Geschichte in Film und Fernsehen

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Die sichtbaren Personen

Die in historischen Spielfilmen sichtbaren Personen können historische Personen repräsentieren, zum Beispiel Bruno Ganz (Hitler) in „Der Untergang“ (D 2004) oder Christian Friedel (Elser) in „Elser“ (D 2015). In diesen Fällen sind die Ansprüche an AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung hoch, weil es sich um Personen der ZeitgeschichtePersonen der Zeitgeschichte handelt, über die viel bekannt ist. Die Regisseure von „Der Untergang“ und „Elser“ haben deshalb auch immer wieder öffentlich bekundet, dass sie sich bei ihren Figuren [24]streng an die historischen Tatsachen gehalten hätten. Diesen Bekundungen ist allerdings nicht recht zu trauen, da die erzählte Vergangenheit, insbesondere dann, wenn sie inszeniert ist, die tatsächliche Vergangenheit niemals abbilden kann (→ Kap. 2.5). Deswegen setzen die meisten historischen Spielfilme auch auf fiktive Personen, die als Prototypen bestimmter historischer Konflikte oder gesellschaftlicher Gruppen auftreten. So etwa in dem Spielfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“ (ZDF 2013), in dem alle Protagonisten zwar fiktiv sind, aber die Generation der 20-jährigen repräsentieren, die 1941 am Krieg gegen die Sowjetunion teilnahmen. Ihre Glaubwürdigkeit gewinnen die Protagonisten daraus, dass sie so agieren, wie viele Namenlose es damals tatsächlich taten. Entsprechend sind auch die Protagonisten in „Die Himmelsleiter“ konstruiert.

DIE HIMMELSLEITER (D 2011), PROTAGONISTEN

Anna Roth (Christiane Paul), eine tapfere dreifache Mutter und junge Großmutter, hofft auch zwei Jahre nach Kriegsende noch immer auf die Rückkehr ihres Mannes (Ernst Stötzner) aus einem Konzentrationslager, in das er während der NS-Herrschaft unter Mithilfe des ehemaligen NSDAP-Ortsgruppenführers Armin Zettler (Axel Prahl) verschleppt wurde. Zettler macht nach dem Krieg wieder Karriere, muss sich aber wegen seiner NS-Vergangenheit vor der städtischen Spruchkammer verantworten und befürchtet, dass Anna Roth gegen ihn aussagen wird. Deswegen stellt er ihr nach, bedrängt sie und legt ihr, nachdem er mehrere Abfuhren bekommen hat, immer größere Steine in ihren ohnehin mühsamen Weg des Neuanfangs. Auch alle anderen Akteure des Films, hauptsächlich die Kinder von Anna Roth und Armin Zettler, richten ihre ganze Kraft darauf, durch Geschäfte und Kungeleien aller Art den Übergang vom Zusammenbruch der NS-Herrschaft zum Beginn einer neuen gesellschaftlichen Ordnung möglichst erfolgreich zu nutzen. Das führt zu vielen persönlichen Konflikten und Krisen, zu unerwarteten Ereignissen und überraschenden Wendungen, die die Handlung des Films temporeich vorantreiben. Alle Akteure bewegen sich auf schwankendem Boden, sind eher Getriebene als Treibende, weil es keinen gesellschaftlich und politisch sicheren Rahmen mehr gibt, in dem sie sich planend bewegen könnten. Erst als im Sommer 1948 in Westdeutschland die Währungsreform stattfindet und die D-Mark zum Maßstab für Erfolg und Misserfolg wird, endet das Beziehungschaos, und der Kampf jeder gegen jeden läuft nach klaren ökonomischen Regeln: Das Durcheinander der westdeutschen Umbruchsjahre mündet in der gespurten Dynamik der Wirtschaftswunderwelt.

Die fiktiven Protagonisten dieses Films repräsentieren bestimmte Typen der bundesdeutschen Nachkriegszeit, sie agieren hin und wieder klischeehaft und stereotyp, dennoch wirken sie glaubwürdig, weil sie Menschen darstellen, die in der Erinnerung der meisten Zuschauer so oder ähnlich präsent sind.

