte den Kopf vor dem Markgrafen noch tiefer.

Der Markgraf wedelte mit der Hand: „Du kannst jetzt gehen. Grüße den Abt von mir.“

Der Mönch murmelte etwas, richtete sich hoch auf und verließ mit zornrotem Gesicht die Halle.

Norbert spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Nervös blickte er sich nach den Wachen um. Die großen Männer umstanden Aila und ihn in respektvollem Abstand, aber sie hatten ihre Piken mit den langen Klingenspitzen kampfbereit. Und Norbert zweifelte keineswegs, dass sie mit ihren Waffen umgehen konnten. Andererseits waren Aila und er zu zweit. Im Notfall würden sie sich schon raushauen. Der Mönch neben dem Markgrafen blickte von der Tribüne in ihre Richtung.

„Norbert Lederer!“

Aila nickte ihm zu: „Geh vor zum Markgrafen. Ich bin da!“

Während Norbert zur Hallenmitte ging, versuchte er, trotz seiner Aufregung genauso zu gehen, wie sein ehemaliger Meister es bei Auftritten vor hohen Persönlichkeiten getan hatte: Langsam, gerade aufgerichtet, die linke auf den Schwertknauf gelegt, ging er die Tribüne entlang. Vor dem Markgrafen kniete er sich auf ein Knie herab und senkte den Kopf, ohne die Wachen um den Markgrafen herum aus den Augen zu lassen. Er hatte den Titel vergessen, mit dem Dreyfuß den Markgrafen angeredet hatte, obwohl auch der Klostermönch ihn eben noch verwendet hatte. Sein Herz raste.

Da ihm nichts anderes einfiel, sagte er einfach: „Herr?“

Die wässerigen Augen in dem blassen Gesicht mit den gedunsenen Wangen und den großen Lippen betrachteten Norbert nur kurz, bevor der Markgraf ihm winkte, aufzustehen.

„Gut, gut, steh auf, Norbert Lederer.“

Norbert stand auf und blieb, wie Dreyfuß es seinerzeit getan hatte, mit leicht gesenktem Kopf und der Linken auf dem Schwertknauf stehen. Im Augenwinkel beobachtete er die Leibwachen. Die Männer um den Markgrafen standen müde und unachtsam da, wie Wachen, die schon lange gestanden hatten. An der Hallenseite stand Aila umgeben von den Kriegsknechten. Ihre Körperhaltung war entspannt, sie ließ die Arme locker hängen, als nähme sie die kampfbereiten Männer um sie her gar nicht wahr.

 

„Man hat mir gesagt, du bist der Sohn eines Siedlers?“ fragte der Markgraf mit uninteressierter Stimme.

Wie schon beim letzten Mal konnte Norbert seinen Abscheu vor der betont gelangweilten Miene des Markgrafen nur schwer verbergen.

„Ja, mein Vater Hans Lederer war Siedler in Wildenbruch im Gornwald. Aber die Siedlung ist letzten Sommer der Hungersnot zum Opfer gefallen. Sie sind alle tot.“

Wahrscheinlich interessierte es den Markgrafen überhaupt nicht. Warum musste diese Ausfragerei sein? Sollte der Markgraf doch einfach sein Urteil sprechen! Insgeheim schätzte Norbert ab, wie viel Zeit er hatte, bevor die Wachen an ihn heran sein würden. Der Markgraf seufzte, zurückgesunken in seinen Lehnstuhl.

„Der alte Gornwald widersetzt sich jeder Besiedlung durch Menschen. Kein Siedlungsversuch dort ist bislang geglückt,“ meinte er zu dem Mönch an seiner Seite, der schweigend nickte.

Dann wandte er sich wieder an Norbert: „Du bist der Schüler des im Stadtbrand umgekommenen Gelehrten Anton Dreyfuß?“

Jetzt kam es! Norberts Haltung straffte sich.

