Blaues Feuer

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„Wenn du groß bist, wirst du den Hof deines Vaters übernehmen,“ sagte Leika in milderem Ton. „Denk an deine Pflicht! Wir Grenzsiedler müssen zusammenhalten!“

Norbert schwamm der Kopf. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es kam ihm so vor, als sei das, was Leika sagte, ungerecht, aber er hatte vergessen, warum. Und wahrscheinlich stimmte es doch alles. Noch einmal nickte er verlegen. Leika fuhr ihm mit einer versöhnlichen Geste durchs Haar.

„Nun geh schon die Schweine füttern.“

***

Norbert erzählte nichts mehr von der Reise. Er erzählte auch niemandem, was der Vater ihm auf der Fahrt gesagt hatte. Wenn die wildenbrucher Kinder ihn drängten, gab er wortkarg ein paar Eindrücke aus Altenweil von sich und ließ die Gefährten das Gesagte diskutieren oder mit ihrer Fantasie ausschmücken, ohne sich einzumischen.

Nur Maja, niemandem sonst, erzählte er von dem Mädchen mit den Schmalzkuchen. Zufällig begegneten Maja und Norbert einander beim Reisigsammeln auf einer Waldlichtung oberhalb der Flussaue. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm zwischen jungen Birken in die Sonne. Norbert teilte einen geklauten Dörrapfelring mit Maja und erzählte von seiner Begegnung mit Melanie.

„Ich hab ihr einen Schmalzkuchen gegeben für einen Kuss.“

„Sie hat dich geküsst?“

„Ja, warum denn nicht!“

Maja blickte verlegen zur Seite.

„Ich kann gar keine Schmalzkuchen backen,“ flüsterte sie.

Norbert schaute ihr ins Gesicht. „Aber das macht doch nichts!“

Maja wurde rot. Ihre Augen strahlten. Schnell nahm sie ihr Reisigbündel und lief davon. Norbert knabberte das letzte Stück Apfelring, schloss die Augen und spürte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

***

Er träumte von dem Mädchen am Brunnen. Im fahlen Halblicht der Mondsichel hinter den Wolken war sie vor dem dunklen Land kaum auszumachen. Hilflos schaute sie zu ihm herüber mit feuchtem Haar und großen Augen. Er wollte zu ihr gehen, aber seine Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Er war wie gelähmt in diesen Träumen.

Wenn er am späten Nachmittag die Ziegen zum Stall zurücktrieb, blieb er oft stehen und starrte hinüber zu den Elbenruinen am Rand der Flussaue. Grauer Nebel stieg aus den Ruinen auf, hüllte das Erlengehölz ein und zerfaserte zwischen den Baumkronen. Dort war die Grenze. Und konnte er nicht leise Flötenklänge hören aus dem Nebel? Weinte dort nicht ein Mädchen?

Die Tage wurden kürzer. Erste Brauntöne erschienen im dunklen Grün der Baumkronen. Die letzten Handschläge der Tagesarbeit waren noch kaum getan, wenn die Abenddämmerung die Hütten in unterschiedsloses Grau zu tauchen begann.

Eines Abends ging Norbert nicht zum Treffpunkt der Gefährten am Waldrand. Er ging hinunter zur Flussaue. Der Fluss hatte sich weit in sein Bett zurückgezogen und man konnte trockenen Fußes durch die Auenniederung gehen bis zu der von Büschen überwucherten Erhebung, auf der das Ruinendorf stand. Zwischen den Erlenbüschen war es feucht. Es war kälter als in der Niederung. Nebel stieg vom Boden auf. Norbert spähte durch die Büsche zu den Ruinen hinüber. Er wusste, dass sie dort war, dass sie auf ihn wartete. Vorsichtig bog er die Zweige zur Seite und ging den verfallenen Hüttenresten entgegen. Hinter den Ruinen, wo das Flussufer sein sollte, glühte ein tiefblauer Horizont. Es wunderte Norbert nicht. Zwischen den Hütten standen Gestalten.

Norbert hatte keine Ahnung, was er tun würde. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Aber er würde dem Mädchen helfen. Irgendwie.

„Ich will euch nichts klauen.“ Er bekam nur ein ersticktes Flüstern heraus. „Ich... ich will euch helfen.“

Die Schattengestalten hatten Bögen in den Händen.

