Mythos, Pathos und Ethos

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In Berlin lag Spannung in der Luft, gemischt mit einer gespenstischen Ruhe. Sieben Jahre lang hatte Rot-Grün regiert gehabt, es würde wohl ziemlich lange dauern, bis so ein Bündnis wieder eine Mehrheit bekommen würde, wenn es je überhaupt noch einmal dazu kommen sollte. Alles war gesagt, nun konnte man nur noch warten, die erste Prognose würde zeigen, wohin das Pendel ausschlug. So eine Wahl war im Grunde nichts Anderes als Geschlechtsverkehr. Der Wahlkampf war das Vorspiel, die Wählerinnen und Wähler wurden angesprochen, heiß gemacht, zum Vorglühen gebracht, doch erst am Wahltag fand das Eindringen statt, nämlich dann, wenn die Stimmzettel in die Wahlurne geworfen wurden. Die Prognose stellte den ersten Höhepunkt des Wahlabends dar, manchmal reichte es da schon zum Orgasmus, ab und zu dauerte es aber auch bis zu den ersten Hochrechnungen. Welche Anhänger würden ihre Freude am 18.09.2005 am lautesten herausschreien, wer würde das deutsche Volk glücklich machen dürfen? CDU/CSU, oder die SPD, am Ende gar die FDP, vielleicht sogar die Grünen oder womöglich die unberechenbare Linke!

In Bayern gingen sowohl die Uhren als auch die Huren anders, deshalb kam es dort auf andere Gesichtspunkte an. Daß die CSU gewinnen würde, stand, wie immer, schon im Vornherein fest, es ging lediglich darum, wie hoch ihr Sieg dieses Mal ausfallen sollte. Die SPD hoffte darauf, nicht zu stark abgewatscht zu werden und die kleinen Parteien wünschten sich Ergebnisse von über fünf Prozent, auf denen die eigenen Bundesparteien dann als Fundament für das restliche Deutschland aufbauen konnten. Mittlerweile sah man es als strategischen Fehler an, daß sich Egmont Sträuber vor der Wahl nicht auf ein Ressort festlegen hatte wollen. Seine Taktik, quasi als Co-Kanzlerkandidat mitzumischen, war grandios gescheitert, doch nun kam es in erster Linie darauf an, viele Stimmen auf die Waagschale zu bringen und die FDP hinter sich zu lassen, denn sonst hatte man am möglichen zukünftigen Kabinettstisch nur wenig zu sagen. Der Wahltag konnte kommen und er stand auch schon vor der Tür. Würde die Union nach sieben Jahren in der Opposition wieder an die Regierung kommen oder sollte es Andrea Gerkel tatsächlich gelingen, einen sicher geglaubten Wahlsieg noch zu verspielen? Es hatte vor einigen Monaten Wahlumfragen gegeben, in denen der Union die absolute Mehrheit der Mandate zugetraut worden war. Bei 48 % der Wählerstimmen hatte sie seinerzeit gestanden, die SPD dagegen gerade mal bei 24 Prozent. Doch das war verdammt lange her.

18.09.2005: Und dann das! Und dann was? Eine Explosion, ein politisches Erdbeben, eine Katastrophe für die Einen, für die Anderen ein Abend im Glück. Was war passiert? Wozu gab es Meinungsumfragen, wenn sie rein gar nichts mit dem Wahlergebnis zu tun hatten? Die ersten und schlimmsten Verlierer des Wahlabends waren zweifellos die Demoskopen, dicht gefolgt von CDU/CSU. 35,2 Prozent der Stimmen, gerade mal 0,1 % besser als Hartmut Fohl bei seiner Abwahl 1998 und der hatte noch mehr Stimmen eingesackt gehabt, da es damals eine höhere Wahlbeteiligung gegeben hatte. Das war nicht nur ein Trauerspiel, sondern eine Blamage. Aber warum eigentlich? Die Union lag vor der SPD, die es auf 34,3 % gebracht hatte, war demnach stärkste Fraktion im Bundestag und konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler, beziehungsweise die Kanzlerin, stellen. Wo also war das Problem? Nun ja, zunächst einmal hatte man mit einem starken Stimmenzuwachs, zumindest prozentual, gerechnet gehabt, aber nicht mit Verlusten. Außerdem hätte es niemand bei CDU/CSU für möglich oder überhaupt denkbar gehalten, daß die SPD nicht einmal einen Prozentpunkt hinter den eigenen Parteien liegen würde. Daß man quasi nur an der Spitze stand, weil die Konkurrenz ein bißchen mehr verloren hatte als man selbst. Hinzu kam, daß es zusammen mit der FDP für eine schwarz-gelbe Koalition nicht reichen würde und das war ja auch eines der wichtigsten Wahlziele gewesen. Immerhin 9,8 Prozent der Wählerstimmen hatten die Liberalen erreicht gehabt, doch zusammen kam man nur auf 45 % und die drei anderen Parteien zusammen auf gut 51 Prozentpunkte, von daher war der Rückstand schon ziemlich deutlich. Klar, Schwarz-Gelb lag über zweieinhalb Punkte vor Rot-Grün, aber da die Linkspartei mit 8,7 Prozent der Wählerstimmen ebenfalls ins Parlament eingezogen war, spielte das alles keine Rolle mehr. Wie war so etwas Schreckliches nur möglich?