„Ja, Herr,“ murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Der Markgraf betrachtete ihn lange. Seine mit Edelsteinen beringten Finger trommelten leise auf der Stuhllehne. Norbert schaute kurz zu Aila. Sie stand ruhig und locker da. Aber er sah ihren aufmerksamen Blick.

„Meine Kriegsknechte,“ erklärte der Markgraf, „und viele Augenzeugen berichten, du seist vorgestern Abend, als die Brände noch wüteten, allein und aus freien Stücken in die Brandzone hineingegangen und hättest das dämonische Feuer mit deiner Magie bezwungen - gebannt, ausgelöscht, wie auch immer.“

„Ja, Herr,“ stotterte Norbert verwirrt. „Es wurde von einer ziemlich mächtigen Banshee, einer Untoten, entfacht. Ich musste sie bannen. Anders hätte dieses Feuer nicht gelöscht werden können.“

Der Markgraf schwieg, als warte er darauf, dass Norbert noch etwas anfügte. Aber Norbert fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Schließlich nickte der Markgraf. Seine Finger hörten auf, auf der Stuhllehne zu trommeln.

„Du hast die Stadt gerettet. Ohne dich läge ganz Altenweil in Schutt und Asche.“

Verblüfft starrte Norbert den Markgrafen an.

„Was wünschst du als Belohnung für die Rettung der Stadt, Norbert Lederer?“

Norbert war fassungslos. Was wurde von ihm erwartet? War es ein Trick?

Der Mönch an der Seite des Markgrafen nickte Norbert freundlich zu: „Nenne dem Markgrafen deinen Wunsch ohne Scheu, Norbert. Du hast dich sehr verdient gemacht um die Markgrafenstadt. Wir alle stehen in deiner Schuld.“

Norbert blickte rasch zu Aila hinüber. Auch sie nickte. Also war es ernst gemeint? Verzweifelt suchte Norbert in seinem Kopf nach der richtigen Antwort auf die Frage des Markgrafen. Um Jagdwaffen konnte er den Landesherrn schlecht bitten!

Und mit einem Mal durchfuhr es ihn: „Herr, ich brauche zwanzig Goldtaler, um bei dem Burgschmied hier auf der Burg in die Lehre zu gehen. Er kann mit magischen Waffen umgehen. Ich... ich muss das auch lernen!“

Einige der Leibwachen starrten ihn an, andere schüttelten verständnislos die Köpfe. Hatte er doch das Falsche gesagt? Der Markgraf betrachtete ihn ernst, beinahe freundlich.

„Zwanzig Goldtaler wünschst du dir? Da kommen Klosterleute, die haben nichts ausgerichtet, als Weihrauch zu verbrennen und zu beten, von einer Suppenküche vielleicht einmal abgesehen, und verlangen fast das Fünfzigfache! Eigennutz kann man dir nicht vorwerfen, Norbert, Sohn des Siedlers Hans Lederer.“

Der Markgraf wechselte einen Blick mit dem Mönch, dann erklärte er: „Es sollen dir vierzig Goldtaler ausgezahlt werden und wenn du weiteres Geld brauchst, kannst du ein zweites und auch ein drittes Mal herkommen, um noch einmal dieselbe Summe ausgezahlt zu bekommen. Aber in die Lehre bei meinem Burgschmied zu gehen, erlaube ich dir nicht. Ich weiß, dass du in der Abenteurerschänke Zum schwarzen Raben verkehrst. Keinem Freischärler und niemandem, der mit Freischärlern verkehrt, erlaube ich, sich längere Zeit auf der Burg aufzuhalten.“

Norbert stand wie vom Donner gerührt. Seine neu angefachten Hoffnungen stürzten in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Was sollte er mit einer Menge von Gold, wenn er es nicht für das verwenden durfte, was ihm wichtig war? Wäre Melanie da gewesen... Aber sie war nicht mehr da.

Der Markgraf winkte Norbert mit der Hand, zum Zeichen, dass die Audienz beendet war: „Lass dir von Bruder Anselm die Summe auszahlen.“

Eine der Leibwachen fragte er gelangweilt: „Wer ist der nächste?“

Der Mönch nickte Norbert zu und wies ihn ans Ende der Halle zu den Stufen auf die Tribüne. Norbert hörte den Wortwechsel des Markgrafen mit seiner Leibwache, während er an der Tribüne entlang zum Aufgang ging.

