Schatten der Anderwelt

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2.

Norberts Füße fühlten sich schwer an wie Blei, als er zögernd aufs Geratewohl vom Platz abbog in eine der Seitengassen, die hinabführten in den unversehrten Teil der Unterstadt. Er achtete kaum auf seinen Weg. Sein Kopf war leer bis auf den einen Gedanken, der ihm mit jedem Schritt wieder und wieder durch den Kopf ging.

Aus. Was soll nun werden?

An der Eingangstür eines zweistöckigen Herrenhauses sprach ein Mönch in weißer Kutte mit dem Hausherrn.

„Gebt ein Almosen für die Bedürftigen, Herr. Das Kloster trägt schwer an der Bürde, sich um die große Not in der Stadt zu kümmern.“

Der Hausherr bedachte den Ordensbruder mit kalten Blicken.

Schmallippig, aber sehr höflich antwortete er: „Mein Diener ist bereits mit Decken und Brot zum Marktplatz unterwegs. Danke dennoch, heiliger Mann, dass du mich an meine Pflicht, den Armen zu geben, erinnern wolltest. Du siehst, ich habe bereits selbst daran gedacht.“

Der Mönch verneigte sich würdevoll, während der Hausherr die Tür schloss. Aus dem Nebeneingang zur Küche winkte eine Magd dem Mönch. Verstohlen gab sie ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Ordensmann lächelte milde.

„Der Segen der heiligen Mutter möge auf dir ruhen, du Gutherzige.“

Durch Nebengassen verließ Norbert die Oberstadt. Er wollte nicht über den Markt gehen, wo jedermann ihn zu kennen schien und überall hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Eine Seilergasse entlang ging er zwischen eng stehenden, vom Alter schiefen Fachwerkhäusern hindurch. Die Reepschläger, die die Arbeit an den langen Bahnen wieder aufgenommen hatten, da der Stadtbrand gelöscht war, nahmen kaum Notiz von ihm. Norbert war froh darüber.

An einer Häuserecke, an der zwei Gassen im spitzen Winkel in die Reeperbahn einmündeten, standen Holzbänke am Brettertisch eines Ausschanks. Junge Gesellen und Hausknechte saßen beim Pausenimbiss. Sie hatten bereits mehrere Stunden Tagesarbeit hinter sich. Norbert setzte sich ans Ende der Bank. Der Schankwirt, ein graubärtiger Alter in schmieriger Schürze mit ungewaschenen Händen und dreckigen Fingernägeln brachte dünnes Bier, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Seine Stimme war kratzig.

„Willst du Schmalzbrot zum Frühstück?“

Norbert schüttelte den Kopf. Der Wirt wischte seine Hände an der Schürze ab und ging zum Tresen zurück, um weiter Brote zu schmieren. Es würden noch genug Hungrige kommen.

Eine Armeslänge von Norbert unterhielten sich zwei Handwerkerburschen.

„Heute früh in der Torgasse haben sie zwei Diebe gelyncht. Aus dem Hinterhof von einem der Häuser, in denen die Markgrafenknechte alles kurz und klein geschlagen und die Räume unter Wasser gesetzt haben, haben sie die Diebe auf die Gasse gezerrt und mit Latten und Schürhaken totgeschlagen. Brave Städter, Handwerkermeister, Ladenbesitzer, sogar ein paar Weiber waren dabei. Haben die beiden geschrien! So weit ist es mit Altenweil gekommen, Karl!“

Sein Zuhörer stupste den Burschen an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Norbert. Beide starrten Norbert an. Norbert blickte mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bierhumpen. Der Handwerkerbursche nickte seinem Gesellen zu und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf. Norbert registrierte es erleichtert.

Das lauwarme Bier schmeckte schal. Es war Norbert egal. Er trank den Humpen aus und winkte dem Wirt, einen zweiten zu bringen. Der Wirt stellte einen Teller Schmalzstullen neben das Bier. Im Schmalz waren die Abdrücke seiner Daumen zu sehen. Norbert kaute die Stullen, ohne recht zu merken, dass er aß. Er fühlte sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.

Hatte es Sinn, in Altenweil zu bleiben? Vielleicht sollte er sich den fahrenden Abenteurern anschließen, die in Gordons Schänke abgestiegen waren, und mit einigen von ihnen mitziehen - irgendwohin, wo er jemanden fand, der ihm beibrachte, ein heiliges Schwert zu führen. Dreyfuß hatte gemeint, nur mit einem solchen könne er den Dämon, der sein Heimatdorf vernichtet hatte, erschlagen: die schwarze Dame der Grotte. Der Schmied auf der Grafenburg konnte mit heiligen Schwertern umgehen. Aber er verlangte zwanzig Goldtaler, um Norbert als Lehrjungen anzunehmen. Wo um alles in der Welt hätte Norbert diese Summe hernehmen sollen?