„Bitte, sagt mir, wie!“

Er trat aus dem Dickicht auf die Ruinen zu. Die Elben spannten die Bögen. Ein kurzes Knurren in seinem Rücken ließ ihn anhalten. Die Wölfin stand keine drei Schritt von ihm entfernt. Mit hochgezogenen Lefzen grollte sie die Bogenschützen an. Mit einem Schlag wurde Norbert sich der Gefahr bewusst. Er drehte sich um, stolperte zurück ins Dickicht. Etwas surrte an seinem Kopf vorbei.

In der Niederung, in der der warme Spätsommerabend noch fortdauerte, hielt er an und blickte sich heftig atmend um. Die Elbensiedlung lag in dichtem Nebel. Die Wölfin war verschwunden.

***

In den Höfen begannen die Frauen, Kränze für das Herbstopfer zu flechten. Es war ein gutes Jahr gewesen. Viele Lämmer und Kälber waren geboren worden und die kleinen Felder oberhalb der Siedlung hatten reichlich Emmer und Einkorn eingebracht. In den Gemüsegärten bei den Höfen wuchsen jetzt Kürbisse und Winterkohl.

Wenn in Hans Lederers Hofgemeinschaft beim Essen das Gespräch auf das Herbstopfer kam, blickte Norbert auf seine Essschale und löffelte stumm seinen Eintopf. Er spürte den drohenden Blick des Vaters. Manchmal blickte auch Leika prüfend nach ihm. An den Festvorbereitungen beteiligte er sich nicht. Mit zusammengekniffenen Lippen ging er seiner Arbeit nach. Aber er schrie auch nicht auf vor Wut und rannte nicht hinaus, wenn in der Familie die schwarze Dame für das ertragreiche Jahr gepriesen wurde. Nur einmal, als Mutter mit zitternder Stimme ein besonders ausführliches Lob an „unsere gnadenreiche, segnende Dame der Grotte“ aufsagte, blickte er trotzig den Vater an. Hans Lederer schaute seinem Sohn streng in die Augen, aber als Norbert in Erwartung der unvermeidlichen Ohrfeige mit zusammengebissenen Zähnen dem Blick des Vaters standhielt und wütend zurückschaute, schlug Hans Lederer nicht zu. Er wandte den Blick von seinem Sohn und blickte stumm und bitter zur Seite.

Am Tag des Herbstopfers ging Norbert als letzter der Hofgemeinschaft in der Prozession den Felsensteig am Bach entlang. Er hielt den Blick auf seine Füße gesenkt und versuchte, nicht daran zu denken, was geschah.

Björn Feldnersohns Hofgemeinschaft führte die Prozession an. Die anderen Familien folgten hinter Norbert. Am Eingang zur Klamm drängten die Wildenbrucher sich zusammen. Die Familien von Björn Feldnersohn und Hans Lederer schlichen sich seitlich nah an der Felswand in die Klamm, dem dunklen Höhlenschlund ehrfürchtige Blicke zuwerfend. Beinahe ängstliche Blicke, fand Norbert. Niemand schien der Höhle zu nahe kommen zu wollen. Norbert war froh darüber. Er konnte die Anwesenheit von etwas Wildem, Lauernden in der Schwärze des Grottenschlunds nahezu körperlich spüren.

Wenn sie jetzt herauskommt, zerfetzt sie uns alle!

Der Dämon kam nicht heraus. Aber Norbert wusste, dass er dort in der Dunkelheit harrte, witterte.

Hans Lederer und Björn Feldnersohn legten die Gaben vor der Grotte ab: Herbstblumenkränze, Körbe mit Äpfeln und Brot, Rüben, Korngarben. An Vaters Filzumhang glänzte die Silberfibel. Vor dem dunklen Höhleneingang kam es Norbert vor, als strahlte sie ein eigenes helles Licht aus. Norbert sah, dass der Vater den Dolch an der Seite trug, den er auf der Marktreise dabeigehabt hatte. Im Höhlenschlund war nichts zu erkennen, aber Norbert spürte, wie die bösartige Macht, die dort lauerte, sich tiefer in die Höhle zurückzog.

Die Dorfgemeinschaft stimmte schüchtern den Dankgesang an. Sehr verhalten klang das Erntedanklied hier vor der Grotte, das doch unten im Dorf so glücklich und froh klang.

Da liegt Smetas Gerippe, dachte Norbert, den die Zeremonie plötzlich ekelte. Wenn ich Krieger geworden bin, komme ich zurück und schlage die schwarze Dame tot. Ich hole Smetas Knochen da raus und begrabe sie in der Flussaue. Und niemand wird mich jemals mehr verprügeln können.

