Schatten der Anderwelt

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Jemand keuchte bei der Tür in Norberts Rücken.

„Heilige Jungfrau!“ flüsterte eine Stimme.

Norbert brüllte: „Zurück! Weg von der Tür!“ ohne den Blick von dem Untoten zu wenden.

Er hatte keine Zeit, sich um den oder die Wahnsinnige zu kümmern, die so irre war, mitten in einen Kampf mit einem Anderweltwesen hineinzuplatzen. Er konzentrierte sich auf den Ritualgesang. Unvermittelt wurde er zur Seite gerempelt. Er stolperte über den Deckenleuchter, verlor die Konzentration. Der untote Straßenräuber kam zurück. Mit entstelltem, blutigem Gesicht stand er vor der Truhe, schrie gurgelnd auf.

„Bei allen Sternen! Du machst alles zunichte!“ stieß Norbert hervor, während er sich hastig aufrappelte.

Neben ihm stand der Ratsherr. Das blonde Haar hing ihm wild ins Gesicht. Der Mantel war ihm halb von der Schulter gerutscht. Er stand vornübergebeugt und schwankend. Wie gelähmt starrte er die Erscheinung an.

Der Untote krallte nach dem Hausherrn: „Hartmut!“

„Hier bin ich,“ murmelte der Ratsherr.

Noch ehe Norbert handeln konnte, stürzte der Untote sich heulend auf den Ratsherrn: „Gib mir mein Leben zurück!“

Norbert holte mit dem Schwert aus, aber sein Schlag kam zu spät. Der Untote umklammerte den Ratsherrn. Ein gleißender blauer Lichtblitz. Ohrenbetäubendes Krachen. Blaue Flammen überall.

„Rhe, voris chtha rhe!“ schrie Norbert den Abwehrzauber.

Der Körper des Ratsherrn sackte plump zu Boden, blieb leblos liegen. Die Wandteppiche standen in Flammen, blaue Feuerzungen leckten über den Boden.

„Voris rhe!“

Das Feuer erlosch. Das Zimmer sank ins Nachtdunkel. Durch das zersprengte Fenster fiel fahles Mondlicht. Der Schimmer um die Truhe war verschwunden. Norberts Schwert strahlte nicht mehr. Der Spuk war vorbei. Für immer.

Fassungslos stand Norbert vor der verbrannten Leiche des Ratsherrn. Ein gellender Schrei erscholl an der Tür. Die Hohenwarterin stand da und presste sich die Hände an den Kopf. Blanker Terror füllte ihre schreckgeweiteten Augen.

„Nein, oh nein, das ist nicht wahr! Oh heilige Mutter! Nein!“

Jammernd warf sie sich über den Leichnam, zerrte schluchzend und schreiend am Kragen seiner Jacke, als könnte sie ihn damit wieder zum Leben erwecken.

„Hartmut! Mein geliebter Gemahl! Oh nein, bitte tu mir das nicht an!“

Norbert wischte sich Blut von den Augenbrauen. Bei jeder Gesichtsregung jagten ihm die Glassplitter Schmerzen durch die Haut. Aus seinem linken Jackenärmel tropfte Blut. Dumpfe Schmerzen wühlten in seiner Schulter. In der Tür erschienen die Umrisse des Dieners und der Köchin. Der Verwalter, die Magd, das Mädchen, der Hausknecht drängten sich hinter ihnen in den Raum. Alle starrten stumm auf die Hohenwarterin und die Leiche des Hausherrn. Niemand beachtete Norbert.

Zögernd ging Norbert um den eisernen Deckenleuchter herum zur Tür. Die Dienstleute machten ihm Platz. Niemand schaute ihn an. Langsam ging er den Gang hinunter, das Wehklagen der Hohenwarterin hinter sich lassend, vorbei an dem ausgestopften, grinsenden Bären durch die Flügeltür und hinab in die Halle. Er ging an dem Altarbild des Mädchens mit den verdrehten Augen und dem Hirschkitz im Schoß vorüber und über die Küche in den Hof. Die Gassenhunde, die im nachtdunklen Hof nach Fressbarem schnüffelten, nahmen vor ihm Reißaus. Erst auf dem im fahlen Mondlicht liegenden Platz merkte er, dass er das Schwert noch immer in der Faust hielt. Er steckte es in die Scheide und machte sich auf den Weg ins Armenviertel, schwankend vor Erschöpfung.

3.