Ich hätte schon vor einem Jahr mit Sturmkind ziehen sollen und der Gruppe, mit der sie herumzog. Sie hatten mich doch gefragt. Warum habe ich es nicht getan?

Der gierige Blick der alten Elena kam ihm ins Gedächtnis, als sie Darulans Zettel an sich riss... Dann musste er an Lonnie denken. Wegen ihr hatte er sich auf diese Höllenfahrt an den Rand des Laendorgebirges begeben. Darulan glaubte, mithilfe des schwarzmagischen Ritualgesangs wäre es möglich, das untote Mädchen ins Leben zurückzuholen. Norbert hatte Elena nicht gesagt, dass der Zauber nur wirkte, wenn Darulans Mischung der neun magischen Kräuter dazu verbrannt wurde. Er hatte Darulan die Kräutermischung gestohlen. Lonnies Geist hatte sie ihm weggerissen, damit er nicht der Sucht nach der schwarzen Magie verfiel...

Norbert schloss die Augen. Wenn es ihm nicht gelang, das Geistermädchen zu retten, war alles umsonst gewesen. Irgendwo in den mörderischen Gefilden der Anderwelt befand sich ihr „Quellort“ - ihr Seelenfunke, wie Darulan es genannt hatte. Dort musste er die Magie des Lebens wirken. Es wäre Blut vonnöten, hatte Darulan gemeint. Menschenblut am ehesten...

Norbert stand auf und zahlte dem Wirt drei Viertelkreuzer für Bier und Brot. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Er schlug den Weg zur unteren Torgasse ein, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Brandzone um die Turmruine breitete.

***

In den Häusern längs der Torgasse gegenüber der Brandzone sammelten die Bewohner ihre spärliche verbliebene Habe und noch brauchbaren Hausrat aus den Möbeltrümmern in den Hinterhöfen zusammen. In vielen Häusern waren die Herdfeuer bereits wieder entfacht. Auf der Gasse nagelten Männer improvisierte Brettertüren und Fensterläden zusammen. Über allem lag eine Atmosphäre der Verzweiflung, die durch das Weinen und Schluchzen der Frauen und Kinder, der Alten und Jungen, welche die Leichenkarren zum Tor begleiteten, noch verstärkt wurde.

Ein Händler vor seinem zerschlagenen und ausgeplünderten Laden machte seiner Wut Luft: „Was die Flammen dank der Gebete der Mönche verschont haben, das haben die Markgrafenknechte, dieses Kriegsgesindel, zertrümmert und ersäuft! Ist Altenweil durch das Feuer noch nicht genug geschunden worden, dass dieses Lumpenpack wüten musste wie die Horgaren? Ausgepeitscht, erhängt, ersäuft gehört dieses Pack!“

Die Kriegsknechte bei den Leichenkarren verrichteten weiter ihre Knochenarbeit, den zweiten Tag nun schon, ohne von dem schreienden Ladenbesitzer Notiz zu nehmen. Ihren müden Gesichtern war nicht anzusehen, was sie dachten.

Zwischen den Leichenkarren hindurch überquerte Norbert die Gasse. Wolken von Aschenflocken wirbelten in der Luft. Vor Norbert breitete sich die Brandzone: ein Bereich verkohlter Trümmer zwischen aufragenden Schornsteinschloten. Außer einer dicken Ascheschicht war nichts von den eng beieinanderstehenden Fachwerkbauten geblieben. Von dem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Rundturm des Anton Dreyfuß stand nur noch die Erdgeschossmauer, stellenweise noch Teile des ersten Stocks. Eine hohle Fensteröffnung gähnte wie zum Spott über die einstige Macht des gefürchteten Dämonologen.

Die Turmruine stand auf einer vormals dicht bebauten Anhöhe. Norbert stieg den schwarzen Mauerresten des Turms entgegen. Als er den düsteren Turm in seinem achten Lebensjahr zum ersten Mal gesehen hatte, hatte das Doppelbild des Turms auf der anderen Seite der Grenze ihm den Eindruck erweckt, der Turm stehe unmöglich schief. Das Dachgeschoss des Turms war umgeben gewesen vom fahlblauen, unwirklichen Licht der Anderwelt. Jetzt wirbelten Aschenwolken um die verkohlten Mauerreste. Norbert strengte seine Sinne an. Nirgends konnte er den Hauch der Anderwelt wahrnehmen.