Nun ja, fest stand, daß etliche Unionsanhänger die FDP gewählt hatten, um eine Große Koalition zu verhindern und Schwarz-Gelb zu ermöglichen. Der Schuß war allerdings eindeutig nach hinten losgegangen. Zwar freuten sich die Freien Demokraten über ein tolles Ergebnis, doch das brachte ihnen nichts, denn da sie von einer Ampel (eine Koalition mit Rot-Grün) nichts wissen wollten und die Grünen wiederum mit der Schwampel (schwarze Ampel oder Jamaika-Koalition = CDU/CSU, FDP und Grüne) nichts anfangen konnten, lief alles auf eine Große Koalition von Union und SPD hinaus. Hatten die Wähler das gewollt?

Davon ist schwer auszugehen. Rot-Grün wollten die Menschen nicht länger als Regierung haben, Schwarz-Gelb auch, beziehungsweise noch nicht. Von daher blieb nur die Große Koalition übrig, so einfach war das manchmal im Leben.

Die SPD freute sich ohne Ende, denn sie war auferstanden aus Meinungsumfragenruinen und hätte beinahe noch die Union überholt, man hatte wirklich alles rausgeholt, was überhaupt möglich gewesen war. Die Grünen waren ebenfalls zufrieden, mit 8,1 Prozent der Stimmen hatten sie sich wacker geschlagen und die Linken waren mit 8,7 % souverän in den Bundestag eingezogen, hatten sowohl Schwarz-Gelb als auch Rot-Grün verhindert und konnten davon ausgehen, bei den nächsten Wahlen weiter zuzulegen, sofern es im Bund zu einer Koalition aus Union und SPD kam, was als ziemlich wahrscheinlich galt.

Nur in Bayern war mal wieder eine Welt zusammengebrochen. Die CSU hatte ihr Wahlziel 50 plus X nicht erreicht, es waren gerade mal 49,3 % geworden und das sorgte schon für Fassungslosigkeit sowie Kopfschütteln in den eigenen Reihen. Sträuber bekam eine Mitschuld aufgebürdet, doch davon wollte Meister Ege selbstverständlich überhaupt nichts wissen. Er verwies auf die schwachen CDU-Wahlergebnisse in den ganzen anderen Bundesländern und hob hervor, daß die CSU zehn Prozent vor der zweitplatzierten CDU aus Baden-Württemberg und fast 30 Prozent vor der Brandenburger CDU, welche unionsintern auf dem letzten Platz gelandet war, lag. Leihstimmen an die FDP hätten den Ausschlag für das eigene bescheidene Wahlergebnis gegeben, hieß die offizielle Sprachregelung, diese unverschämten taktischen Wähler hatten der großen Bayernpartei mal wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn man ganz ehrlich war, dann mußte man durchaus zugeben, daß jene Erklärung ziemlich schlüssig daherkam. Eine Gerkel konnte halt als Kanzlerkandidatin nicht so mobilisieren wie ein Sträuber, das hatte man ohnehin schon vorher gewußt gehabt und war nun eindrucksvoll bestätigt worden. Aber bitter war es für die CSU-Granden schon, daß die eigene Partei mit 7,4 % der Stimmen bundesweit auf dem letzten Platz aller im Parlament vertretenen Parteien gelandet war. Nichtsdestotrotz tat Sträuber so, als wolle er dennoch als Minister nach Berlin gehen und es gab viele Leute in der CSU, die ihn so schnell wie möglich aus Bayern draußen haben wollten und wenn er als "Staatssekretär im Entwicklungshilfeministerium" landen würde, Hauptsache er verzog sich endlich.