„Die von der Ratsversammlung gesandten Ratsherren, Durchlaucht.“

„Heiliger Bimbam, ausgerechnet! Auch die noch!“

Norbert blickte Aila, die am Ende der Halle von den Kriegsknechten umgeben dastand, hilflos an. Sie schaute freundlich zurück. Ihre Haltung war vollkommen entspannt.

„Alles in Ordnung. Geh nur. Ich bin hier.“

Die Jammerlaute der Gefolterten hinter der Kerkertür hatten sich zu einem Kreischen in äußerster Pein gesteigert. Dazwischen schrie sie keuchend und schluchzend um Gnade. Norbert krampfte sich die Brust zusammen, während er auf die Tribüne stieg und dem Mönch durch eine Tür in den hinter der Halle gelegenen Gang folgte.

An der Tür holte er Luft und sprach den Mönch an: „Findest du das richtig, dass die Frau da im Kerker geschunden wird, bis sie stirbt oder zeitlebens ein Krüppel ist?“

Der kleine beleibte Mann seufzte. Sie gingen einen Gang hinunter an mehreren Türen vorbei.

„Diese Witwe war Mutter von acht Kindern. Sie alle seien in der Not im letzten Winter am Hunger gestorben, hieß es,“ erklärte der Mönch.

Er ging Norbert voran eine knarrende Holztreppe hinauf.

„Vor zwei Wochen fand man in ihrem Haus in einem Krug mit Pökelfleisch Knöchelchen: Menschenknochen, Fingerknochen von Kindern. Zweifellos hat sie ihre eigenen Kinder geschlachtet und eingepökelt, um den Hungerwinter selber zu überleben.“

So grauenhaft es sich anhörte, Norbert ließ die Begründung des Mönchs für die Folter nicht gelten.

„Vielleicht hat sie es gar nicht aus Bosheit getan. Vielleicht ist sie von einem Wahn befallen, für den sie nichts kann, von einem Dämon besessen!“

„Eben das herauszufinden, ist die Aufgabe der Kerkerknechte,“ erläuterte der Mönch seufzend.

Durch einen Raum mit getäfelter Decke und Sitzbänken längs der Wände gingen sie zu einer kleinen, eisenbeschlagenen Tür, die der Mönch mit einem Schlüssel aufschloss. Der schmucklose Raum dahinter wurde spärlich von trübem Tageslicht erhellt, das durch ein vergittertes Fenster hereinfiel. Es gab ein Bücherbord, ein Schreibpult und einen Tisch. In die Wand war eine eiserne Lukentür eingelassen.

„Hier befindet sich das Allerheiligste des Markgrafentums,“ erläuterte der Mönch dem verbissen schweigenden Norbert. „Der Geldtresor! Geld bedeutet Macht – und Herrschaftsgewalt. Es bedeutet noch mehr Macht, als Wissen. Und unendlich viel mehr, als Frömmigkeit und Rechtschaffenheit!“

Mit einem weiteren Schlüssel schloss er die Eisenluke auf.

Während er Goldtaler auf den Tisch zählte, redete er nebenbei zu Norbert: „Du gehst im Schwarzen Raben ein und aus. Dort hörst du so manches, was sich sonst in der Stadt nicht herumspricht. Es laufen Gerüchte um, der Stadtherr von Warnenbüttel plane einen Anschlag auf unseren Landesherrn Markgraf Lothar, weil unser Herr gemeinsam mit anderen Adligen ein Gesuch an den Kaiser gerichtet hat, die grausame Unsitte der Hexenverfolgungen zu verbieten, da sie auf nichts als dunklem Aberglauben gründet und unzählige Frauen dadurch unschuldig verbrannt werden. Wenn du hören solltest, dass sich Meuchelmörder in der Stadt befinden, lass es mich wissen, Junge. Es wird dir nicht zum Schaden gereichen.“

„Im Schwarzen Raben kehren keine Meuchelmörder ein,“ erwiderte Norbert.