Die Turmpforte war ein leerer Schlund. Die Rundmauer rings umher, selbst die ausgetretenen Stufen zur Pforte hinauf waren mit einer dicken Rußschicht überzogen. Norbert tastete nach seinem Schwert und konzentrierte sich auf einen Abwehrzauber. Hier war es, wo er gestern die rasende Banshee bekämpft hatte. Blaues Anderweltfeuer hatte aus der Turmpforte gelodert. Jetzt trübten nur wirbelnde Aschenwolken die Tageshelle um den Turm. Kein jenseitiges Dunkel verdrängte das Licht.

Zögernd stieg Norbert die Stufen hinauf zu der gähnenden Pforte.

„Rhe!“ murmelte er den Abwehrzauber, als er ins Turminnere blickte.

Keine Spur von Anderweltleuchten schimmerte auf. Stumm starrte Norbert auf die Verwüstung.

Decke und Boden des Erdgeschosses waren weggebrochen. Wo einst Küche, Verwalterkammer und die steinerne Wendeltreppe in die oberen Geschosse sich befunden waren, gähnte ein nur von der geschwärzten Turmmauer begrenztes Loch. Tageslicht fiel von oberhalb der zerbrochenen Mauerreste herein. Aschenflocken wirbelten in den Resten der Rundmauer. Eine Manneslänge unter Norbert ragten von der Hitze gekrümmte, zu Kohle verglühte Balkentrümmer aus einer geschmolzenen und wieder erstarrten Masse, die aussah, wie trübes Glas. Die Schmelzmasse füllte das gesamte Fundament der Ruine.

Wie betäubt nahm Norbert das Ausmaß der Zerstörung wahr. Dort unten, von den Flammen verzehrt und von der Hitze zusammengeschmolzen, befand sich, was von der Einrichtung und den Schätzen des Zaubererturms geblieben war. Apparaturen und Experimentiergeräte, eine ganze Bibliothek Jahrhunderte alter Bücher, deren Wissen Norbert sich nie hatte zu Nutze machen können, weil er nicht lesen konnte, die randvoll mit Gold gefüllte Schatztruhe des Meisters, für deren Inhalt er dafür umso mehr Verwendung gehabt hätte, und auch jene magische, von Anton Dreyfuß hergestellte Pforte zur Anderwelt im obersten Turmgeschoss – alles war verschmolzen zu einer toten, glasartigen Masse.

 

Norbert schloss die Augen. Er drängte die bitteren Gedanken zurück, versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Er zwang seinen Geist zur Konzentration. Alle Sinne richtete er auf mögliche Anzeichen für die Nähe der Anderwelt: ein feines Kribbeln im Nacken, diffuses blaues Flackern in den Augenwinkeln, ferne Geräusche oder Laute... nichts.

Norberts Puls beschleunigte sich, als er mit einem Zauberspruch das blaue Anderweltleuchten heraufbeschwor: „Elean thanatos!“

Er wusste, dass es gefährlich war. Bei früheren Versuchen war er in Abgründe gestürzt oder von jenseitigen Wesenheiten angegriffen worden, andere Male war er der schwarzen Dame nur knapp entkommen. Auf alles gefasst, die Hand am Schwertgriff, stand er mit geschlossenen Augen und lauschte...

Nichts. Norbert öffnete die Augen. Kein blaues Feuer. Nicht der geringste Schimmer diffusen Anderweltleuchtens. Die Grenze war fort. Tränen sammelten sich in seinen Augen, als er in den von wirbelnden Aschenflocken durchwehten Hohlraum der Ruine starrte. Lonnie schien unendlich fern, gefangen jenseits der Grenze. Das Tor, welches ihm ermöglicht hätte, zu ihr zu gelangen, war auf immer geschlossen, zerstört durch die Magie, die Norbert selbst gewirkt hatte.

Zögernd wandte er sich von der Turmpforte ab. Der Wind wehte wirbelnde Aschenwolken über die Trümmerlandschaft. Die Luft roch nach beißendem, kaltem Rauch. Norbert tränten die Augen. Zwischen verkohlten Balkenresten hindurch stapfte er durch knöcheltiefe Asche dem Rand der Brandzone entgegen. Ein Schrei tobte in seiner Brust, aber er hielt die Lippen zusammengepresst, zwang den Drang, seine verzweifelte Wut herauszubrüllen, nieder.