Schräder hatte in der "Elefantenrunde" am Wahlabend einen großen Auftritt hingelegt gehabt, er hatte die Medien und die Demoskopen kritisiert und klargemacht, daß er deutscher Bundeskanzler bleiben wolle und werde. Andrea Gerkel sah aus wie eine Frau, die gerade noch dem Tod von der Schippe gesprungen war und Guildo Festerbelle hatte dieses zufrieden dämliche Grinsen im Gesicht, das so viele Aggressionen in der Bevölkerung hervorrief. Schräder rüpelte und bluffte, er glaubte wirklich noch an seine Chance, die anderen Teilnehmer der Runde hielten sich eher zurück und so hatten die Leute in Deutschland am nächsten Tag so einiges, worüber sie ausführlich diskutieren konnten, wenn sie denn wollten. Ungläubiges Staunen, made in Germany.

Bernd und sein Außenminister trafen ein letztes Mal im Kanzleramt aufeinander. "Hallo Ansgar, alte Mischerhaut, na, das Wahlergebnis gut überstanden?" erkundigte sich Schräder gönnerhaft. "Ich glaube schon. Erst einmal Glückwunsch zu Deiner furiosen Aufholjagd, schade, daß es nicht ganz gereicht hat, aber jetzt kommt es wenigstens nicht mehr auf diese Nachwahl in Dresden an, weshalb ich endlich Urlaub machen kann. Ich wollte mich nur noch von Dir verabschieden, weil ich mich jetzt aus der Politik zurückziehen werde", erklärte der Grüne. "Ach, tatsächlich, na ja, irgendwie kann ich das schon nachvollziehen, wieder in die Opposition gehen macht ja auch keinen Sinn, wenn man sieben Jahre lang Minister gewesen ist." "Absolut. Und was wird aus Dir?" "Keine Ahnung. Meine Sozialdemokraten sind ja so was von stolz auf mich und dermaßen begeistert von unserem Wahlergebnis, daß die mich auf der Stelle zu ihrem König krönen würden, wenn sie nur könnten." "Das freut mich, aber perspektivisch betrachtet wird es ja wohl doch eine Große Koalition werden." "Das wissen wir doch alle, aber wir werden für die SPD so viel rausholen, wie nur irgend möglich." "Das kann ich mir gut vorstellen. Na dann, viel Erfolg und alles Gute." "Dir auch, alter Freund."

Weniger freundschaftlich ging es im Hause Sträuber zu. Egmont wütete und giftete in einer Tour, er lief die ganze Zeit unruhig im Haus herum, bis er einmal fast versehentlich mit seiner Frau zusammengestoßen wäre, weshalb ihn jene fragte: "Was ist los mit Dir?" "Ach, die blöde Gerkel hat alles vermasselt. Da verliert die genau die gut drei Prozent, die ich vor drei Jahren dazu gewonnen hatte und dann wird die für so ein miserables Wahlergebnis wahrscheinlich auch noch mit der Kanzlerinnenschaft belohnt. Das Leben ist einfach nicht fair." "Aber freu Dich doch, daß Deine Union endlich wieder an der Regierung ist." "Na toll, zusammen mit den Sozen, etwas Schlimmeres gibt es eigentlich gar nicht, außer natürlich mit den Linken. Und was soll ich jetzt machen?" "Wie wäre es denn mit den Tisch decken?" "Sehr witzig, Kathrin, wirklich sehr witzig. Nachdem die CSU nicht mal 50 Prozent in Bayern erreicht hat, kann ich in den Koalitionsverhandlungen auch nicht auftrumpfen. Diese blöden Diebe von der FDP! Haben überhaupt keine Inhalte und Konzepte, aber fleißig Stimmen klauen, das können sie, diese neoliberalen Schleimscheißer!" "Und ich dachte immer, die von der FDP wären Eure Freunde." "Das hatte ich bislang auch geglaubt gehabt, aber mittlerweile bin ich mir da nicht mehr so sicher. Was mache ich nur? Was mache ich nur?" "Du machst noch Löcher in den Teppich, wenn Du hier dauernd so herumläufst wie ein Huhn, dem sie den Kopf abgeschlagen haben." "Genau so fühle ich mich aber auch. Geh, Kathrin, laß mich allein, ich muß nachdenken." "Sagst Du heute denn gar nicht "Muschi" zu mir?" "Nein danke, mir ist heute nicht nach Gerkeleien, äh, Ferkeleien. Ein andermal wieder." Sie ging ihrer Wege und er grübelte stundenlang weiter im Kreis herum.