Beim Festessen im Dorf stopfte sich Norbert stumm und hastig ein paar Frikadellen in den Mund und schlich sich an den vollbesetzten Tischen mit Schlachteplatten, gekochtem Kohl, duftendem Brot und Körben voller Früchte vorbei zum Hof seiner Familie. Lene rief ihn, aber er hörte nicht hin. Auch als der Vater wütend seinen Namen rief, reagierte er nicht. Er rannte ins Haus, lief zu seiner Schlafstelle, warf sich hin und zog sich die Decke über den Kopf.

Durch seine unruhigen Träume in dieser Nacht hallte wieder und wieder aus der Ferne das einsame Heulen der Wölfin herüber.

***

Herbststürme fegten das Laub von den Bäumen. Der Regen peitschte über das Dorf und die Kinder wickelten sich Decken und Lumpen um, wenn sie Wasser vom Bach holen gingen und wenn sie an den späten Nachmittagen in der Dämmerung zu Lutz Torstensohns Scheune huschten. Um die Hütten heulte der Wind. Wenn die Hofgemeinschaft am späten Abend im flackernden Licht eines Kienspans vom Tisch aufstand und sich um die Herdglut versammelte, flüsterte die Mutter:

„Jetzt regt sich der alte Gornwald. Geht nicht hinaus, Kinder, geht nicht hinaus.“

Der Winter brach ein mit Schneestürmen und klirrender Kälte. In den Tagen vor Sonnenwend starb Ruthild, Kurt Morgners alte Mutter. Mit dem Beginn der Herbststürme hatte ein trockener Husten sie befallen, der sie beutelte und nicht schlafen ließ, aber dennoch schleppte die abgezehrte Alte noch bis zwei Tage vor ihrem Tod Tag für Tag Klaubholz aus dem Wald in ihrer Kiepe heran. Sie starb röchelnd im Fieber, ihr ausgetrockneter Körper war glühend vor Hitze. Mit Hacken hieben die Männer der Siedlung den gefrorenen Boden in der Flussaue auf. An Sonnenwend begruben die Wildenbrucher Ruthild Morgner und bedeckten ihr Grab mit frischen Tannenzweigen.

Drei Tage später begegnete Norbert ihr am Waldrand. Mit einer Fuhre Heu im Handkarren hatte er sich durch den dichten Neuschnee zum Schafgatter gequält und den Schafen das Heu in den Verschlag gebracht. Sie drängten sich blökend um ihn. Es dämmerte bereits und er hatte keine Lust, zum Hof zurückzugehen, wo es doch nur noch mehr Arbeit vor dem Abendessen geben würde. Er stapfte ein paar Schritte in den Wald, wo der Schnee weniger hoch lag, ging auf und ab und klopfte sich die Wolljacke gegen die Kälte. Da sah er sie.

 

Lautlos, mit demselben mühseligen Schritt wie zu Lebzeiten schleppte die dürre Alte sich heran, in denselben Lumpen wie früher, so viel Klaubholz auf ihre Schulterkiepe gebunden, wie die gerade noch fassen konnte. Langsam schwankte sie mit ihrer Last heran. Norbert konnte das blasse, vom Bluthusten ausgezehrte Gesicht erkennen. Eine Flut von Mitleid überkam ihn. Er trat an die Erscheinung heran.

„Warum schleppst so dich so ab, Ruthild? Warum bist du nicht bei deiner Familie? Großmutter war doch auch im Lehnsessel bei uns, als sie tot war.“

Ohne ihn zu beachten schlich die Alte vorbei. Ein hohler, dünner Schrei ließ Norbert das Blut in den Adern gefrieren. Er spürte seine Haare sich sträuben. Zittern überkam ihn. Die Alte war nicht mehr da.

***

Beim Abendessen in der dunklen Wohnküche sagte Norbert in die Stille hinein: „Ich glaub, das wird ein langer Winter. Wir brauchen wohl viel Feuerholz.“

Das Klappern der Holzlöffel, das Schmatzen und Kauen am Tisch erstarb. Norbert spürte Leikas Blick. Ihr vom Kienspan schütter beleuchtetes Gesicht wirkte streng und blass. Die Mutter murmelte ein Gebet an die schwarzen Dame.

Grade die wird dir helfen, den Winter zu überstehen! dachte Norbert wütend.

„Das kannst du ja gar nicht wissen!“ schrie Lene. „Erzähl nicht immer solche Gruselmärchen!“

Der Vater nahm seinen Löffel wieder auf und schlürfte schmatzend seine Kohlsuppe. Als alle wieder zu essen begonnen hatten, deutete er drohend mit dem Löffel auf Norbert.