***

In einer Kellerschänke im Armenviertel setzte Norbert sich außerhalb der trüben Helle, die durch die Kellerluken hereinrieselte, ans Ende der Bank nahe der Gewölbemauer am einzigen Tisch im Raum. Er mochte nicht in den Schwarzen Raben zurückgehen, wo die Abenteurer ihn drängen würden, zu berichten. Er hatte keine Lust, darüber zu reden, was ihm widerfahren war. Es waren keine Abenteuer gewesen, über die man am Herdfeuer Angebereien von sich geben konnte. Aber vor allem wollte er der Harfenspielerin nicht unter die Augen treten, nach der peinlichen Begegnung mit ihr im Waschraum vor Tagesanbruch.

Norbert ignorierte die hoffnungsvollen Blicke der beiden Mädchen, die beim Herdfeuer beieinandersaßen. Sie trugen bunte Tücher um die hageren Schultern geschlungen. Ihre zerschlissenen Kleider hatten zu tiefe Ausschnitte, um damit auf die Gasse zu gehen.

Zur Wirtin meinte er: „Bring mir Bier,“ und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „und Schnaps.“

In Richtung der Mädchen erklärte er: „Und lasst mich in Ruhe!“

Die Mädchen nahmen ihre leise Unterhaltung wieder auf. Es war ohnehin noch zu früh, um mit Freiern zu rechnen. Aber wo Geld fürs Allernötigste gebraucht wurde, da wollte keine Chance vertan sein. Die Wirtin brachte einen hölzernen Humpen Bier und einen Becher Kartoffelschnaps. Aus Norberts fleckiger, verrauchter Ledermontur und seinem verrußten Gesicht schloss sie, er wäre ein Abenteurer, der beim Löschen der Brände geholfen haben musste.

„Ein entsetzlicher Fluch, der uns da heimgesucht hat, dieser Feuerbrand,“ klatschte sie im Glauben, den richtigen Ton im Umgang mit einem Freischärler getroffen zu haben. „Wenn ihr Kerls nicht gewesen wärt und die Knechte des Markgrafen, bei allen Sternen, die Armen Brüder hätten noch so viel beten und Glocken läuten können, das Feuer hätte uns alle verschlungen.“

Mit vertraulicher Ironie und einem Blick auf die Mädchen am Feuer fügte sie hinzu: „die heilige Jungfrau wird mir verzeihen, wenn's lästerlich klingt, was ich sage!“

Norbert antwortete nicht. Die Wirtin begriff, dass er nicht gekommen war, um zu plaudern oder um sich etwas von der Seele zu reden.

„In einer Stunde ist die Suppe fertig,“ erklärte sie, bevor sie zum Kessel über dem Herdfeuer zurückging und Norbert seinen trüben Gedanken nachhängen ließ.

Norbert nahm einen Schluck Kartoffelschnaps und verzog das Gesicht. Der Schnaps brannte ihm in der Kehle. Er war starke Getränke nicht gewohnt. Aber an diesem Tag war es ihm egal, obwohl eine innere Stimme ihn mahnte, lieber nüchtern zu bleiben. Der Schnaps erinnerte ihn an Wildenbruch, an die Jagdausflüge, zu denen Majas Vater ihn mitgenommen hatte. Sein vermeintlicher zukünftiger Schwiegervater hatte ihm einen Jagdbogen geschenkt und er hatte schnell Geschick im Umgang damit bewiesen. Nach erfolgreicher Jagd teilte Björn Feldnersohn oft einen Schluck Schnaps aus der Feldflasche mit Norbert. War es wirklich erst zwei Jahre her? Eine Ewigkeit schien vergangen seit damals.

Norbert trank den Schnapsbecher aus. Das starke Getränk stieg ihm in den Kopf und linderte seine brennende, verzweifelte Wut und die nagenden Schuldgefühle. Er atmete heftig aus und blinzelte in die trübe Helle der Kellerluke. So waren sie, die Mädchen. Gingen einfach weg. Melanie hätte auf ihn warten können, wenn sie ihn wirklich noch einmal sehen gewollt hätte. Sie hätte den reichen Affen, der behauptete, sie heiraten zu wollen, überreden können, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Norbert hätte ihr schon klar gemacht, was für eine blöde Idee sie sich da in den Kopf gesetzt hatte... Sie war nicht geblieben. Genau wie Sturmkind. Eigentlich war ja er derjenige gewesen, der nicht mit dem Abenteurermädchen mitziehen gewollt hatte, aber der Schnaps machte es ihm leicht, das Vergangene nicht ganz so genau zu nehmen.