 

21./22./23.09.2005: Die beiden großen Volksparteien hatten nicht lange gezögert, sondern sogleich vollendete Tatsachen geschaffen. Sowohl Gerkel als als auch Mützewirsing wurden jeweils als Fraktionsvorsitzende in ihren Ämtern bestätigt, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wer Herr, beziehungsweise Frau, im eigenen Hause war. Das war durchaus bemerkenswert, schließlich stand ja noch die Nachwahl in Dresden an. Natürlich war die Stimmung bei der SPD wesentlich besser als bei der Union, doch unabhängig davon war jene die stärkste Partei geworden. Genau das aber zweifelten die Sozialdemokraten auf einmal an, indem sie darauf verwiesen, daß es sich bei CDU und CSU um zwei verschiedene Parteien handele, die sich zwar im Bundestag zu einer Fraktion zusammenschlössen, was ihnen ein Gesetz aus dem Jahre 1969 ermöglichte, aber demzufolge würde die SPD die stärkste Fraktion im Bundestag stellen. Jenes Manöver war natürlich leicht durchschaubar, zielte es doch in allererster Linie darauf, sowohl den Posten des Bundeskanzlers als auch den des Bundestagspräsidenten für sich beanspruchen zu können. Auf den Trick fiel verständlicherweise niemand herein und so ruderten die SPDler, die sich kurzzeitig als schlechte Verlierer sowie "Asozialdemokraten" präsentiert hatten, schnell wieder zurück. Es hatte sich bei der ganzen Geschichte noch einmal um jene Art von Muskelspielen gehandelt gehabt, mit denen Bundeskanzler Schräder bereits am Wahlabend unangenehm aufgefallen war. Jedoch gab es auch in der SPD Stimmen der Vernunft, wie etwa die des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Lowereit, der sich eine Große Koalition, ohne Schräder und unter Gerkel, durchaus vorstellen konnte. Schließlich ging aus dem Wahlergebnis zweifelsfrei hervor, daß CDU/CSU mehr Stimmen bekommen hatten als die SPD und schön langsam hielt jene Realität auch in den Köpfen der Beteiligten Einzug, auch wenn es vielen nicht recht paßte.

Die FDP befand sich in einer denkwürdigen, ziemlich beschissenen Lage. Man hatte zwar ein tolles Ergebnis erzielt gehabt, doch dafür konnte man sich auch nichts kaufen, weil es für Schwarz-Gelb bekanntlich nicht reichte. Bei etlichen Liberalen reichte es wenigstens noch für Schwarzgeld, das war zwar nur ein schwacher Trost, aber immerhin. Guildo Festerbelle erwies sich einmal mehr als der unsympathische Autist, der sich die Welt so bastelte, wie sie ihm gefiel. Das Wahlergebnis ebenso ignorierend wie etliche Sozialdemokraten, wollte er eine Art Koalitionspapier von FDP und Union vorlegen, in der Hoffnung, die Grünen würden dem zustimmen und daraufhin das Dreier- (beziehungsweise Vierer-) Bündnis (kam ganz darauf an, ob man die CSU als eigenständige Partei betrachtete oder nicht) mit der Union und den neoliberalen Wirtschaftsarschkriechern wagen. Außerdem griff Guildo nach dem Fraktionsvorsitz, den bislang noch Wilfried Leerhardt innehatte. Das war so eine Sache, denn jener sollte dem FDP-Parteichef erst zufallen, wenn der Wilfried Außenminister geworden wäre, also ein Tauschgeschäft sozusagen, das ja nach jenem Wahlergebnis nicht zustande kommen konnte. Leerhardt wollte sich nicht "wie ein Hund vom Hof jagen lassen" und betonte, das Wahlergebnis hätte "die FDP nicht allein Festerbelle zu verdanken". Das war unstrittig, doch der machtbewußte Dauerdrängler kannte kein Pardon und pochte weiter auf die Abmachung vor der Wahl, obwohl er seinen Teil von jener überhaupt nicht einhalten konnte. Immer schön autistisch bleiben.