[25]Die filmische Handlung

Wie bei sehr vielen szenischen Filmen steht auch in „Die Himmelsleiter“ am Beginn der Handlung ein bedeutsames Ereignis, das die filmischen Akteure in eine kritische, existenziell bedrohliche Lage bringt. Hier ist es der verlorene Krieg, der alle bisherigen Lebenspläne Makulatur werden lässt und die Überlebenden dazu zwingt, sich eine neue Zukunft aufzubauen und verloren gegangene Positionen wiederzugewinnen. Der Film folgt damit einem vielfach angewandten und (nicht nur im Film) erprobten Erzählmuster: Eine gravierende Zustandsveränderung der Lebenswelt von Protagonisten (= Ereignisanfang) bewirkt diverse Handlungen, die zur (Wieder-)Herstellung einer stabilen Lebenswelt oder, seltener, zum Untergang der Protagonisten führen (= Ereignisende). Das Publikum wird einer solchen stereotypen Erzählweise deshalb wahrscheinlich widerspruchslos folgen. Aber es sind nicht allein die stereotypen Erzählklischees, wiedererkennbaren Erzählbausteine und schablonenhaften Charaktere, die eine Erzählung massentauglich machen, es ist auch die Eigenlogik des Mediums ‚Film‘ selbst, die sehr oft dazu führt, dass die filmisch erzählte Welt den Erzählstereotypen folgt, die sich in den Alltagserzählungen unserer tatsächlichen Welt bewährt haben. Denn wie die tatsächliche Welt ist eben auch das Medium ‚Film‘ raumzeitlich strukturiert, und dieser Umstand begünstigt das Erzählen von chronologisch ablaufenden katastrophalen Ereignissen oder zwischenmenschlichen Konflikten und sperrt sich gegen die Darstellung ‚zeitloser‘ Strukturen. Die erzählte Welt des szenischen Films ist genauso wie die tatsächliche vergangene Welt auf ihrer optisch-akustischen Oberfläche eine Welt von Ereignissen. Die in den Tiefen dieser Welt wirksamen politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen sind als Filmbilder direkt kaum darstellbar und werden nur indirekt sichtbar in den Motiven, Verhaltensweisen, Konfliktlösungsstrategien und sozialen Beziehungen der Akteure. Der historische Spielfilm hat jedenfalls das Potenzial, solche Tiefenschichten der Ereignisse zu zeigen, er nutzt es nur nicht immer (→ Kap. 2.2.1 und 2.2.2).