Vielleicht sollte er in den Gornwald zurückgehen und sich mit Wilderei durchschlagen. Im uralten Gornwald war die Grenze nahe. Dort konnte er sich auf die Suche nach dem Quellort von Lonnies gefangener Seele machen. Wilderei war verboten, aber vor den Schergen der Grafen und Fürsten fürchtete er sich nicht. Er war überzeugt, besser mit dem Schwert umgehen zu können als die allermeisten Kriegsknechte. Doch um von der Jagd zu leben, brauchte er Jagdwaffen. Und um irgendwo einen Jagdbogen und Pfeile zu her zu bekommen, benötigte er Geld.

Er konnte versuchen, den Schwarzalb auszutreiben, der das Haus des Ratsherrn Hohenwart heimsuchte. Dreyfuß hatte für eine Geisteraustreibung zwischen zwei und zwölf Goldtalern genommen, je nachdem, wie gefährlich die Anderwelterscheinung war. Gefährlich würde es in jedem Fall werden. Norbert konnte nur hoffen, dass er das, was dort sein Unwesen trieb, überwinden und bannen konnte, bevor er davon in die Anderwelt hinübergezogen oder in Stücke gerissen wurde. Aber hatte er eine Wahl? Bier und Schnaps halfen ihm bei der Entscheidung. Er entschloss sich, zum Ratsherrn zu gehen.

Die Wirtin brachte einen zweiten Humpen Bier, aber Norbert winkte ab.

„Nein danke. Ich nehme noch von deiner Suppe, wenn sie fertig ist. Ich hab noch was vor, heute.“

***

Die sechste Stunde war angebrochen, als Norbert den kopfsteingepflasterten Platz vor dem Haus des Ratsherrn überquerte. Obwohl er sich den Tag über immer wieder darin bestärkt hatte, an seinem Entschluss festzuhalten, war ihm mulmig zumute. Das große, dunkle Haus mit den hohen, noch lichtlosen Fenstern ragte in der Stille der Abenddämmerung auf, wie der Hüter eines lauernden Geheimnisses - schweigend, mit nach innen gekehrten, blinden Augen. Dahinter erhob sich der Burgfelsen, von der untergehenden Sonne in flammendes Rot getaucht.

Den Nachmittag über war Norbert in den Seitengassen des Armenviertels und der Unterstadt umhergeschlichen, die Hauptgassen meidend, wo er womöglich wieder von irgendwem erkannt worden wäre. Er hatte sich nicht überwinden können, in den Schwarzen Raben zurückzukehren.

Er entschied sich, lieber über den Hof zur Küchenpforte zu gehen, statt über die Freitreppe zu dem mächtigen Eingangsportal hinaufzusteigen. Im dämmrigen Hof war die Kleine, die sie Sabinchen nannten, dabei, die Hühner in den Stall zu treiben. Mit dem Besen versuchte sie, ein Huhn, das offenbar noch keine Lust hatte, für die Nacht eingesperrt zu werden, zum Hühnerstall zu scheuchen. Ihre Holzschuhe klapperten auf dem Pflaster. Sabinchen sah Norbert im Tordurchgang und blieb mit großen Augen stehen. Aus der Tür des Wirtschaftsgebäudes trat ein untersetzter Kerl mit wirrem, dunklen Haar und aufgedunsenem Gesicht. Er trug die grobe, unförmige Hanfjacke eines Knechts. In der Hand hielt er einen Krug. Missmutig blickte er Norbert entgegen.

„Heda, was suchst du hier?“

Norbert ging ein paar Schritte in den Hof hinein. Das Huhn stellte fest, dass die Verfolgungsjagd vorbei war, lief zum Stall und schlüpfte über die Hühnerleiter hinein. Der Knecht blickte unsicher zur Seite, als Norbert ihm ruhig ins Gesicht schaute.

„Ich bin Norbert Lederer. Euer Verwalter hat mich heute Morgen gefragt, ob ich den Schwarzalb bannen könnte, der angeblich in diesem Haus sein Unwesen treibt. Ich mache das, wenn der Hausherr einverstanden ist.“

Sabinchen ließ den Besen fallen und schlug die Hände vor den Mund. Ihre Augen wurden immer größer. Auch der Knecht starrte Norbert verdattert an.