„Halt still!“

„Oh verdammt, du reißt mir die ganze Haut auf!“

„Unsinn, ich muss dir die Glassplitter herausziehen. Lehne dich zurück in den Stuhl! Und halt still!“

Norbert saß in dem mit Decken ausgelegten Lehnstuhl an der Feuerstelle des Schankraums im Gasthof zum schwarzen Raben und zuckte bei jedem einzelnen Splitter zusammen, den die Harfenspielerin ihm aus der Gesichtshaut zog. Ihr konzentriertes Gesicht war nahe seinem und er konnte den frischen Duft ihrer blonden Haare riechen. Sie trug die Haare offen und warf sie jedes Mal mit einer Handbewegung über die Schultern zurück, wenn ihr Haar auf Norberts dreckstarrende Wolljacke herunterfiel. Seine Lederjacke hing über einer Stuhllehne. Noch immer tropfte Blut aus dem zerrissenen Ärmel, wenn Norberts Schulterwunde auch durch einem Heilzauber der Bardin bereits verheilt war. Und wie am Abend zuvor hatte ein Schluck von dem magischen Elixier der Bardin Norbert von seiner abgrundtiefen Erschöpfung befreit.

Jetzt fuhr sie mit den Fingern dicht über seine Gesichtshaut und zog Splitter für Splitter mit einer magischen Formel heraus.

Norbert fuhr auf: „Aua, verdammt nochmal!“

Nüchtern, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten, meinte sie: „Du lässt dich alleine, auf eigene Faust, auf einen Kampf auf Leben und Tod mit einem Poltergeist ein und jetzt schreist du bei jedem Splitterchen, als würdest du massakriert! Warum hast du nicht gesagt, was du vorhast?“

Norbert hatte Schweißperlen auf der Stirn.

„Was hätte das schon geändert? Lonnie hat mir geholfen. Au, sei doch vorsichtig!“

Am Tisch bei der Feuerstelle saßen Gordon und der weißhaarige Magier und beobachteten, wie Norbert verarztet wurde. Weiter hinten im Schankraum wischte Sarah Tische ab und stellte Stühle hoch. Norbert hatte geglaubt, zu dieser Nachtstunde würde niemand im Gasthof mehr auf sein, aber es schien, die drei und Sarah hatten auf ihn gewartet.

Die Harfenspielerin zog den letzten Splitter aus Norberts Gesicht, bewegte ihn an ihrer Fingerspitze hängend über den Tisch und ließ ihn auf den Haufen Glassplitter fallen, der sich dort angesammelt hatte. Sie fuhr Norbert mit der Hand übers Gesicht, wie sie es zuvor schon mit seinen Händen gemacht hatte und murmelte eine Zauberformel. Norberts Gesichtshaut juckte. Er betastete sein Gesicht vorsichtig mit den Händen. Alles schien heil. Er hatte geglaubt, die blonde Magierin hätte ihm die gesamte Haut vom Gesicht geschält.

Seufzend stand er auf und ging zu Gordon und dem Alten an den Tisch. Gordon schob ihm einen Humpen Bier hin. Norbert trank gierig. Er atmete tief durch, als er den Humpen absetzte. Aus irgendeinem Grund meinte er, sich rechtfertigen zu müssen.

„Es hätte ja, verdammt nochmal, geklappt. Ich hatte den Untoten ja schon unter Kontrolle, mit Hilfe von Lonnie. Ich war dabei, ihn, wie sagt man das, auszutreiben, oder so, und es wäre auch gelungen, wenn dieser Hartmut Hohenwart sich nicht dazwischengedrängt hätte. Die waren alle völlig kirre in dem Haus, völlig durchgeknallt.“

Der Alte lehnte sich vor.

„Es ist dir doch gelungen, Junge! Dass dieser Ratsherr seine Schuld nicht mehr ertragen hat, da hast du nichts mit zu tun. Eigentlich hätten sie dich bezahlen müssen.“

Norbert zuckte verbittert die Achseln.

„Was nützt das jetzt schon? Es kommt so oder so aufs Gleiche hinaus. Irgendwie scheint alles umsonst zu sein, was ich mache!“

Der alte Zauberer schüttelte den Kopf.

„Nein, Junge, du hast eben Pech gehabt. Nächstes Mal kann es wieder anders sein. Wir alle haben irgendwann schon mal 'ne Pechsträhne gehabt. Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt. Was glaubst du, wie viel mir in meinem Leben schief gegangen ist, wie vieles einfach völlig daneben ging? Und lohnt es sich da nicht erst recht, zu leben? Immer wieder was Neues anzufangen? So ist das Leben! Sogar unser Wirt hier hat ein Auge verloren, um...“

„Davon muss hier jetzt nicht geredet werden,“ unterbrach Gordon ihn barsch.