„Du bummelst bei der Arbeit. Da kommen dir dumme Träume. Ich will kein Wort mehr davon hören!“

Norbert blickte auf seine Suppenschale. Hinter seinen Augen brannte die Wut. Er blinzelte, damit ihm keine Tränen kamen.

Als die Hofgemeinschaft vom Tisch aufstand, um sich um den Herd zu setzen, trat der Vater Norbert in den Weg.

„Norbert, komm einmal mit.“

Norbert blickte verzweifelt nach Leika, aber die wandte ihm den Rücken zu. Norbert zog die Schultern hoch in Erwartung von Schlägen gegen Ohren und Nase, als er dem Vater vor die Tür folgte.

Bitte, lass ihn nicht den Stock nehmen. Nicht den Stock!

Draußen pfiff der Wind in der Nachtschwärze. Hans Lederer zog die Haustür von außen zu, beugte sich zu Norbert herunter und griff ihn bei den Schultern. Norbert kniff die Lippen zusammen und schloss die Augen.

Eines Tages zahl ich ihm das heim! Alles!

„Wer hat dir das gesagt?“

Norbert hatte so sehr mit Prügel gerechnet, dass er die Frage nicht verstand.

„Was?“

„Stell dich nicht dumm! Wer hat dir gesagt, dass der Winter hart wird?“

Vaters Stimme war ernst, nicht wütend. Norbert starrte ihn an. Er konnte nur stottern.

„Du... du hast gesagt, ich darf nicht...“

„Nicht vor den anderen, du Esel! Raus mit der Sprache! Oder muss ich es aus dir herausprügeln?“

Norbert holte Luft. Was um alles in der Welt wurde von ihm erwartet? Er schluckte einen Kloß hinunter.

„Die Ruthild Morgner.“

„Wann?“

„Vorhin, heute Abend. Sie ist aus dem Wald gekommen, mit so einer großen Kiepe Holz auf dem Rücken und ist an mir vorbeigegangen. Und hat ganz schrecklich gekreischt.“

Der Vater ließ ihn los und richtete sich auf. Norbert hörte ihn heftig atmen. Dann wandte Hans Lederer sich zur Tür.

„Kein Wort davon da drinnen – zu niemandem, hörst du?“

Der Vater wartete auf keine Antwort. Er riss die Tür auf und ging hinein. Norberts Herz schlug heftig, als er dem Vater hinterher in die Wohnküche stolperte. Er wusste kaum, wie ihm geschah. Die betroffenen Augen der Hofgemeinschaft starrten ihn an. Als der Junge sich unversehrt auf die Bank neben Lene setzte, entspannten sich die Gesichter.

„Beorn kann gut erzählen,“ brummte der Vater, dem Sigurd mit ihren schmalen, blassen Händen hastig einen Krug Bier eingoss.

„Erzähl den Kindern von den Vorfahren, Beorn. Erzähl die Sage von Beowulf.“

Während Beorn von Hrothgars Halle erzählte und von giftigen Dämonensümpfen, tastete Lene vorsichtig nach Norberts Hand. Er nahm die Hand seiner älteren Schwester.

„Petra ist ja bei mir,“ flüsterte er ihr zu.

Obwohl er vorhin vor der Tür in der heulenden Nacht überhaupt nicht an das Püppchen gedacht hatte.

Am anderen Morgen machten der Vater und Onkel Beorn sich in den Wald auf, um Holz zu fällen.

***

Leika passte Norbert beim Heuschober hinter dem Haus ab. Wie am vorherigen Abend der Vater legte sie ihm die Hände auf die Schultern. Sie kniete sich zu ihm hinab und blickte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Lange betrachtete sie ihn mit diesen verwirrenden, ernsten Augen. Ihr Blick war Norbert unangenehm und er wand sich unter ihren Händen, aber sie ließ ihn nicht los. Endlich wurde ihr Gesicht milde.

„Siehst du, Norbert? Nun weißt du, wofür deine Gabe nützt.“

Norbert verstand gar nichts. „Wieso darf ich nicht darüber reden?“ Und trotzig fügte er hinzu: „Warum haben sie alle solche Angst vor den Toten? Aber den wirklich bösen Dämonen bringen sie Opfergaben!“

„Eben weil sie gefährlich sind – und mächtig. Glaub nicht, dass die Opfer nichts bewirken.“

Das einzige, was bewirkte, dass der Dämon nicht aus der Grotte herauskam, wenn Lebende zu nahe kamen, war Vaters Silberfibel, soviel war Norbert klar, wenn er auch nicht verstand, warum. Er dachte an das Ferkel, das Smeta der schwarzen Dame hatte opfern wollen.