Der Mönch schob ihm den Haufen Goldtaler hin.

„Hier, ich gebe dir einen Beutel für das Gold. Binde ihn dir an den Gürtel.“

Norbert zählte die Goldstücke nach. Er blickte den Mönch mit zusammengekniffenen Augen an.

„Es sind nur neununddreißig!“

Die unschuldige Überraschung im Gesicht des Mönchs sah beinahe echt aus.

„Tatsächlich? Sollte ich mich verzählt haben? Zähl noch einmal nach, Junge.“

Norbert zählte es ihm vor.

Der Mönch schüttelte den Kopf: „Na so was! Selbstverständlich bekommst du den fehlenden Taler! So etwas ist mir in all den Jahren, die ich Schatzmeister beim Markgrafen bin, noch nicht passiert!“

***

In der Halle stritten zwei Bürger in Pelzmänteln und mit opulenten, ausladenden Kopfbedeckungen lauthals mit dem Markgrafen. Die Schreie hinter der Kerkertür waren verstummt. Aila empfing Norbert mit dem Anflug eines Lächelns. Gemeinsam gingen sie zum Ausgang. Die Haltung der Wachen um Aila her entspannte sich.

Von der Tribüne her donnerte die Stimme des Markgrafen: „Ich habe den Gilden die Erlaubnis gegeben, in meiner Stadt Gewerbe zu treiben! Jahrhunderte lang habt ihr euch an Marktgängern und an den Armen der Stadt bereichert. Für Naturkatastrophen kann ich nichts. Baut eure Zunftgassen selber wieder auf!“

„Es ist die Pflicht des Landesherrn, die Stadt zu beschützen und erhalten!“ schrien die Ratsherren zurück. „Wozu zahlen wir Steuern? Wir senden ein Beschwerdeschreiben an den Kaiser, wenn Ihr Eurer Pflicht nicht nachkommt!“

Im Burghof hängten Kriegsknechte den blutig Geschlagenen aus dem Gitterkarren an einen der Galgen auf der Richtstätte. Scharen von Krähen umflatterten den Galgen. Norbert beeilte sich, über den Burghof zu kommen, durchs Tor hinaus und den Karrenweg hinab, weg von dieser Burg, die ihm Abscheu einflößte. Bittere Wut gegen den Markgrafen tobte in seinem Innern. Verbissen marschierte er den Pflastersteig hinunter. Aila nahm er an seiner Seite kaum wahr.

Erst auf halbem Weg den Burgfelsen hinab ließ die brennende Wut nach. Norbert verlangsamte seinen Schritt und atmete durch. Nach und nach klärten sich seine wirren Gedanken. Er hatte wieder nichts erreicht! Er hätte den wahnsinnigen Versuch der Geisteraustreibung im Haus der Hohenwarts gar nicht erst angehen müssen. Der Markgraf hätte ihm das Gold auch gestern schon gegeben. Und doch nützte es ihm nichts! Er hatte einen Haufen Geld, aber seine Träume und seine Zukunftspläne schienen unerfüllbar.

Aila berührte ihn leicht an der Schulter. Überrascht stellte er fest, dass sie noch neben ihm herging. Er hatte sie vollkommen vergessen. Sie deutete stumm auf eine von einer gemauerten Brüstung umgebene Felszacke an der Außenseite des Pflastersteigs, die vielleicht einmal zur Verteidigung des Aufgangs zur Burg eingeebnet worden war.

Aila und Norbert traten auf die Felszacke. Aila setzte sich auf die Brüstung und schaute über die Dächer der Stadt und die schwarzen Schornsteinruinen in der Brandzone hinaus auf das unter grauen Regenschleiern liegende Land. Zwei, drei Tagesreisen entfernt ragten in der Ferne die vagen Umrisse der Bergschemen des Laendorgebirges auf. Südlich davon lag verborgen hinter nebelverhangenen Hügelkuppen der Gornwald: Norberts ehemalige Heimat.