Der Alte hielt mitten im Satz inne.

Leise meinte er: „Wie du meinst. Ich dachte nur, der Junge...“

„Das ergibt sich schon!“ knurrte Gordon.

Norbert wusste nicht, wovon die Rede war.

Sarah kam an den Tisch und setzte sich neben Norbert. Mit einer schnellen Kopfbewegung warf sie ihren Pferdeschwanz über die Schulter zurück. Sie betrachtete Norberts dreckige Wolljacke und rümpfte ganz leicht die Nase.

Eine blöde Bemerkung von dir kann ich jetzt gerade gebrauchen! dachte Norbert wütend.

Aber sie sagte: „Mark war hier, bis vor zwei Stunden. Er hat auf dich gewartet.“

„Aha? Ja, schade, dass ich ihn nicht mehr getroffen hab.“

Norbert war nicht in der Stimmung, über irgendwas zu plaudern.

„Er hat berichtet, der Markgraf verlangt, dass du auf die Burg kommst. Spätestens morgen. Der Markgraf will mit dir sprechen.“

Stern meiner Geburt! Der Markgraf!

Norbert war erst zweimal oben auf der Burg gewesen. Beim ersten Mal, als er auf eigene Faust den Burgschmied aufsuchte, war ihm vom Anblick der Geschundenen im Burghof, des in einem Käfig aufgehängten zum Tode Verurteilten, der bei lebendigem Leib von Krähen gefressen wurde, dermaßen übel geworden, dass er sich nach seiner Rückkehr zum Turm erbrechen musste. Beim zweiten Mal sollten Dreyfuß und er in einem Gerichtsverfahren vor dem Markgrafen die Schuld oder Unschuld einer Angeklagten beweisen. Die Gefolterte konnte nicht mehr stehen, als die Kerkerknechte sie hereinschleppten. Sie starb noch während der Gerichtsverhandlung an den Folgen der Folter.

Und jetzt befahl der Markgraf Norbert, vor ihn zu treten! Nach der Katastrophe, den Verwüstungen und den unzähligen Toden, die sein Lehrmeister in der Stadt verursacht hatte! Erschreckt starrte Norbert auf seinen Bierhumpen.

„Aha. Danke, dass du's mir ausgerichtet hast.“

Sarah bemerkte seine Wortkargheit und stand auf. Sie machte die Andeutung eines Schnupperns und rümpfte noch einmal die Nase.

 

Im Weggehen bemerkte sie: „Ich hab in der Waschkammer eine Kerze brennen lassen. Das Waschwasser ist noch warm. Wenn du Lust hast, kannst du dich waschen, bevor du ins Bett gehst. Keine Sorge, du hast die Kammer garantiert für dich allein. Jetzt stört dich da niemand!“

Norbert kochte innerlich.

Aufspringen, das Schwert rausreißen und ihr mit einem Kriegsschrei den Pferdeschwanz abschlagen!

Gordon und die Harfenspielerin sprachen miteinander über irgendetwas. Ihren unbeteiligten Gesichtern nach zu urteilen schienen sie nicht zugehört zu haben.

Die Bardin rückte vom Tisch ab, setzte die Harfe auf ihren Schoß und spielte leise ein paar Klänge, die sich zu einer verhaltenen Melodie über dunklen, tiefen Akkorden entwickelten. Immer wieder wollten die tiefen, schweren Klänge die schüttere Melodie übertönen, doch bei jedem Aufbranden dunkler Akkorde wurde die Melodie deutlicher, stärker. Endlich mischte sich eine andere, rhythmisch voranschreitende, klare Melodie in das Spiel. Die beiden Melodien erhoben sich über die dunklen Klänge, verdrängten sie, wurden zu einem Lied voller Siegesgewissheit und Freude.

Norbert lauschte mit geschlossenen Augen. Die Musik legte sich wie eine heilende Hand auf sein verbittertes, wundes und enttäuschtes Herz, linderte den Schmerz in seiner Brust. Er ließ die bitteren Gedanken und Erinnerungen fahren, ließ sich treiben mit der Musik. Als die letzten Harfentöne verklangen, stand er auf, nickte Gordon noch einmal zu und verließ den Schankraum, um schlafen zu gehen.