Leika betrachtete Norbert ernst. „Wenn du älter bist, wirst du es verstehen. Denk daran: Deine Gabe ist gefährlich, aber du kannst sie zum Nutzen der Dorfgemeinschaft einsetzen. Und zu etwas anderem darfst du sie niemals einsetzen!“

Norbert blickte zur Seite. Er biss die Zähne zusammen. Er hatte der Smeta helfen wollen, aber niemand hatte das gewollt. Nicht einmal sie selbst.

Aber er murmelte doch: „Ja.“

Und wenn auch nur deshalb, damit Leika ihn in Ruhe ließ.

Obwohl Hans Lederer der Hofgemeinschaft verboten hatte, über das Vorgefallene zu sprechen, verbreitete sich die Nachricht, Norbert habe einen ungewöhnlich strengen Winter vorhergesagt, wie ein Lauffeuer im Dorf. Jeden Tag war im Wald um die Auenniederung das Schlagen der Holzfälleräxte zu hören. Kränze für die schwarze Dame wurden geflochten und in der Klamm vor der Grotte niedergelegt. Gerlinde Hüttner wusste sogar zu berichten, dem von den armen Brüdern gesegneten Norbert sei die heilige Mutter von Altenweil in Gestalt einer weißen Hirschkuh erschienen und habe ihm den schlimmen Winter vorausgesagt. Bald stand für die Wildenbrucher fest, dass die heilige Mutter von Altenweil den Siedlern zu Hilfe gekommen war, den Winter zu überstehen. Der Vater und Leika schwiegen. Die Mutter betrachtete Norbert stolz, fuhr ihm wieder und wieder durchs Haar.

„Bist ein guter Junge,“ murmelte sie.

Nur Norbert wusste, dass die Heilige von Altenweil keine Mutter war, sondern ein junges Mädchen und dass Rehe und Hirsche nicht zu ihren Lieblingstieren gehörten. Aber er hielt den Mund, um seinen Vater und die anderen nicht zu reizen. Sie hätten ihm sowieso nicht zugehört.

***

Auf Lutz Torstensohns Heuboden verkündete Ulrich atemlos, der als letzter der Gefährten heraufgekommen war:

„Ich hab in unserem Schober ein Katzennest mit Babys entdeckt. Die können wir totmachen. Kommt schnell, sonst trägt ihre Mutter die Katzenbabys weg!“

Hastig kletterten die Kinder die Leiter hinunter.

„Norbert, komm, und lösch den Kienspan!“ rief Roderig von unten.

„Ich mach doch keine Katzenbabys tot,“ sagte Norbert, der nicht im Traum daran dachte, aufzustehen.

Maja blieb neben ihm sitzen. Norbert kramte eine Dörrpflaume aus seiner Tasche.

„Hier, das ist meine letzte. Du kannst die Hälfte haben.“

Maja biss von der Dörrpflaume ab und gab den Rest Norbert zurück.

„Dein Vater verprügelt dich noch ganz böse, wenn du immerzu Süßigkeiten klaust.“

Norbert zuckte mit den Achseln. „Der verprügelt mich ja eh.“

Er steckte sich die Pflaume in den Mund und lutschte um den Kern herum. Er schaute Maja an. Im Licht des Kienspans waren ihre Augen dunkel und schön.

„Wolltest du keine Katzenbabys totmachen gehen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du nicht hingehst...“

Eine Weile saßen sie nebeneinander und schmeckten das mürbe Fruchtfleisch.

Maja blickte auf den glimmenden Kienspan. „Stimmt das mit der Hirschkuh? Ich meine...“

Norbert spuckte den Kern aus. „Ach! Die Gerlinde Hüttner spinnt. Die Ruthild Morgner ist an mir vorbeigegangen, als sie vier Tage tot war. Mit so einer großen Kiepe Holz auf dem Buckel. Ich dachte, Vater prügelt mich dafür tot, dass ich wieder einen Totengeist gesehen hab. Aber er hat nur wissen wollen, was ich gesehen hab. Und ich darf nicht drüber reden.“

Maja schaute ihn an. „Mir hast du‘s jetzt erzählt.“

„Dir würd‘ ich alles erzählen. Und du verpetzt mich ja auch nicht.“

„Nein.“

Sie nahm seine Hand. Ihr Gesicht wurde eine Spur dunkler.