Bei den Grünen ging es auch drunter und drüber, es galt die Fraktionsvorsitzenden zu bestimmen und da Mischer abgedankt hatte, fühlten sich auf einmal alle möglichen Leute dazu berufen, die Partei im Parlament anzuführen. Dazu gehörten selbstverständlich auch die beiden bisherigen Bundesminister Knast und Frittin, doch es gab da auch noch andere Bewerberinnen sowie Bewerber. Bei den Gleichberechtigungsfanatikern von den Grünen ging es selbstverständlich nicht nur darum, daß sowohl eine Frau als auch ein Mann an der Spitze der Fraktion standen, sondern es mußte auch deren politische Ausrichtung stimmen. Das sollte heißen, daß es nur einen Realo und eine Fundi, oder eine Reala und einen Fundi als Gespann geben konnte, alles Andere wäre für die Parteimitglieder unzumutbar gewesen, denn Ausgewogenheit war das A und O, sonst konnte man den Laden gleich zusperren und das hatte man mit acht Prozent Wählerstimmen nun wirklich nicht nötig, ganz im Gegenteil, kraftvolle Oppositionsarbeit war zu erwarten.

"Konfusion in der CSU", hieß es in der SZ und das selbstverständlich nicht ohne Grund. Die CSU-Landesgruppe war von 58 auf 46 Abgeordnete geschrumpft und würde fortan als kleinste Partei im Parlament fungieren. Das bedeutete immerhin, daß die CSU-Abgeordneten ihre kraftmeierische Arroganz, insbesondere gegenüber den CDU-Abgeordneten, ablegen würden, aber wohl fühlten sich die Bajuwaren nicht wirklich. Die Aussicht auf eine bevorstehende Große Koalition mit der SPD machte ihnen durchaus zu schaffen, denn in jener Konstellation würde die CSU nicht wirklich gebraucht werden und konnte sich deshalb auch nicht so viel erlauben. Dazu kam die immer gleiche, nervende und langweilende Frage nach der Zukunft von Parteichef Sträuber. Geht er? Bleibt er? Manche CSUler hätten ihren Egmont wohl am liebsten auf den Mond geschossen, im festen Glauben, von dort würde er bestimmt nicht mehr zurückkehren, aber das war dann irgendwie doch nicht möglich. Nun ja, so harrte man also gedrückter Stimmung der Dinge, die da noch kommen würden und hoffte insgeheim auf bessere Zeiten.

Ach ja und da war dann natürlich auch noch die Schuldfrage. Immer schön brav mit dem Stinkefinger auf die Anderen zeigen, so gehörte sich das. Sträuber machte deutlich, daß einzig und allein Kanzlerkandidatin Gerkel und ihr Generalsekretär Frauder für den Wahlkampf der Union verantwortlich gewesen waren und deshalb selbstverständlich die Hauptschuld an dem Desaster trugen. Zwar hatten auch Zuber und Öder von der CSU, die das Wahlprogramm geschrieben hatten, ihren Anteil an der Misere, doch das posaunte man lieber nicht so laut heraus. Die "kalte und herzlose Sprache" der Ost-Schnepfe hatte also die Wählerinnen und Wähler vergrault, so lautete die These des großen Egmontus. Aber so leicht ließ man ihn nicht davonkommen. Es gab Ärger wegen des Sträuber-Flirts mit den Grünen, da fast alle CSU-Politiker nicht mit denen koalieren wollten. Deswegen mußte er öffentlich Abbitte leisten und wieder zurückrudern. Intern verkaufte man das Ganze natürlich so, daß man so tun hätte müssen als ob man Schwarz-Gelb-Grün erwägen würde, damit die Liberalen nicht mit SPD und Grünen gemeinsame Sache machten. Es sah also alles immer mehr nach einer Großen Koalition aus, was die Menschen in Deutschland durchaus zu schätzen wußten.

Bei den Grünen wunderte man sich dagegen darüber, daß die Schwarzen und die Gelben plötzlich so nett und freundlich zu ihnen waren. Noch im Wahlkampf waren sie von jenen übelst beschimpft und auf das Heftigste angegriffen worden, doch auf einmal hörte man kein schlechtes Wort mehr über die "Müslifresser", über die insbesondere FDP-Chef Festerbelle nur allzu gerne gelästert hatte. Was war davon zu halten? Nun ja, man nahm es bei den Grünen zur Kenntnis, wollte es aber auch nicht überbewerten, denn politisch paßten die drei Lager einfach nicht zusammen und selbst wenn man eine Koalition miteinander versucht hätte, dann wäre die Basis der Grünen dagegen aufgestanden und hätte jene verhindert. Aus diesem Grund beschäftigte man sich lieber weiter mit sich selbst, in den kommenden Jahren der Opposition würde man dafür schließlich auch noch ausreichend Zeit dafür haben, deshalb auf sich selbst mit Gebrüll!