***

In der Waschkammer zog Norbert seine Sachen aus, benetzte seinen Körper mit Wasser und schrubbte sich Staub, Dreck und verkrustetes Blut von der Haut. Er schüttete sich warmes Wasser über den Kopf und massierte prustend sein Gesicht, als könnte er mit dem Schmutz der vergangenen Wochen auch die bösen Erinnerungen aus seinem Kopf spülen. Und es kam ihm wirklich so vor, als könnte er das noch immer an seiner Haut klebende Entsetzen von sich abwaschen und einen Schlussstrich ziehen unter das Vergangene: die Hölle von Darulans Haus, sein Sehnen nach Melanie und dem kleinen Zimmer bei Elena, die irrsinnigen Experimente und Anderweltfahrten im Gefolge seines Lehrmeisters. Als könnte er all diese Erinnerungen ein für alle Mal von sich abschütteln und neu anfangen.

Er wusch sein Leinenhemd mit der Kernseife, die auf dem Rand des Waschbottichs lag, wrang es aus und zog es sich nass über den Leib, drückte die wollene Schlupfjacke im Wasser durch, presste das Wasser heraus und breitete sie auf der Bank zum Trocknen aus. Sie war an der Schulter arg zerfetzt, aber andere Sachen hatte er nicht. Von der Lederhose wusch er den Dreck ab, bevor er sie anzog. Die Stiefel waren ihm gleichgültig. Im Schlamm der Gassen blieben sie ohnehin nicht sauber. Seine Lederjacke hatte er im Schankraum vergessen. Er mochte nicht zurückgehen und sie holen. In Hose und Hemd ging er hinauf in sein Zimmer. Er stellte das Schwert ans Kopfende des Bettkastens – habe immer deine Waffe bereit! So sehr war er bereits vom Abenteurerdasein geprägt - und warf sich ins Bett.

Er fand keinen Schlaf. Aufgewühlt von den Schrecken der vergangenen Tage warf er sich zwischen den Laken umher. Erst jetzt, da die fiebernde Anspannung nachließ, in der er sich befunden hatte, seit er auf der Landstraße die Rauchwolken über den Mauern Altenweils erblickt hatte, brach das Entsetzen über das Geschehene in ganzer Schwere über ihn herein.

Noch vorgestern früh nach dem Morgenimbiss hatte er vor der Herberge in Köhlershofen gesessen und geglaubt, er habe alles Grauen hinter sich, hatte sich Pläne voller Hoffnung zurechtgelegt. Und nun... was war ihm geblieben?

Visionen von splitterndem Glas und lodernden Flammen standen ihm vor Augen, dazwischen Schreie Verbrannter und das Kreischen von Dämonen. Das grässliche Geräusch, mit dem der Eisenleuchter sich haarscharf neben ihm in den Boden rammte.

Elenas boshafte Greisenstimme: „Hat ihren Traumprinz gefunden, das dumme Mädchen!“

Stöhnend vor Qual wälzte Norbert sich umher. Das nasse Hemd klebte ihm am Leib. Unvermittelt kam ihm Ruths entsetztes Gesicht in den Sinn, im nächsten Augenblick von seinem Schwert in einen Blutklumpen verwandelt. Ihr gurgelnder Schrei beim Sturz in den Abgrund. Norbert fuhr zusammen. Darulan! Würde der Hexer ihn nicht verfolgen? Würde er nicht Rache nehmen für den Mord, den Norbert verübt hatte, den Diebstahl des Ritualgesangs, die Flucht aus der Gefangenschaft in seinem Haus? Er hatte auch Lonnie verfolgt. Vor zwanzig Jahren in Köhlershofen hatte sie sich im Brunnen ertränkt, um nicht von dem Hexer in die Hölle zurückgeschleppt zu werden, der sie entkommen war. Erst vor wenigen Tagen hatte sie Norbert ihr Schicksal offenbart.

Mit einem Ruck setzte Norbert sich auf. Durch das halbgeöffnete Pergamentfenster fiel bleiches Mondlicht ins Zimmer. Jeden Moment glaubte er, die Lederschwingen eines großen Flughunds vor dem Fenster auftauchen zu sehen. Mit einem Satz war er beim Fenster und schloss die Fensterflügel. Mit rasendem Puls kauerte er sich zurück aufs Bett, lehnte sich mit angewinkelten Beinen mit dem Rücken gegen die Wand. Der Hexenmeister war alles andere als dumm. Schon bei Norberts Ankunft in seinem Haus hatte Darulan ihn für einen Abenteurer gehalten. Er würde wissen, wo er nach Norbert suchen musste!