„Ich... ich hab drüber nachgedacht. Es macht wirklich nichts aus, dass ich keine Schmalzkuchen backen kann.“

Norbert wurde es ganz warm. Er rückte nah an sie heran. Er wollte sie küssen, wie er sich mit dem Mädchen auf dem Markt von Altenweil geküsst hatte, aber kaum hatte er ihre Lippen mit dem Mund berührt, zog sie den Kopf weg. Lange saßen sie und hielten sich an der Hand.

„Maja, ich glaub, ich hab dich sehr lieb,“ flüsterte Norbert.

***

Die Vertrautheit zwischen den beiden fiel bald auf.

„Maja und Bert! Maja und Bert!“ riefen die Kinder neckend, wenn die zwei sich beim Treffen der Gefährten zur Begrüßung an den Händen nahmen.

Maja streckte den Spöttern die Zunge heraus. In solchen Momenten spürte Norbert dieselbe Wärme, die er mit Maja oben auf dem Heuboden gespürt hatte. Es war etwas völlig Neues. Er genoss diese Momente.

„Hast du dich verliebt?“ fragte Lene eines Abends höhnisch beim Rückweg durch den tiefen Schnee zum väterlichen Hof.

„Na und?“ antwortete Norbert zähneklappernd.

„Du weißt ja gar nicht, ob du sie später überhaupt heiraten kannst, oder ob ihr Vater sie einem anderen gibt,“ belehrte Lene ihren kleinen Bruder.

„Das werden wir ja sehen,“ konterte Norbert. „Und außerdem wird die Maja schon selber wissen, wen sie heiraten will und wen nicht.“

„Du verstehst ja von solchen Sachen noch gar nichts!“

Norbert blickte seine Schwester herausfordernd an.

„Hast du dich denn schon mal mit einem Jungen geküsst?“

„Gib nicht so freche Antworten!“ schrie sie. „Ich geb dir gleich eine Ohrfeige!“

Norbert schwieg. Innerlich triumphierte er.

***

Mitte Januar setzten heftige Stürme ein. Durch die Wohnküche zog eisige Kälte, trotz des stetig brennenden Herdfeuers. Der Sturm rüttelte an Türen und Fensterläden, pfiff unter dem Strohdach hindurch. In den seltenen windstillen Stunden war das Krachen vor Kälte berstender Baumäste in der Dunkelheit zu hören. Nur wenn der Sturm sich für kurze Zeit legte, schaufelten Vater und Onkel Beorn die Schneewehen vor der Haustür beiseite und gingen, um Heu für die Tiere und Feuerholz vom Stapel hinter dem Haus zu holen. Kühe, Schafe, Ziegen und Schweine waren in der hinteren Hälfte der Wohnküche vergattert. In den unverputzten Bretterställen wären sie erfroren. So brachten die Tierleiber zusätzliche Wärme in den Raum.

Das im Sommer gefällte und getrocknete Holz war längst verbraucht. Die neu geschlagenen Scheite entflammten nur schwer und die Hofgemeinschaft hatte alle Mühe mit dem Anblasen und Unterhalten des Herdfeuers. In Decken gewickelt und mit vor Kälte klammen Fingern hockten die Familienmitglieder um die schwelende Glut. Beißender Qualm und Harzdampf füllten den Raum.

Norbert fror erbärmlich. Er mochte sich überhaupt nicht von der Herdeinfassung wegbewegen. Die Füße schmerzten ihm vor Kälte und seine Finger waren blau gefroren. Kaum konnte er die Breischale in den Händen halten. Immerzu hatte er Hunger. Er zählte die Stunden bis zur nächsten, jedes Mal zu knappen Mahlzeit. Er mochte nicht reden, selbst dann nicht, wenn Lene zähneklappernd schimpfte, weil er sich nicht an irgendwelchen Arbeiten beteiligte. Auch Lenes Gesicht war blass und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Norbert erzählte niemandem, dass die Großmutter wieder erschienen war. Stumm und voller Sorge blickte sie aus der dunklen Ecke neben der Kammertür nach ihrer Familie.