„Der Gornwald,“ meinte Aila, wie in Erwiderung auf Norberts Gedanken. „In lange vergangenen Zeiten war er die Heimat des Elbenvolks. Wie alle Wälder bis weit in den Norden hinein.“

Norbert schaute sie an.

„Dein Volk, nicht wahr?“

Sie schwieg.

Unvermittelt wechselte sie das Thema: „Warum willst du beim Burgschmied in die Lehre gehen?“

Norbert atmete heftig aus.

„Es geht ja doch nicht!“

Ruhig sah sie ihm in die Augen.

„Weißt du,“ versuchte Norbert, seine Gedanken zu sammeln, „mein Heimatdorf im Gornwald – es wurde von einem sehr üblen Schwarzalb ausgerottet, einem Behemoth. Das ist...“

Als er Ailas Blick sah, brach er ab.

„Aber natürlich weißt du, was ein Behemoth ist,“ brummte er genervt.

Sie nickte nüchtern.

Stockend erklärte er weiter: „Man kann sie nur mit diesen heiligen Schwertern, heftig magischen Waffen vernichten. Und der Burgschmied weiß, wie man damit umgeht. Er wollte es mir beibringen, für zwanzig Goldtaler Lehrgeld!“

Aila antwortete nichts darauf. Sie sah ihn ernst und lange an.

 

Schließlich fragte sie, erneut das Thema wechselnd: „Wer ist Lonnie?“

Es fühlte sich nicht an, als wollte sie ihn ausfragen. Eher hatte Norbert den Eindruck, dass sie versuchte, ihn zu verstehen. Und insgeheim war er froh über ihr Interesse. Er suchte nach den richtigen Worten, um ihr zu erklären, worüber er bisher nur selten in knappen Andeutungen gesprochen hatte.

„Sie... sie ist eine Untote. Dreyfuß meinte, sie sei eine Banshee. Ich glaube, es stimmt auch. Manchmal erscheint sie mir als Wölfin, manchmal als das Mädchen, das sich vor zwanzig Jahren in Köhlershofen im Brunnen ertränkt hat. Vorher, hat sie mir erzählt, hat sie sich bei den Wölfen im Gornwald versteckt. Sie war bei Darulan gefangen gewesen. Wie ich auch. Er hat sie unter Zwang in die schwarze Magie initiiert. Dadurch hat sie gelernt, sich in eine Wölfin zu verwandeln. So was können Schwarzmagier. Er selber kann sich in einen Flughund verwandeln. Als Wölfin konnte sie ihm entkommen. Als er sie später wiederfand und zurückholen wollte, hat sie sich in den Brunnen gestürzt.“

Aila ließ Norberts Bericht auf sich wirken.

Dann fragte sie: „Sie spricht mit dir? Und du mit ihr? Über die Grenze hinweg?“

„Ja.“

„Du weißt, dass du in Lebensgefahr schwebst?“

„Ja.“

Sie sagte lange nichts.

„Es ist nicht so, wie alle glauben,“ erklärte Norbert, wütend darüber, dass alle das Wolfsmädchen so falsch einschätzten. „Sie will mich nicht hinabziehen. Na ja, doch... eigentlich schon, aber in Wirklichkeit will sie zurück ins Leben! Ich hole sie aus der Anderwelt zurück! Dafür bin ich doch bei Darulan gewesen und hab den Ritualgesang gelernt! Ich muss nur ihren Quellort finden.“

Auf Ailas alarmierten Blick ergänzte er schnell: „Ich war schon öfters drüben! Mit Dreyfuß und auch allein. Ich weiß, dass es gefährlich ist. Einmal hätte ich nicht zurückgefunden, wäre drüben umgekommen, wenn Lonnie mir nicht zurückgeholfen hätte! Ich hab das gelernt – über die Grenze gehen und zurückkommen. Aber es geht nur an heimgesuchten Orten. Wie im Gornwald.“