Tatsächliche Geschichte und szenisch erzählte Geschichte

Der szenische Geschichtsfilm hebt die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Erzählung auf, lässt Ereignis und Erzählung zusammenfallen: Die Vergangenheit ereignet sich als filmische Gegenwart. Eine historische Lebenswelt erscheint auf der Leinwand, in der auch Dinge sichtbar werden, die mit Quellen nicht zu belegen sind (wie z.B. Mimik und Gestik der handelnden Personen, ihre Positionierung und Bewegung im Raum etc.) und die in jeder geschichtswissenschaftlichen Darstellung eine Blackbox sind. Durch die Visualisierung des Unbekannten wird die erzählte Welt bestenfalls zu einer von vielen möglichen Welten, die plausibel, aber nicht belegbar sind (zur „Theorie der möglichen Welten“ siehe [26]Bietz 2013, 182ff.). Die meisten szenischen Geschichtsfilme legen es aber auch gar nicht darauf an, Geschichte durchgängig faktengetreu zu erzählen. Sie nutzen im Gegenteil die Gelegenheit, in ihre erzählte historische Welt auch Personen und Ereignisse einzubauen, die in der tatsächlichen Welt keine Entsprechung haben. Es entstehen so fiktive Ereignisse mit fiktiven (oder auch historischen) Personen, Schauplätzen und Handlungsabläufen, wie beispielsweise im Film „Die Himmelsleiter“. Wenn sich die Erzählung dabei an die Gesetze der Logik und Kausalität hält, die Personen plausibel agieren und die Ereignisabläufe konzise erzählt werden, können auch fiktive Personen und Ereignisse glaubwürdig sein und als historisch mögliche Ereignisse auf Akzeptanz beim Publikum stoßen. Zumal dann, wenn der Erzähler, wie im Film „Die Himmelsleiter“, immer wieder verbal, durch Texteinblendungen oder dokumentarische Bilder und Töne darauf hinweist, dass seiner Erzählung tatsächliche Begebenheiten zugrunde liegen. Allerdings erweisen sich manche erzählerischen Legitimationsstrategien, der erzählten Geschichte historische Glaubwürdigkeit zuzusprechen, als erzählerische Tricks. So spricht beispielsweise am Beginn des Films „Die Himmelsleiter“ die Protagonistin aus dem Off zum Publikum und behauptet, dass ‚ihre‘ Erzählung von der im Film sichtbaren Stadt ‚Köln‘ und den dort lebenden Menschen das tatsächliche Köln des Jahres 1947 zeige. Doch dies bleibt bei näherem Hinsehen eine leere Behauptung, denn die Protagonistin ist selbst gar keine historisch belegte Person aus dem tatsächlichen Köln des Jahres 1947, sondern eine rein fiktive Person, die nur im erzählten Köln zu Hause ist. Dessen ungeachtet erweisen sich aber auch die fiktive Protagonistin Anna Roth und ihr fiktiver Antagonist, der umtriebige NS-Wendehals Armin Zettler, als glaubwürdige Akteure, weil ihre Lebenswelten und ihre Problemlagen durchaus typisch sind für die Wiederaufbaugesellschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Personen und Ereignisse des Films „Die Himmelsleiter“ befinden sich noch im Erinnerungshorizont der Zuschauer. Sie haben die Zeit selbst erlebt oder von Familienmitgliedern darüber einiges gehört. Das Thema ‚Nachkriegszeit‘ ist also noch Teil der kollektiven Erinnerung und des gesellschaftlichen Diskurses. Wir nennen solche zeitgeschichtlichen Spielfilme im weiteren Verlauf des Buches ‚szenische Erinnerungsfilme‘ und grenzen sie ab von den ‚szenischen HistorienfilmenSzenischer Historienfilme‘, in denen die erzählte Zeit außerhalb des Erinnerungshorizonts des Publikums liegt (zum Beispiel das Mittelalter oder die Antike). Näheres zu dieser Unterscheidung findet sich in den folgenden Kapiteln.

Darstellen versus Erzählen – Szenische gegen dokumentarische Geschichtsfilme?

Neben der szenischen Darstellung von Geschichte steht der dokumentarische Geschichtsfilm.

[27]Infobox

Szenische Darstellung und verbales Erzählen

Die Unterscheidung von szenischer Darstellung (Mimesis) und verbalem Erzählen (Diegese) ist Teil einer lang anhaltenden erzähltheoretischen Debatte, die in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm und teilweise bis heute andauert (näheres bei Bietz 2013, 38ff.). Dabei ging es zunächst um den Unterschied zwischen visueller Weltdarstellung im Film und literarischer Weltdarstellung im Roman, also um die Verwendung unterschiedlicher Zeichensysteme: Der Film verwendet Bild-Zeichen, die Lebenswelten sichtbar machen, die sprachliche Erzählung benutzt dagegen Wort-Zeichen, die Lebenswelten repräsentieren. Setzt man die Bild-Zeichen zu bewegten Bildern zusammen, entstehen ‚lebendige‘ Szenen, die z.B. konkrete Menschen an konkreten Schauplätzen zeigen. Die raumzeitlichen Bild-Zeichen des Films stehen also in einem engen optischen Bezug zur raumzeitlich verfassten tatsächlichen Welt. Ein im Film-Bild sichtbares Hochhaus zum Beispiel hat im Prinzip dasselbe Aussehen wie ein Hochhaus, das außerhalb der filmischen Welt, etwa in einer Stadt, zu sehen ist. Demgegenüber ist ein in einer Erzählung auftauchendes Hochhaus kein konkretes Bild-Zeichen, sondern ein abstraktes Wort-Zeichen. Das H-o-c-h-h-a-u-s in der Erzählung hat keinerlei optische Ähnlichkeit mit dem Hochhaus in einer Straßenschlucht. Das Wort H-o-c-h-h-a-u-s macht dieses nicht sichtbar, sondern nur lesbar, es bildet dies nicht ab, sondern es benennt es. Der Leser macht dann dieses Schrift-Zeichen wieder ‚sichtbar‘, indem er ihm ein passendes Bild-Zeichen zuordnet.