Der Streit um die Kanzlerschaft war zwar immer noch nicht gelöst, trotzdem sondierten Union und SPD miteinander. Die Aufspaltung der Unions-Fraktion war plötzlich kein Thema mehr und so traf man sich zu vertraulichen Gesprächen hinter verschlossenen Türen, um mal zu hören, was denn miteinander möglich wäre. Man merkte schon, daß es auf eine Große Koalition hinauslaufen würde, denn insbesondere in der CSU waren die Vorbehalte gegen ein Bündnis mit den Grünen viel zu stark, was vermutlich auch auf Gegenseitigkeit beruhte.

Sträuber hingegen hatte mächtig Ärger mit seinen Leuten. Die geigten ihm nämlich mal gehörig ihre Meinung und machten ihm klar, daß die Zeiten der selbstherrlichen Alleingänge seinerseits nun endgültig und ein für allemal vorbei waren. Nun mußte auch der große Sträuber erfahren, wie es war, wenn das eigene Stimmvieh aufbegehrte und sich wie ein störrischer Esel weigerte, brav in die Richtung zu marschieren, die man selbst vorgegeben hatte. Zwergenaufstand im Bayernland? Nein, ganz so einfach und so weit war es auch wieder nicht, aber die CSU-Abgeordneten bekamen in ihren Wahlkreisen selbstverständlich auch den Unmut der Wählerinnen und Wähler zu spüren, welchen sie dann ungefiltert an die Parteispitze weitergaben. Schließlich standen 2008 Kommunalwahlen an, die man siegreich bestehen wollte, von der Landtagswahl im September 2008 ganz zu schweigen. Egmont spürte, daß er aufpassen mußte, um nicht unterzugehen.

Was aber hatten die Meinungsmacher zu der ganzen Chose zu sagen? Ein Redakteur der Schild-Zeitung traf in einem Nobelrestaurant zufällig auf einen Kollegen von der FZA. "Hallo Frank. Na, freust Du Dich auch schon auf die Große Kotzbrockenkoalition?" forschte der Mann von der Boulevardpresse. "Aber selbstverständlich. Natürlich gibt es da noch einen kleinen Teil in mir, der die Hoffnung auf eine Jamaika-Koalition noch nicht aufgegeben hat, aber mit den bayerischen Bierdimpfeln ist so etwas wohl leider nicht zu machen", glaubte der Mann von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Ja, die Bayern mal wieder, die versauen einfach alles. Die SPDler haben es ja momentan ganz schön auf uns Medien abgesehen, von daher habe ich eigentlich keine Lust darauf, denen ihre Nasen in Ministerämtern betrachten zu müssen." "Und wenn schon? Schlimmer als unter Rot-Grün kann es auch nicht werden. Gibt es eigentlich inzwischen eine Erklärung dafür, daß die Demoskopen dermaßen versagt haben?" "Na ja, die reden sich heraus, wenige Tage vor der Wahl hätte es schon fast so ausgesehen wie am Wahltag, aber da sie die letzte Umfrage neun Tage vor der Wahl veröffentlicht hatten, wäre das nicht mehr bekannt geworden." "Ach, immer diese Ausreden. Entscheidend ist doch etwas ganz Anderes: Zu keiner Zeit war in den Umfragen die Rede davon, daß das linke Lager auf 51 und das bürgerliche lediglich auf 45 Prozent der Stimmen kommen würde. In den ganzen letzten Wochen vor der Wahl war von einem Kopf-an-Kopf-Rennen die Rede gewesen, doch davon war am Wahlabend überhaupt nichts zu sehen." "Ja, die Meinungsforscher haben sich jedenfalls gewaltig blamiert. Genauso wie wir und unsere Kollegen übrigens auch, die wir Schwarz-Gelb quasi schon in die Regierung geschrieben hatten." "Selbstkritik bei der Bild, na das ist ja mal was ganz Neues. Wir haben doch auch nur mit den Zahlen gearbeitet, welche wir von den Umfrageinstituten bekommen hatten und denen zufolge lag die SPD die ganze Zeit über deutlich hinter der Union." "Das stimmt natürlich und ich bin fest davon überzeugt, daß genau jene Umfragen dafür gesorgt haben, daß viele Unionswähler zur FDP gewandert sind, um sicherzustellen, daß es für Schwarz-Gelb reicht." "D’accord. Aber das erklärt immer noch nicht, wohin die drei Prozent verschwunden sind, die zum Unentschieden fehlen. Das wäre doch mal eine Aufgabe für Euch investigative Bild-Journalisten." "Ach, ich weiß nicht so recht. Lieber sitze ich doch hier mit Dir in diesem Nobelschuppen und jammere auf höchstem Niveau. Schwarz-Gelb liegt so deutlich hinter Rot-Rot-Grün, daß nur eines feststeht: Die Leute wollten die Gerkel nicht als Kanzlerin haben." "Und genau aus dem Grund werden sie sie trotzdem bekommen." "Prost!" "Auf unser Wohl!" Daraufhin genossen sie den Wein und das Ambiente.