„Heilige Jungfrau!“ murmelte er.

Er wies zu Küchentür.

„Wenn du nicht an der Hauspforte vorsprechen willst, komm zur Küche herein.“

Sabinchen herrschte er an: „Glotz nicht so! Geh, mach den Hühnerstall zu, bevor die Biester alle ausrücken.“

In der Küche saß eine hagere Frau in einem grauen Kleid mit weißer Kopfhaube der Köchin am Tisch gegenüber. Sie mochte um die Vierzig sein. Die großen, ängstlichen Augen in ihrem blassen Gesicht füllten sich mit verhaltener Abscheu, als sie Norbert erblickte. Norbert überlegte kurz, ob sie womöglich die Gemahlin des Ratsherrn wäre, aber sie war es wohl eher nicht. Vermutlich gehörte sie zum Dienstpersonal. Die Köchin wandte sich zu Norbert um.

„Heilige Mutter von Altenweil, der Norbert Lederer ist gekommen!“

Der Knecht drängelte sich hinter Norbert in die Küche.

„Er sagt, er will den Poltergeist austreiben,“ brummte er, während er sich hinter der Köchin vorbeischlängelte, zum Wandregal ging und einen Tonbecher herausnahm.

„Wenn der gnädige Herr es erlaubt, heißt das.“

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und goss sich aus dem Krug, den er mitgebracht hatte, ein. Die Köchin beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

„Was willst du dich da schon wieder besaufen, Boris!“

„Lass mich!“

Der Knecht nahm einen langen Schluck aus dem Becher. Die Hagere rümpfte verächtlich die Nase. Die Köchin wandte sich an Norbert.

„Aller Götter Dank soll dir sein, wenn du dem Spuk hier ein Ende machst.“

Sie deutete mit dem Kopf auf einen leeren Stuhl.

„Setz dich zu uns!“

Zu der Hageren, die missbilligend beobachtete, was um sie her vorging, sagte sie: „Jetzt müssen wir nur zusehen, wie wir den gnädigen Herrn überreden, den jungen Mann zu Werke gehen zu lassen, Millie.“

Norbert setzte sich. Die in Grau gekleidete Hagere blickte an Norbert vorbei, als müsse sie sich überwinden, ihn anzusehen.

„Auch wenn er der Schüler von diesem Hexenmeister ist, muss er doch nicht so herumlaufen.“

Anna, die Köchin betrachtete Norbert mütterlich.

„Wir geben dir eine Waschschüssel und ein Stück Seife, damit du dir Gesicht und Hände waschen kannst.“

Zu der Hageren meinte sie sanft: „Bestimmt hat er den ganzen Tag über bei der abgebrannten Unterstadt geholfen. Da gab es sicher keine Gelegenheit, sich zwischendurch zu säubern.“

Die grau gekleidete Millie kommentierte es mit einem Naserümpfen. Norbert hatte sein dreckiges Äußeres völlig vergessen.

Verlegen murmelte er: „Ja, danke.“

Sabinchen schlich sich zur Küchentür herein. Sie blieb mit vor der Brust gefalteten Händen an der Tür stehen und beobachtete die Szene mit stummer Neugier. Der Knecht nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher. Mit glasigen Augen stierte er Norbert an.

„Was willst du machen, um den Poltergeist auszutreiben? Knoblauchbündel in Türen und Fenstern aufhängen? Mit Zauberkreide magische Pentagramme auf den Fußboden malen?“

Die Köchin drohte dem Knecht mit dem Finger.

 

„Lass den jungen Mann mit deinem besoffenen Gelaber in Frieden, Boris. Er wird schon wissen, was er zu tun hat.“

Zu der spitznasigen Millie sagte sie: „Millie, geh doch hinauf und mach Elmar klar, dass er dem gnädigen Herrn die Aufwartung des Schülers des Dämonologen Dreyfuß ankündigen muss. Elmar wird wissen, wie er's dem gnädigen Herrn beibringen muss.“

Die Hagere stand seufzend auf.

„Vielleicht bringt es den gnädigen Herrn ja auf andere Gedanken und er hört auf, im Kabinett herumzuwüten und auf dem armen Konrad herumzuhacken. Der kann doch bei der heiligen Mutter am allerwenigsten dafür, dass der gnädige Herr sein Geld so verschleudert, dass kaum noch was davon übrig ist!“

Als Millie hinausgegangen war, sagte Anna zu der Kleinen:

„Bienchen, mach eine Schüssel mit Waschwasser und Handtuch und Seife für den Norbert Lederer bereit.“

Das Mädchen huschte zum Herd, schöpfte Wasser in einen Kessel, rückte den Teekessel beiseite und setzte den Wasserkessel auf den Herd.