 

Es waren vor allem die Filmwissenschaftler, die aus zeichentheoretischen Gründen die filmische Visualisierung der literarischen Erzählung gegenüberstellten. Unmittelbares Darstellen von Lebenswelten im Film (Mimesis) stand gegen mittelbares Erzählen von Lebenswelten im literarischen Text (Diegese). Es zeigt sich aber, dass auch im Film selbst ein Gegensatz zwischen unmittelbarer Darstellung und mittelbarer Erzählung existiert. Denn sowohl der Spielfilm als auch die Dokumentation konstruieren zwar audiovisuelle Welten, doch unterscheiden sie sich in den Erzählmodi. Der szenische Geschichtsfilm ist bemüht, ohne einen verbalen Erzähler auszukommen, der dokumentarische Geschichtsfilm benötigt ihn dagegen dringend. Aber dieser Unterschied besteht nur graduell. Das Doku-DramaDoku-Drama ist eine hybride audiovisuelle ErzählformHybride Erzählformen, bei der dramatische Lebenssituationen historischer Personen (meist) der Zeitgeschichte in einer ausgewogenen Mischung aus szenischem Spiel und dokumentarischer Darstellung vergegenwärtigt werden.Denn es gibt durchaus szenische Geschichtsfilme, in denen ein (außerfilmischer) verbaler Erzähler eine wichtige Rolle spielt, während es umgekehrt dokumentarische Geschichtsfilme gibt, in denen der verbale ErzählerVerbaler Erzähler sehr zurückhaltend agiert und stattdessen leibhaftige Erzähler aus der tatsächlichen Gegenwartswelt die Geschichte vorantreiben. Beide Formen können also dicht aneinander heranrücken oder sogar miteinander verschmelzen, wie das Doku-DramaDoku-Drama zeigt, bei dem showing und telling ineinander übergehen. Verbales [28]Erzählen ist also bei genauer Betrachtung ein Mittelding zwischen filmischem und literarischem Erzählen, weil es einerseits ‚Worte‘ benutzt und insofern sprachliche und nicht visuelle Zeichen verwendet, andererseits folgt es aber dem Prinzip der Mündlichkeit, ist ein stimmsprachliches, hörbares und kein literarisches, buchstäbliches Erzählen. Das stimmsprachliche Erzählen ist seit der Erfindung des Tonfilms aber ein ganz selbstverständlicher Teil des audiovisuellen filmischen Erzählens. Allerdings ist trotz mancher Gemeinsamkeiten und Überlappungen beim szenischen und dokumentarischen Geschichtsfilm doch festzuhalten, dass der dokumentarische Film in der Regel dem telling und der szenische Film dem showing näher steht.

Eine Sonderrolle spielt der klassische ‚Dokumentarfilm‘, der meist Spielfilmlänge hat und Menschen bzw. Ereignisse der gegenwärtigen tatsächlichen Welt zeigt, ohne dass dabei ein verbaler ErzählerVerbaler Erzähler zu Wort kommt. Wie der Spielfilm, so erzählt sich also auch der klassische Dokumentarfilm scheinbar selbst. Es gibt allerdings auch einige Ausnahmen, insbesondere wenn es im Dokumentarfilm um historische Themen geht. Dann setzen auch viele Dokumentarfilmer auf einen verbalen Erzähler, der die historischen Zusammenhänge verdeutlicht.