 

24.09.2005: Für die Genossen wurde es derweil langsam ernst. Aus einem Bündnis zwischen Union, FDP und Grünen schien nichts zu werden, man hatte sich zwar miteinander getroffen, höchstwahrscheinlich wenig bis nichts zusammen gesoffen und war mit der Feststellung auseinandergegangen, daß nicht zusammenwachsen sollte, was schlicht und einfach nicht zusammen gehörte. Deswegen blieb eigentlich nur noch die Große Koalition als Option, denn auf Neuwahlen hatte prinzipiell niemand so recht Lust. Das bedeutete, daß sich CDU/CSU und SPD alsbald wieder zusammensetzen würden, um über Inhalte zu sprechen und sich einander anzunähern. Zwar hatte man sich im Wahlkampf noch lautstark gegenseitig beschimpft, aber das gehörte nun mal zur Show dazu. Schließlich handelte es sich bei den Beteiligten ja um Profis, die schon wußten, welche Beleidigungen sie ernst nehmen mußten und wenn nicht, dann hatte man halt ein zwischenmenschliches Problem, es gab wahrlich wichtigere sowie schlimmere Dinge im Leben.

Zum Beispiel den Frauenaufstand in der Fraktion von "Die Linke". Dort hatten sich die älteren und jüngeren Herren gegenseitig die Posten zugeschanzt und hätten die holde Weiblichkeit am liebsten außen vor gelassen. Daß Afroträne und Fysi als Fraktionsvorsitzende gesetzt waren, war von Anfang an klar gewesen, doch auch der Platz des Bundestagsvizepräsidenten und der des Parlamentarischen Geschäftsführers sollte an die Schwanzträger gehen und das war aus der Sicht vieler Frauen in der Fraktion eine pimmelschreiende Ungerechtigkeit. Für die Drecksarbeit waren sie scheinbar gut genug, so wie die beiden Trümmerfrauen Pfau und Mötzsch, welche die Fahne der PDS in den vorangegangenen drei Jahren hochgehalten hatten, nachdem jene den Einzug in den Bundestag seinerzeit verpaßt gehabt hatte. Das Problem bestand in allererster Linie darin, daß es in der Fraktion nur so vor Alphatieren wimmelte, von denen jedes eine gewisse Vorzugsbehandlung erwartete. Die creme de la creme der deutschen Linken war ins Parlament eingezogen und wollte dementsprechend gewürdigt werden. Alles nicht so einfach, vor allem da es in einer Oppositionsfraktion nicht allzu viele tolle Posten zu verteilen gab. Da war guter Rat ganz schön teuer.

Schön an der neuen Partei war nicht nur, daß ehemalige inoffizielle Mitarbeiter der Stasi endlich mal wieder einen gut dotierten neuen Arbeitsplatz gefunden hatten, sondern auch, daß es erstmals in der bundesdeutschen Geschichte eine tatsächliche Langzeitarbeitslose in den Bundestag geschafft hatte. Es gab sie also doch noch, die kleinen Wunder und schönen Märchen der Demokratie.