Während das Waschwasser warm wurde, erklärte die Köchin Norbert: „Unser gnädiger Herr hatte bei dem Ulf Jörgsohn, dem sich die Melanie an den Hals geworfen hat, noch Schulden von früher, scheint's, aus der Zeit ihrer gemeinsamen Handelsreisen, wie es so schön heißt. Jedenfalls hat er dem Ulf Jörgsohn eine hohe Summe Goldtaler ausgezahlt, als der abgereist ist. Die beiden sind nicht als Freunde voneinander geschieden, glaub's mir. Die ganze Zeit über, die der Ulf Jörgsohn zu Besuch war, lief der gnädige Herr mit schlechter Laune herum. Und wir, vor allem Elmar und Konrad, durften's ausbaden!“

Anna ging zum Teekessel, goss Tee in einen Becher und stellte Norbert den Becher hin.

Zum Hausknecht Boris sagte sie: „Hier, siehst du, das ist was Vernünftiges. Du solltest auch lieber Tee trinken, statt immerzu deinen ollen Fusel.“

„Bleib mir weg mit deiner lauwarmen Plörre,“ knurrte Boris. „Ich racker mich den ganzen Tag ab, während du nur in der Küche sitzt und tratschst. Da brauch ich was Handfestes am Abend.“

Solches Küchengeplänkel war Norbert aus dem Wohnturm seines ehemaligen Lehrmeisters nur zu vertraut. Hätte er nicht dieses elend flaue Gefühl in der Magengrube gehabt, es wäre ihm beinahe heimisch vorgekommen. Er wollte es sich nicht zugeben, aber er hatte erbärmliche Angst vor dem, was er sich vorgenommen hatte.

Norbert nippte am heißen Kräutertee, während die Köchin und der Hausknecht leise miteinander zankten. Sabinchen goss warmes Waschwasser in eine Schüssel und Norbert stand auf und wusch sich möglichst gründlich Hände und Gesicht. Er war froh, dass er bei Anton Dreyfuß gelernt hatte, wie man mit hochstehenden Leuten reden musste. Dadurch, und weil er häufig dabei gewesen war, wenn Dreyfuß sich mit Städtern besprach, welche die Dienste des Meisters in Anspruch nehmen wollten, fühlte er sich nicht ganz so verunsichert. Was ihm wirklich Sorgen machte, war die Begegnung mit dem Schwarzalb, von dem er nicht wusste, worum es sich handelte und ob er in der Lage sein würde, ihm beizukommen.

Norbert hatte den Tee noch nicht ausgetrunken, als die Tür geöffnet wurde. Der Alte, der in der Tür stand, trug Schlupfjacke und Hosen aus gutem Stoff. Die vielen Gesichtsfalten gaben ihm ein vergrämtes Aussehen. Sein Blick viel auf Norbert und er nickte traurig.

„Elmar!“ rief Anna. „Hast du etwas erreichen können beim gnädigen Herrn?“

Der sorgenvolle Diener hatte eine leiernde Altmännerstimme: „Ja. Norbert Lederer, der Schüler und möglicherweise der junge Nachfolger des jüngst so unglücklich verschiedenen Dämonologen Anton Dreyfuß, soll beim gnädigen Herrn im Kabinett vorsprechen. Aber,“ ergänzte er beinahe weinerlich, „der gnädige Herr ist sehr verstimmt, um nicht zu sagen außer sich, aufgrund gewisser Differenzen zwischen ihm und dem Hausverwalter bezüglich der Solidität des Finanzfundaments gewisser Verpflichtungen und Unternehmungen des gnädigen Herrn.“

Norbert presste die Lippen zusammen. Er hasste Leute, die meinten, sie müssten so gebildet daherreden, dass er sie nicht verstand. Anna seufzte.

„Bei allen Sternen, Elmar, kannst du das auch in unserer Landessprache sagen? Dein Gelehrten-Kauderwelsch versteht doch kein Mensch!“

Elmar stand in der Tür wie ein großer trauriger Vogel.

Sorgenvoll leierte er: „Der gnädige Herr ist pleite, meine Liebe. Pleite und hoch verschuldet.“

Das war's dann wohl mit dem Geldverdienen. Norbert überlegte, ob er nicht gleich wieder gehen sollte.