 

Erst Wochen später flauten die Stürme ab. Die Kälte wurde eine Spur milder. Wildenbruch war im Schnee versunken. Die Männer schaufelten Wege zwischen den Höfen durch den Schnee, aus dem lediglich die Hüttendächer noch herausragten. Wenn über Mittag die Sonne durchbrach, krochen die Wildenbrucher aus ihren Hütten in die Wintersonne. Es war eine Erlösung nach der dunklen, bitteren und verrauchten Kälte in den Hütten.

Sobald die ersten Pfade geschaufelt waren, machte sich Norbert auf zum Hof Björn Feldnersohns. Maja kam ihm auf halbem Weg entgegen. Sie sah blass und verhärmt aus und auch ihre Finger waren blau, die aus der um ihren Leib geschlungenen Filzdecke hervorlugten. Stumm umarmten sich die Kinder. Norbert gab Maja einen Kuss auf den Mund und sie ließ es zu.

„Ich wusste, dass du nicht erfrieren würdest,“ hauchte sie. „Deshalb bin ich auch nicht erfroren.“

Norbert nickte. Er konnte nicht sprechen, so warm wurde es ihm in der Brust.

„Tante Silke ist gestorben,“ flüsterte Maja. „Sie war doch schwanger mit dem ersten Kind von Gerd Mühlhäuser. Sie hat die ganze Zeit geweint vor Kälte und wollte von niemandem mehr etwas wissen, nicht mal von Gerd, obwohl der ganz lieb zu ihr war und ihr fast sein gesamtes Essen gegeben hat. Die Wehen kamen ganz plötzlich. Sie hat eine Fehlgeburt gehabt. Ich wusste nicht, dass da so viel Blut kommt. Dann ist sie gestorben. Der Gerd Mühlhäuser hat kein Wort mehr gesagt seitdem.“

Maja sah Norbert mit Tränen in den Augen an. „Und sie konnten sie doch nicht begraben in dem Sturm. Sie haben sie in eine Decke gewickelt und hinter die Hütte gelegt.“

Norbert schlang die Arme fest um das Mädchen.

„Es gibt so schlimme Sachen, Maja.“

Sie zog durch die Nase hoch und nickte.

„Wenn wir groß sind, werde ich ein Held, so einer wie Beowulf. Dann räche ich all das Böse.“

Maja drückte sich eng an Norbert.

„Bert, wenn Kinder bekommen so schlimm ist, will ich nie schwanger werden, nie!“

Lange hielten die Kinder sich in den Armen.

Drei Tage brauchten die Männer der Siedlung, um unten in der Flussniederung eine Stelle vom Schnee freizuräumen und in die steinhart gefrorene Erde ein Grab zu schlagen. Die Wildenbrucher setzten den gefrorenen Leichnam der Silke Mühlhäuser bei und füllten die Grube mit Tannenzweigen auf.

***

An einem der kommenden Abende hielt der Vater Norbert nach dem Abendessen an. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Nimm deinen Filzüberwurf und komm mit.“

Norbert durchfuhr der Schreck.

Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?

Seine Hand tastete nach dem Holzpüppchen in seiner Hosentasche, während er sich mit der anderen Hand die Filzdecke umschlang. Vater öffnete die Tür und schob ihn hinaus in die Dunkelheit.

„Was hab ich denn getan?“ rief Norbert.

„Unsinn! Ich will dir etwas zeigen. Komm mit.“

Der Vater schritt durch den tiefen Schnee zwischen den Hütten hindurch. Verdutzt bemerkte Norbert, dass er den Dolch an der Seite trug, den er auf der Fahrt nach Altenweil dabeigehabt hatte. Norbert zitterte vor Kälte, während er Vaters schwarzer Silhouette nacheilte. Verzweifelt fragte er sich, was geschehen würde. Der Vater ging zur Flussaue hinunter. Neuschnee war gefallen und sie kamen nur mühsam voran. Ein Haufen aus Tannenzweigen tauchte aus der Dunkelheit im Schnee auf. Erst als sie ihn beinahe erreicht hatten, begriff Norbert, dass es sich um das Grab der Mühlhäuserin handelte.

Sie stand neben ihrem Grab. Im Grau der Wolkennacht war sie nur als Schatten auszumachen. Verkrümmt kauerte sie in der Dunkelheit, als wände sie sich unter Schmerzen. Auf ihrem Wollkleid waren dunkle Flecken.

Norbert blieb wie angewurzelt stehen.

„Siehst du sie?“ hörte er Vaters grimmige Stimme.