Erst nach durchwachten Stunden, die Norbert wie eine Ewigkeit vorkamen, als das Licht des untergehenden Monds rötlich wurde, verwandelte sich das Entsetzen in Norberts Kopf in dumpfe Leere. Er legte sich zusammengekauert aufs Bett, tastete nach seinem Schwert und schloss die Augen. Irgendwo im Haus erklangen Harfentöne. Norberts Angst beruhigte sich. Er fiel in traumlosen Schlaf.

***

Als er wach wurde, war der Morgen bereits angebrochen. Benommen schälte er sich aus den Laken und setzte sich auf. Es dauerte eine Weile, bis die bleierne Müdigkeit nachließ. Nach dem kurzen Schlaf zitterte sein Körper in der Morgenkälte. Er zog Rotz hoch, wischte sich die Nase mit dem Handrücken und streifte die Hand am Bettlaken ab. Dann massierte er sein Gesicht. Er schämte sich wegen der Angst in der Nacht.

Im hellen, nüchternen Morgenlicht schienen alle Schrecken weit weniger bedrohlich. Es würden sich immer Wege finden, hatte Gordon ihm einmal gesagt. Der Hexenmeister mochte mächtig sein, aber letzten Endes war er doch nur ein Mensch. Und auch Norbert beherrschte Magie! Mit wütender Entschlossenheit biss er die Zähne zusammen. Ein Feind mehr, der ihm auf den Fersen war – was machte das schon aus? Im Gornwald würde Lonnie, die Wolfsbanshee, an seiner Seite sein. Zu zweit würden sie dem Hexer gewachsen sein, sollte er es wagen, in ihre Nähe zu kommen.

Während er sich anzog, überlegte er, was er als nächstes tun sollte. Der Markgraf verlangte, dass er auf die Burg kam. Womöglich, um sich für die Katastrophe zu verantworten, die sein Meister verursacht hatte. Oder auch nur, weil der Markgraf ihn ausfragen wollte – ihn gar noch im Schindturm von seinen Folterknechten verhören lassen wollte. Besser, er ging gar nicht erst hinauf. In der Stadt konnte er sich gegen die Kriegsknechte zur Wehr setzen, sollten sie versuchen, ihn zu stellen. Oben auf der Burg war er in der Falle. Am besten, er verließ die Stadt so schnell wie möglich. Vielleicht borgte Gordon ihm Geld für einen Jagdbogen. Vermutlich wusste der Wirt des Schwarzen Raben, wo Norbert Jagdbogen und Pfeile auftreiben konnte.

Er verließ das Zimmer und ging hinunter in den Schankraum.

***

Aus der Waschkammer holte er seine wollene Schlupfjacke und streifte sie noch feucht über. In der Tür zum Schankraum schlug ihm Wärme entgegen. Ein Feuer prasselte auf der Feuerstelle. Der Schankraum war leer bis auf Gordon und die Bardin, die am Tisch bei der Feuerstelle zusammensaßen. Neben dem vierschrötigen, riesigen Wirt, dessen aufgekrempelte Kittelärmel sich über seinen Oberarmmuskeln spannten, sah die schlanke Frau in ihrer eng anliegenden, weichen Lederkleidung beinahe zierlich aus. Ihr blondes, offen über die Schultern herabfließendes Haar glänzte seidig. Sogar ihre Stiefel waren sauber, stellte Norbert mit Verwunderung fest.

Es wäre ihm lieber gewesen, der Harfenspielerin nicht begegnen zu müssen. Aber sich in eine Ecke des Gastraums zu verdrücken kam nicht in Frage. Er setzte sich zu den beiden an den Tisch. Gordon nickte ihm zu. Norbert wusste, dass der harte Blick, den der Wirt ihm aus seinem gesunden Auge zuwarf, freundschaftlich gemeint war. Gordon stemmte die Arme auf den Tisch und stand auf.

Mit einem geknurrten: „Frühstück ist fertig,“ ging er nach hinten zur Küche.

Norbert blickte stumm auf die Tischplatte. Ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte. Die blonde Abenteurerin – Bardin, Magierin oder was auch immer sie sein mochte – betrachtete ihn schweigend aus ihren hellen, seltsamen Augen, die Norbert nicht ansehen konnte, ohne irritiert zu sein. Sie war einen halben Kopf größer als Norbert, so dass er den Eindruck hatte, von oben herab von ihr angeschaut zu werden. Es war ihm peinlich, so stumm neben ihr zu sitzen, aber es wollte sich beim besten Willen kein Gedanke einstellen, den er hätte äußern können. Also schwieg er und nickte nur leicht mit dem Kopf in ihre Richtung, um nicht wie eingefroren dazusitzen.