Beginnen wir mit einem Beispiel, dem Doku-DramaDoku-Drama „Flick“ (Arte/ARD 2010) (Abb. 1), und betrachten wir zunächst den Anfang des Films: Bild und Ton blenden auf: Auf der visuellen Ebene erscheinen seltene Archivbilder eines Mannes aus dem Jahr 1969, Filmaufnahmen des 86-jährigen Großindustriellen Friedrich Flick, der allein auf der Konstanzer Seestraße spazieren geht. Die Trickkamera springt in einer Montage an die Archivaufnahmen (Fotos und Filme) heran, zeigt den Protagonisten in Großaufnahme, entfernt sich wieder, kommt erneut näher usw. Es entsteht ein ‚verwackeltes‘, sprunghaftes Bild von Flick. Auf der auditiven Ebene beginnt der Film mit Musik, die sich dem SchnittSchnittrhythmus anpasst, und auf die das Voice-OverVoice-Over eines verbalen Erzählers geblendet wird. Er ist kein innerfilmischer Erzähler, sondern ein unsichtbarer außerfilmischer Erzähler. Er beginnt seine Erzählung mit der Nennung von Ort, Zeit und Person und authentifiziert so das Archivmaterial auf der visuellen Ebene: „Konstanz 1969. Seltene Aufnahmen von einem der umstrittensten Männer Deutschlands. Friedrich Flick, Unternehmer und Multimilliardär.“ Das Voice-OverVoice-Over verstärkt das unstete Bildergemisch durch den Hinweis, dass Flick einer der „umstrittensten“ Männer Deutschlands sei. Diese Divergenz unterstreichen mehrere knappe Statements von ZeitzeugenZeitzeugen und Flick-Forschern in Bild und Ton: „Er war ein Genie“ (Otto Kaletsch, Patensohn Flicks), „Das war ein brillanter Kenner, ein unglaublich fleißiger Mann“ (Eberhart von Brauchitsch, Generalbevollmächtigter Flicks), „Friedrich Flick ist sicherlich eine Ausnahmegestalt“ (Norbert Frei, Historiker), „Er war ein großer Manipulator“ (Tim Schanetzky, Historiker), „Man traute ihm eigentlich alles zu“ (Johannes Bähr, Historiker). Im Anschluss an die Statements folgt ein Bild-Ton-SchnittSchnitt in zeitlich noch weiter zurückführendes Archivmaterial: [29]Bilder der US-Wochenschau von 1946 zeigen Flick als Angeklagten vor dem Nürnberger Militärtribunal. Der Richter fragt ihn: „Friedrich Flick, how do you plead to this indictment? Guilty or not guilty?“ Flick antwortet: „Ich bin unschuldig.“ Auf ein grafisch gestaltetes Foto von Flick wird der Filmtitel geblendet: „Flick. Der Aufstieg.“


Abb. 1 DVD-Cover des Doku-Dramas „Flick“ (Arte/ARD 2010).

Der Film „Flick“ fokussiert von Beginn an den Protagonisten. Die visuelle Ebene zeigt ihn am selben Ort in unterschiedlichen Einstellungen. Die Bilder verstehen sich aber nicht von selbst, da weder Ort, Zeit noch Person den meisten Zuschauern gegenwärtig sind. Die Bildebene benötigt einen verbalen Erzähler, der den Bildinhalt erklärt. Der Voice-Over-Erzähler versteht sich dabei als ein populärer Erzähler, er geht nicht auf Distanz zu den Bildern, sondern baut mit ihnen erzählerische Spannung auf. Die Spannung wird durch die widersprüchlichen Statements von ausgewiesenen Flick-Kennern verstärkt und erreicht mit Flicks Auftritt vor dem Nürnberger Tribunal ihren Höhepunkt. Flick, als Kriegsverbrecher angeklagt, erklärt sich für „unschuldig“ – eine Selbsteinschätzung, die er, so lässt der Filmanfang vermuten, offensichtlich bis zu seinem Lebensende beibehält. Die unausgesprochene Botschaft des verbalen Erzählers an das Publikum lautet: Dieser Friedrich Flick ist eine tatsächliche historische Person, ein interessanter, umstrittener Mann, dessen audiovisuell erzählte Geschichte sich anzusehen lohnt (Flick 2010, Teil 1, TC: 00:11–01:05).