Er konnte nicht antworten. Der dunkle Schemen wandte sich ihm zu. Die zwei blassen Flecken im Kopf konnten nur ihre aufgerissenen Augen sein. Die blinden Augäpfel starrten ihn an. Norbert wollte schreien, weglaufen, aber er konnte sich nicht rühren. Er bekam keinen Ton heraus. Hinter dem Grab wich die Nacht einem blauen Halblicht. Die Gestalt schleppte sich Norbert entgegen. Ein gequälter Ton lag in der Luft. Er hatte keine Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme. Weiße, lange Finger krallten nach Norbert. Eisige Kälte hauchte ihn an.

Flieh, lauf weg, sie zieht dich hinab!

Aber seine Glieder gehorchten ihm nicht.

Eine rasche Bewegung an Norberts Seite. Er meinte, Vaters Dolch aufblitzen zu sehen. Ohrenbetäubendes Krachen. Blendende Helle. Norbert taumelte zur Seite. Er konnte sich wieder bewegen. Einen Moment musste er blinzeln, ehe er wieder etwas sehen konnte. Der Geist war verschwunden. Die Auenniederung lag in grauer Nacht. Der Vater stand zwei Schritt neben ihm und hielt sich die Hand mit dem glühenden Dolch, als hätte er Schmerzen. Mit stockendem Atem starrte Norbert den Vater an. Hans Lederer steckte seinen Dolch in die Scheide zurück und richtete sich auf.

„Das war dir wohl eine Lehre! Sie sind gefährlich, verstehst du? Jetzt wirst du vielleicht endlich klug werden!“

Der Vater drehte sich um und stiefelte dem Dorf zu. Mit Tränen in den Augen stolperte Norbert ihm nach. Auf halbem Weg wartete der Vater auf ihn. Er legte Norbert seine schwere Hand auf die Schulter.

„Wir Siedler müssen zusammenhalten. Wenn du später deinen eigenen Hof gründen willst, mit der Maja Feldnersohn von mir aus, dann musst du klug sein. Eines Tages wirst du meinen Dolch und meine Fibel erben. Dann musst du das Dorf beschützen, Norbert!“

Norbert konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

„Ja,“ flüsterte er.

***

Bis weit in den März hinein blieb der Schnee liegen. Mehl und Trockenfrüchte wurden knapp. Morgens wie abends gab es dünne Scheiben Dörrfleisch mit einer winzigen Portion gekochtem Kohl oder Bohnen. Das zähe Fleisch war Norbert zuwider. Obwohl er Hunger hatte, brachte er es kaum hinunter. Wenn Mutter wenigstens ein bisschen mehr Salz zum Essen geben würde!

Jeden Abend vor Sonnenuntergang trafen sich die Wildenbrucher Kinder am Dorfausgang nahe dem Wald, machten Feuer und rösteten Kastanien, die sie im Herbst gesammelt und versteckt hatten. Manchmal mussten sie vor Wildschweinen Reißaus nehmen, die auf der Suche nach Nahrung nahe ans Dorf kamen.

Immer seltener hörte Norbert das Heulen der Wölfin in seinen Träumen. Wenn er Maja während der Arbeit im Dorf begegnete und sie eine kurze Strecke Hand in Hand gemeinsam gingen, vergaß er die schwärende Wut, die ihn früher überallhin begleitet hatte. Auch den Vater betrachtete er mit anderen Augen.

Wenn ich erwachsen bin, ging es ihm durch den Kopf, werde ich unser Dorf vor den Dämonen beschützen, wie Beowulf Hrothgars Halle vor Grendel beschützt hat.

Als das Tauwetter einsetzte, verschwand die Wölfin ganz aus Norberts nächtlichen Träumen.

Die Schneemassen verwandelten sich in Bäche und Schmelzwasserlachen. Die Gorn trat über die Ufer, die Auenniederung versank im Strom, aus dem die Stämme der Erlen und Eschen herausragten. Der Felsenbach schwoll an zum gurgelnden, reißenden Sturzbach, der sich schäumend ins schmutzige Wasser der Gorn ergoss. Das Dorf versank im Schlamm. Die Wildenbrucher legten Knüppelpfade aus Zweigen und Brettern zwischen den Hütten an, um nicht im knietiefen Morast zu versinken.

Die Männer begannen, Koppelzäune und Ställe zu reparieren. Die Schafe wurden geschoren. Frauen und Mädchen filzten und spannen Wolle. In allen Höfen wurden Frühlingslieder gesungen. Obwohl die Wildenbrucher unter Hunger und Krankheit litten nach dem Winter, lag Heiterkeit auf ihren blassen Gesichtern in Erwartung des nahen Frühlings.