Anderswo herrschte eher die Empörung. Raul Kirchdorf zum Beispiel erregte sich über den dreisten Bernhard Schräder, seinen politischen Erzfeind, welcher nicht von seinem Amt lassen wollte und letzten Endes mit verhindert hatte, daß der Professor aus Heidelberg höchstselbst als Finanzminister reüssieren hatte können. In der SPD hatten sich die Begeisterungsstürme mittlerweile etwas gelegt, der Rausch war einer gewissen Nüchternheit gewichen und schön langsam machte sich unter den Genossen doch die Erkenntnis breit, daß man als schwächere der beiden großen Parteien nun vielleicht doch nicht den Kanzler stellen würde können. Das politische Berlin als solches hatte sich inzwischen langsam beruhigt, hin und wieder meldeten sich noch ein paar schlaue Köpfe zu Wort, doch insgeheim hatte sich die Republik bereits mit der bevorstehenden Großen Koalition abgefunden, welche sie ja im Grunde auch herbei gewählt hatte, von daher war alles prima.

26.09.2005: Doch wer geglaubt hatte, die SPD würde das Schlachtfeld kampflos verlassen, sah sich wenig später ein weiteres Mal getäuscht, denn plötzlich kursierte ein neuer Vorschlag der Sozialdemokraten. Schräder und Gerkel sollten sich das Kanzleramt teilen; erst würde Schräder noch 18 Monate lang regieren, danach könnte Gerkel dann für den Rest der Legislaturperiode übernehmen, lautete die vergiftete Botschaft. Man merkte, daß die Sozen spürten, daß ihnen der Wind immer schärfer ins Gesicht blies, weshalb sie von ihrer ehemaligen Maximalforderung schon ein gutes Stück abgerückt waren. Eine besondere Ironie enthielt die Idee ohnehin: Hätte Schräder nicht höchstpersönlich Neuwahlen ausgerufen, dann wäre er ja bis September 2006 ohnehin deutscher Bundeskanzler geblieben, von daher wollte man im Grunde nur noch sechs Monate zusätzlich zu der Zeit, die er sowieso hätte haben können. Ja, irgendwie waren die Auflösungserscheinungen schon deutlich sichtbar geworden und da die Granden in der Union wußten, daß es sich bei der ganzen Sache um einen vielleicht letzten verzweifelten Versuch der SPD handelte, vom Kanzlerkuchen womöglich doch noch ein Stück abzubekommen, lehnte man sogleich dankend ab und verwies jene "Hirngespinste" schnell wieder dorthin, wo sie hergekommen waren.

Klar, als relativ neutraler und objektiver Beobachter konnte man durchaus nachvollziehen, daß die SPD nach sieben Jahren mit einem Bundeskanzler aus den eigenen Reihen nicht so einfach und schnell darauf verzichten konnte und wollte, aber irgendwie merkte man immer mehr, daß es sich dabei mittlerweile lediglich um ein taktisches Spielchen handelte, mit dessen Hilfe man bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen so viel wie möglich für die SPD herausholen wollte. Das hatte den unerwünschten Nebeneffekt zur Folge, daß sich die gesamte Union mit Andrea Gerkel solidarisierte, was ihre Kanzlerschaft umso wahrscheinlicher machte, denn die Kronprinzen mußten nun hinter ihr stehen und sie unterstützen, ganz gleich ob denen das in den Kram paßte oder nicht.

Ende September 2005: Es wäre mal wieder an der Zeit, einen Blick nach Bayern zu werfen. Inzwischen hatte sich in der CSU die Meinung durch- sowie festgesetzt, daß im Falle einer Großen Koalition Egmont Sträuber als Minister in ein Kabinett Gerkel eintreten sollte und würde. Damit waren alle Beteiligten einverstanden, so daß es fortan noch intensiver um die Frage ging, wer dem lieben Egi denn in Bayern als Ministerpräsident nachfolgen werde. Das Duell zwischen Zuber und Blackschein schien der Franke für sich entschieden zu haben, da er sowohl in der CSU-Fraktion als auch in der bayerischen Bevölkerung wesentlich besser ankam als der Reformator Zuber, der einfach nur Sträubers Befehle befolgt und sich damit den Unmut der Abgeordneten sowie der Massen zugezogen hatte. Ja, manchmal war es eben doch nicht so klug, wenn man sich zu nah an den Regenten hielt, denn sobald der weg war, stand man plötzlich fast ganz alleine da. Interessant bei der ganzen Geschichte war außerdem, daß sowohl der damalige Innenminister Sträuber als auch der aktuelle Blackschein es geschafft hatten, innerhalb der CSU-Fraktion integrierend zu wirken und sich beliebt zu machen, obwohl sie nach außen hin den "harten Hund", den "Law und Order-Politiker" gegeben hatten. Durchaus bemerkenswert, man brauchte also scheinbar doch irgendwie zwei Gesichter im politischen Leben.