Es war die Bardin, die endlich das Schweigen brach: „Ich komme mit auf die Burg zum Markgrafen.“

„Wie?“ Norbert blieb der Mund offen stehen.

Völlig aus der Fassung gebracht stotterte er: „Ich wollte ja gar nicht... ich hatte gar nicht vor...“

„Wir gehen zusammen hin,“ sagte sie.

Ihr Gesicht war offen und freundlich aber da war etwas in ihrem Blick, das es Norbert unmöglich machte, ihr zu widersprechen.

„Ja, danke,“ murmelte er, völlig überrumpelt von der neuen Wendung der Ereignisse.

Gordon kam herein und brachte einen Bierhumpen und einen Teller voller Rührei, gebratenem Speck, dicken Bohnen und Brot. Er stellte Teller und Bierhumpen vor Norbert hin.

„Geht aufs Haus,“ brummte er, als er Norberts verlegenen Blick sah.

Und wieder konnte Norbert nur „danke“ murmeln.

„Zu zweit werden wir oben auf der Burg keine Schwierigkeiten bekommen,“ erklärte die Bardin, während Gordon sich zu ihnen an den Tisch setzte.

Norbert war froh, sich mit den Essen beschäftigen zu können. Er aß mit den Fingern und wischte sich zwischendurch Mund und Nase mit dem Handrücken.

„Ich glaube eigentlich nicht, dass es Ärger geben wird,“ meinte die Bardin mit dieser sanften Stimme, die keinen Widerspruch duldete, „aber bei Grafen, Fürsten und Königen ist es besser, mit allem zu rechnen.“

Norbert fand endlich seine Sprache wieder. Er ließ sich doch von dieser Frau nicht einschüchtern! Egal, wie bestimmt sie sagte, was sie meinte.

Mit vollem Mund nuschelte er: „Du musst da nicht mit hinkommen. Ehrlich nicht. Ich komme schon irgendwie allein zurecht.“

Sie wechselte einen Blick mit Gordon.

Sanft antwortete sie: „Ich hatte sowieso entschieden, noch eine Weile in der Stadt zu bleiben. Da bietet es sich ja an, zusammen hinauf zu gehen.“

Sie schaute ihn an, offen, vertrauensvoll und zugleich sicher und fest.

„Du musst nicht alles alleine machen. Wir und alle, die zum freien Volk gehören, halten zueinander. Niemand von uns macht irgendwas im Alleingang, wenn es nicht absolut unumgänglich ist.“

Norbert konnte ihren Blick nicht erwidern.

„Ist schon in Ordnung,“ murmelte er. „Danke.“

Dabei hatte er völlig andere Pläne gehabt. Es wurmte ihn, dass diese Frau ihm so rätselhaft war.

Und jetzt schaute er sie doch trotzig an: „Und wie heißt du?“

Sie schwieg kurz, bevor sie antwortete: „Sag Aila zu mir. Unten im Süden nennen sie mich Diana. Aber was bedeuten schon Namen.“

„Ich kann auch Diana sagen, wenn du willst.“

„Nein,“ entschied sie mit einem Blick auf Gordon. „Der Name passt hier nicht. Ich bin Aila, in Ordnung?“

Norbert begriff nicht, warum Aila besser „hierher“ passen sollte, als Diana. Aber wenn sie es so wollte...!

Er aß seinen Teller auf und trank das Bier. Dann stand er auf.

„Ich gehe mein Schwert holen.“

Ailas Gesicht zeigte einen Anflug von Lächeln: „Bis gleich.“

Er nahm seine Lederjacke von der Stuhllehne, über die er sie am Abend zuvor gehängt hatte und stutzte überrascht.

„Die Schulter ist geflickt! Und jemand hat die Jacke sauber gemacht!“

 

Das Lächeln stand immer noch in Ailas sonst so ernstem Gesicht.

„Eine Kleinigkeit. Das hab ich gestern noch nebenbei gemacht.“

Norbert prüfte den stabil aufgenähten Lederflicken.

„Wo hattest du das Leder her? Und das Werkzeug? Bei dem festen Rindsleder war das keine Kleinigkeit! Leder nähen ist echte Viecherei. Bei so steifem Leder erst recht!“

„Ich hab nicht lange gebraucht,“ meinte sie nur.