Tatsächliche Welt und erzählte Welt

Das Feld historischer Tatsachen ist das Metier der an Geschichte interessierten Dokumentarfilmer. Sie erzählen nur das, was sich durch Quellen belegen lässt. Ihnen ist auch nicht daran gelegen, in der dokumentarischen Erzählung die zeitliche Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben. Im Gegenteil, die Dokumentarfilmer wollen die Vergangenheit nicht filmisch inszenieren, sondern dokumentarisch von ihr erzählen. Dabei müssen sie zwei Probleme lösen. Das erste Problem ist ein narratives. Die Erzähler müssen eine erzählerische Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit bauen, sie müssen zwischen dem [30]Hier und Jetzt ihrer Erzählung und dem, „was damals passiert ist“, vermitteln. Das geschieht mit Hilfe von historischen Quellen, die in die dokumentarische Erzählung eingebaut werden. Als Überreste sind sie gegenwärtige Zeugnisse der Vergangenheit. Verwendet werden vor allem Bild-, Film- und Tonquellen aus der erzählten Zeit, die einen Eindruck vermitteln sollen, ‚wie es damals war‘. Eine große Rolle spielen aber auch ZeitzeugenZeitzeugen, die dem gegenwärtigen Publikum erzählen, was sie ‚damals‘ erlebt haben, und die so ebenfalls eine Brückenfunktion übernehmen (→ Kap. 2.3.2 und Kap. 3.7). Das zweite Problem ist ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die dokumentarischen Erzähler müssen sicher stellen, dass ihrer Erzählung Vorgänge zugrunde liegen, die sich in der Vergangenheit tatsächlich ereignet haben, dass sie eine Tatsachenerzählung ist. Das geschieht auf ganz unterschiedliche Weise: Außerfilmisch wird durch das Label ‚Dokumentation‘ darauf aufmerksam gemacht, dass der Film sich auf tatsächliche Ereignisse und Sachverhalte bezieht; filmisch wird der verbale ErzählerVerbaler Erzähler als ein der historischen Wahrheit verpflichteter Erzähler etabliert, er ist in gewisser Weise nüchterner Historiker und ambitionierter Erzähler in einer Person; darüber hinaus sollen die vom Erzähler verwendeten visuellen, auditiven und verbalen Quellen (Film- und Tondokumente, ZeitzeugenZeitzeugen, ExpertenExpertenstatements) die AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung der Erzählung belegen (→ Kap. 2.3.1).

Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler

Charakteristikum des dokumentarischen Geschichtsfilms (Geschichtsdokumentation) ist der verbale ErzählerVerbaler Erzähler, der entweder sichtbar als ‚PresenterPresenter‘ bzw. ‚Moderator‘ auftritt oder unsichtbar als Voice-OverVoice-Over agiert. Hin und wieder tritt der verbale ErzählerVerbaler Erzähler auch in beiden Rollen auf. Ein Erzähler ist deswegen unverzichtbar, weil der dokumentarische Geschichtsfilm meist ein Konglomerat aus heterogenem Filmmaterial ist: Bild-, Film-, und Ton- und Textdokumente aus diversen Archiven in unterschiedlicher Qualität stehen nebeneinander. Dazu kommen neu gedrehte Aufnahmen von historischen Schauplätzen sowie ZeitzeugenZeitzeugen- und Expertenstatements. Vieles davon versteht sich nicht von selbst, sondern ist erklärungsbedürftig. Der verbale ErzählerVerbaler Erzähler hält das Material zusammen, nutzt es als Beleg für seine Erzählung, rückt es dicht an den Zuschauer heran oder hält es auf Distanz und fungiert bei alledem auch noch als Geschichtsexperte, der dafür einsteht, dass alles, was erzählt wird, tatsächlich auch passiert ist.