Aila saß hoch aufgerichtet auf der Brüstung, die Hände auf die Brüstung gestützt. Sogar sitzend war sie einen halben Kopf größer als Norbert. Ihr schlanker Körper war voller Spannkraft. Ihr langes Haar flog ihr im Wind ums Gesicht. Der strahlende und zugleich drohende Blick ihrer Augen hatte etwas Ehrfurchtgebietendes. Verwirrt hielt Norbert den Atem an. So mussten Königinnen blicken, ging es ihm durch den Kopf. Vorsichtshalber ging er einen halben Schritt zurück.

Ihre Stimme klang, als verstärkte der Wind sie noch: „Ist dir klar, was du dir da vorgenommen hast?“

Norbert senkte den Kopf. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten.

„Ich glaub schon,“ murmelte er.

Dann riss er sich zusammen und schaute sie an.

„Ja. Ich glaube, es ist mein Weg.“

Die seltsame, ehrfurchtgebietende Ausstrahlung, die von Aila ausgegangen war, verschwand. Der plötzlich aufgekommene Wind legte sich. Die elbenhaft schlanke, hochgewachsene Frau in enger Lederkleidung, die ihre Jagdwaffen über der Schulter trug, saß mit der unverstellten Selbstverständlichkeit vor Norbert, die er inzwischen von ihr gewohnt war.

Sie ist in der Tat eine Magierin! dachte er. Und eine sehr mächtige dazu!

Aila blickte über die schwarze Brandfläche hinweg, die fast den vierten Teil Altenweils ausmachte.

„Was hast du also vor?“ fragte sie in ihrer üblichen, nüchternen Art. „Was willst du als nächstes tun?“

„Weißt du,“ druckste Norbert, „mit der Lehre beim Burgschmied wird es ja doch nichts. Und mit der Ausbildung bei Dreyfuß ist es auch vorbei. Ich glaube, ich gehe in den Gornwald zurück. Dort kann ich versuchen, über die Grenze zu gehen, um nach Lonnie zu suchen. Ich hab es ihr versprochen! Aber...“ er zögerte.

Aila schaute ihn offen an.

„Ich brauche Jagdwaffen, verstehst du? Dann kann ich von der Jagd leben. In den Weilern nahe beim Gornwald kaufen sie Wildbret von den Wilderern. Weißt du vielleicht, wo ich einen Jagdbogen und Pfeile herbekommen kann? Kannst du mir helfen, einen zu bekommen?“

Aila blickte auf den Goldbeutel an Norberts Gürtel und ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.

„Du machst dir Gedanken, wovon du leben sollst?“ lächelte sie.

Dann stand sie auf.

„Gehen wir hinunter in die Stadt. Zuerst mal kannst du dir ein paar Sachen kaufen gehen. Der Markt wird heute Mittag wieder geöffnet. Was du hattest, ist ja alles im Feuer verbrannt. Dann sehen wir weiter. Um Jagdwaffen kann ich mich kümmern, wenn es soweit ist. Mach dir darüber keine Gedanken. Wir sehen uns heute Abend bei Gordon, ja?“

„Ja, sicher,“ meinte Norbert. „Ich wohne ja dort. Wo sollte ich sonst hin?“

Sie lächelte.

„Ich würde auch nirgendwo sonst einkehren in dieser Markgrafenstadt. Egal, wie viel Gold ich hätte.“

Statt einer Verabschiedung nickte sie Norbert mit einem freundlichen Blick kurz zu. Mit federnden Schritten ging sie den Pflastersteig hinab davon. Beinahe sah es aus, als schwebten ihre Füße in den schlanken Stiefeln eine Handbreit über dem Boden.

Norbert schaute hinab auf das rußgeschwärzte Trümmerfeld, in dessen Mitte die zerbrochenen Reste von Dreyfuß' Turm aufragten. Der Anblick erschien ihm wie ein Spiegelbild seines zerbrochenen, unter den Trümmern seiner Träume verschütteten Herzens.