Norbert streifte die Jacke über. Zweifelnd sah er die hochgewachsene, schlanke Magierin an. Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Mit unverstellter, sanfter Miene schaute sie zurück.

Während er zur Flurtür ging, murmelte er: „Wenn ich auch mal was für dich tun kann, sag Bescheid.“

„Alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken,“ war ihre Antwort.

***

Als er in den Schankraum zurückkam, standen Aila und Gordon an der Eingangstür im Gespräch zusammen.

„Es ist meine Aufgabe,“ sagte sie zu Gordon. „Aus diesem Grund sind wir hier, du und ich.“

Sie brachen ihr Gespräch ab und blickten Norbert entgegen. Überrascht stellte Norbert fest, dass Aila einen aufgespannten, großen Jagdbogen und einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter trug. Er trat zu den beiden.

„Wenn du willst, können wir rauf gehen zur Burg,“ meinte er zu Aila.

Es hörte sich gröber an, als er gewollt hatte. Aila nickte nur. Gordon und sie wechselten noch einen Blick und Norbert und Aila traten zur Tür hinaus.

Auf der Mauergasse standen Frauen und Männer in schäbigen, geflickten Kleidern und Kitteln zusammen. Die Anwohner aus den Baracken um den Steinbau des Gasthofs zum schwarzen Raben steckten die Köpfe zusammen und schimpften erregt über irgendwelche Neuigkeiten. In Lumpen gekleidete Kinder balgten miteinander oder zerrten weinend an den Röcken ihrer Mütter.

Aila und Norbert bahnten sich ihren Weg durch die aufgebrachten Gruppen von Anwohnern des Armenviertels. Es war kühl. Die Luft war feucht von winzigen Tröpfchen, die ab und zu aus der grauen Wolkendecke nieselten. Aila ging weit ausschreitend mit federnden Schritten. Sie bewegte sich geschmeidig und aufrecht. Fast schien es, als würden ihre schlanken Stiefel den Boden kaum berühren. Norbert warf einen Blick auf ihren Bogen und Köcher.

„Du bist Jägerin!“

„Ja,“ sagte sie einfach und schaute ihn mit hellen, ernsten Augen an. „Du bist auch ein Jäger, Norbert. Das habe ich sofort gesehen.“

„Wie kann man mir das ansehen?“ wunderte sich Norbert.

„Andere sehen es dir wohl nicht an,“ meinte sie nüchtern. „Aber ich habe es gleich erkannt.“

Warum war diese Frau so seltsam? Sie verwendete keine Fremdwörter einer Gelehrtensprache, wie Anton Dreyfuß es getan hatte, und dennoch verstand Norbert oft nicht, was sie sagte.

Er blickte ihr direkt ins Gesicht: „Du siehst mehr als andere, nicht wahr?“

„Ja,“ war ihre Antwort. „Ich möchte nicht, dass du darüber sprichst. Zu mir nicht und nicht zu anderen.“

Norbert war keinen Deut schlauer.

„Du bist eine Elbin, nicht wahr?“ startete er einen neuen Versuch.

„Ich bin eine Tochter Landorlins.“

Norbert nahm es als Bestätigung.

Auf dem freien Platz um einen Brunnen drängte sich in Lumpen gekleidetes Stadtvolk um einen Fähnrich, der von zwei Kriegsknechten flankiert wurde. Die Knechte umklammerten ihre aufgepflanzten Piken nervös mit den Fäusten. Die stoppelbärtigen Männer in speckigen Lederrüstungen blickten grimmig in die Menge.

„Blutsauger, Hundsfötte,“ schrien einzelne Frauenstimmen in der Menge. „Geht in die Oberstadt! Die reichen Wänste haben Platz und Fressen genug in ihren Häusern!“

„Im Namen des Markgrafen Lothar!“ brüllte der Fähnrich mit Donnerstimme. „Ich lasse jeden in den Block schließen, der den Erlass nicht ausführt. Und wenn ich ganze Gassen lang reihenweise Blöcke aufstellen muss! Jeder von euch nimmt in seinem Haus eine Familie der Ausgebrannten auf! Jeder einzelne Haushalt! Ihr öffnet eure Türen den Notleidenden oder ich lasse euch zu Krüppeln peitschen!“

„Ich habe nicht genug Platz für meine acht Kinder in dem einen Raum, geschweige denn genug zu essen. Wo soll da noch eine Sippe hungriger Mäuler hin?“ schrie eine hagere Frau, der das graue Haar in Strähnen ins Gesicht hing.