„Heilige Mutter von Altenweil!“ murmelte die Köchin.

Vom Herd her flüsterte Sabinchen erschreckt: „Was heißt pleite?“

Aber die resolute Anna fand ihre Fassung gleich wieder: „Na, wird schon nicht so schlimm sein. Sie werden den hohen Ratsherrn schon nicht gleich in den Block schließen. Wir haben hier schon ganz andere Krisen überstanden. Hauptsache,“ und damit wandte sie sich an Norbert, „wir werden den Höllenspuk hier los. Dann wird sich alles andere wieder einrenken. Sag dem gnädigen Herrn nur, was du als Bezahlung haben willst. Er wird es dir sicher nicht ausschlagen.“

Die Zuversichtlichkeit der Köchin konnte Norbert nicht nachvollziehen, aber was sollte er tun? Schicksalsergeben stand er auf.

„Soll ich gleich zu ihm kommen?“

Der traurige Vogeldiener nickte: „Ja, der gnädige Herr lässt bitten.“

***

Norbert folgte dem Diener einen unbeleuchteten Gang entlang und eine schmale Stiege hinauf ins Hochparterre. Durch eine kleine Tür traten sie in ein kaum erhelltes Zimmer mit getäfelter Holzdecke, hinter dessen großen Glasfenstern letztes Tageslicht verdämmerte. Die Stühle um den mächtigen Esstisch standen wie hastig an den Tisch geschoben, als wären sie alle durcheinander gerückt worden oder umgefallen und dann nachlässig wieder hingestellt. In der hinter dem Esszimmer liegenden Halle war Millie dabei, mit einem glimmenden Docht an einer Stange die Kerzen des Deckenleuchters zu entzünden. Auch vor einem kleinen Heiligenbild auf einem Wandaltar an der Seitenwand brannte eine Kerze. Durchs Treppenhaus gingen Elmar und Norbert über eine breite Steintreppe in den ersten Stock hinauf.

Hinter der Tür im oberen Stockwerk überfiel Norbert schlagartig ein Gefühl drohender Gefahr, wie bei der Annäherung eines Raubtiers, dessen Gegenwart einem bewusst wird, noch bevor man es sieht. Die Ahnung von etwas Lauerndem, Bösartigen machte ihn schaudern. Wie eine tastende Klaue kroch ihm Kälte den Rücken herab. Er musste sich zwingen, ruhig weiterzuatmen. Er ließ Elmar vor gehen, blieb stehen und sammelte sich, um der jenseitigen Macht, deren Gegenwart er spürte, wach und gefasst entgegenzutreten. Einen Moment lang kämpfte er mit seiner Angst. Dann siegte seine Konzentration. Die Hand auf den Schwertgriff gelegt, schritt er in den Raum.

Die Dielen knarrten unter seinen Schritten. Im Kamin brannte ein Feuer. Davor standen gepolsterte Lehnstühle. Polsterbänke säumten die Wände zwischen den hohen, dunklen Fenstern. Das Bild über dem Kamin hing schief. Im flackernden Kerzenlicht konnte Norbert nicht erkennen, was es darstellte. Eine schmale Frau mit zusammengebundenen Haaren in einem weiten, dunklen Kleid, das bis zum Boden reichte, hielt im Auf- und Abgehen inne und starrte Norbert und Elmar erschreckt an. Sie hielt die Hände vor der Brust zusammengepresst. Elmar machte eine leichte Verbeugung.

„Gnädige Frau!“

Er ging an der Dame des Hauses vorbei durch eine Flügeltür in den nächsten Raum. Norbert verbeugte sich und folgte dem Diener. Stumm starrte die Hohenwarterin ihnen nach. Angst stand ihr im Gesicht geschrieben.

Auch im angrenzenden Raum brannte ein Feuer im Kamin. Hinter den Fenstern zum Hof lag letztes Dämmergrau. Die Tür an der linken Seite war geschlossen, die zur Rechten stand offen. Wandteppiche hingen an den Wänden. Die Kerzen in den Wandleuchtern flackerten. Ein riesiger ausgestopfter Bär mit gefletschten Zähnen war neben der linken Tür auf den Hinterfüßen aufgestellt. Das verloren dastehende, zottelige Ungetüm machte einen grotesken Eindruck auf Norbert. Wer stellte sich so etwas ins Haus? Durch die Tür neben dem Bären drangen Flüche und Wutgebrüll.