„Soll der Markgraf sie auf die Burg nehmen,“ kreischte eine andere. „Soll er sie in seiner Halle durchfüttern!“

Aila und Norbert drängten sich am Rand des Platzes durch die Menge.

„Jetzt fluchen sie sich die Stimmen heiser,“ meinte Aila, „aber noch heute werden sie tun, was der Markgraf ihnen befiehlt. Sie sehen nicht, dass die Markgrafenknechte und ihre Hauptleute Angst vor ihnen haben. Würden ihnen einmal die Augen dafür geöffnet, es wäre vorbei mit der Herrschaft der Adligen und Reichen.“

Den Marktplatz füllte lautes, aufgeregtes Stimmengewirr. Kriegsknechte brüllten Befehle, scheuchten auf dem Platz Kampierende auf.

„Auf, weg mit euch vom Platz! Erlass des Markgrafen! Der Markt muss wieder geöffnet werden!“

Überall rafften Familien die wenige aus den Flammen gerettete Habe, gespendete Decken und Planen zusammen. Ausgebrannte Unterstadtbewohner irrten mit zusammengeschnürten Bündeln ziellos über den Platz, blickten sich um wie Verfolgte, die nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Kinder schrien. Viele zogen mit Decken und Planen die Torgasse hinab zum Stadttor. Andere schlichen durchs Tor der Klostermauer in den Klosterhof. Hier und da kamen ein hohlwangiger, abgearbeiteter Graubart im schäbigen Kittel oder eine verbittert dreinblickende Mutter mit unordentlichem Haar, einen Säugling im Arm und ein heulendes Kleinkind am Rockzipfel, auf den Markt und sprachen Vorbeigehende an, um den demütig und schuldbewusst dreinblickenden Ausgebrannten voranzugehen ins Gassengewirr des Armenviertels.

Norbert und Aila bogen in die breite, gewundene Gasse ein, die durch die Oberstadt zum Aufgang auf den Burgfelsen führte. Das Geschrei auf dem Marktplatz blieb hinter ihnen zurück. Knechte mit Handkarren und sauber gekleidete Mägde blickten den beiden misstrauisch und neugierig nach.

Norbert betrachtete die zwei- und dreistöckigen Steinhäuser und überlegte kopfschüttelnd: „Warum nehmen sie hier in der Oberstadt keine Notleidenden auf? Die Leute im Armenviertel haben doch recht!“

Aila verzog keine Miene, als sie nüchtern bemerkte: „Weil man nicht reich wird, indem man mit anderen teilt, sondern indem man anderen möglichst viel wegnimmt und für sich selber behält.“

Sie blickte Norbert ernst von der Seite her an.

„Reichtum ist ein Fluch. Er führt zu Vereinsamung, schafft Feinde, macht Angst, überflüssigen Besitz zu verlieren und bewirkt Gier nach immer mehr Reichtum.“

So etwas hätte ich Melanie erklären müssen! schoss es Norbert durch den Kopf.

Er betrachtete die leicht und federnd neben ihm einherschreitende Aila. In der regenfeuchten Brise auf der Gasse wehte ihr das offene, blonde Haar um den Kopf.

„Bindest du dir die Haare nicht zusammen, wenn du mit dem Bogen umgehst?“ wunderte er sich. „Das Haar könnte sich beim Bogenspannen in der Bogensehne verfangen.“

„Das geschieht nicht,“ antwortete sie bloß.

Diese Frau war nicht zu begreifen!

„Anderen würde es schon geschehen,“ meinte er sarkastisch. „Aber dir nicht.“

„Ja,“ war alles, was sie antwortete.

Gegenüber dem Gasthof Zum eisernen Heinrich bogen sie auf den kopfsteingepflasterten Aufgang ein, der sich in flachen, weit auseinanderliegenden Stufen die Felswand entlang zur Burg hinaufwand. Auf halben Weg überholten sie einen vergitterten Karren. Das Zugpferd wurde von einer Gruppe von Kriegsknechten geführt. In dem Karren kauerte eine zerlumpte Gestalt. Ihr Gesicht war blutig geschlagen. Sie regte sich nicht und Norbert war sich nicht sicher, ob sie noch lebte oder schon tot war. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er an den Kriegsknechten vorbei. Aila verzog keine Miene. Die Kriegsknechte packten ihre Piken fester, als Norbert und Aila sie passierten.