Geschichte in Film und Fernsehen

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Erzähler

Aktuelle Ereignisse werden in audiovisuellen Medien meist von Nachrichtenerzählern (Moderatoren) präsentiert. Bei Auslandsberichten treten neben dem Moderator weitere Erzähler auf: die Reporter oder Korrespondenten. Am Ort des Geschehens beobachten sie Akteure und Handlungsabläufe und formen die Geschehnisse zu Ereignissen um, indem sie Zeit, Ort und Akteure des Geschehens präzise benennen und die von ihnen wahrgenommenen Unterschiede im raumzeitlichen Geschehensablauf festhalten. Die Beachtung der raumzeitlichen Abläufe ist deshalb wichtig, weil (verständliche) Erzählungen nur dann entstehen, [17]wenn der Erzähler die Geschehenselemente schlüssig auseinander hervorgehen lässt (Kausalität), die zu erzählenden Inhalte nachvollziehbar einander zuordnet (Kohärenz) und sich insgesamt an die genaue zeitliche Abfolge der Geschehnisse hält (Chronologie). Der Erzähler vor Ort steht dabei vor einigen Problemen: Erstens, weil er sich selbst am Schauplatz des Geschehens befindet, das Geschehen also nicht nur beobachtet, sondern es auch erlebt (und indirekt nicht selten auch beeinflusst). Zweitens muss er sich auf dem Schauplatz einen Standpunkt suchen, von dem aus er das Geschehen beobachtet. Wer einen Standpunkt hat, bekommt damit aber auch eine bestimmte Sichtweise (Perspektive) auf das Geschehen, er sieht nur einen Ausschnitt des Geschehens (Selektion) und verfügt deshalb auch nur über ein begrenztes Wissen von dem, was geschieht (Fokalisierung). Drittens ist das Geschehen in der Regel noch im Fluss, wenn der Reporter den Schauplatz betritt. Als erfahrener Beobachter und Erzähler kann er zwar einschätzen, ob es sich bei dem Geschehen um ein wichtiges Ereignis mit großem Nachrichtenwert handelt, aber er kennt nur den Anfang des Ereignisses und noch nicht sein Ende. Diese Ungewissheit über den Ausgang eines Ereignisses ist nahezu tagtäglich in den Fernsehnachrichten wahrnehmbar, wenn Auslandskorrespondenten von Kriegs- oder Katastrophenschauplätzen berichten und über den weiteren Verlauf von Ereignissen spekulieren. Viertens ist ein Reporter zwar ein unmittelbarer Beobachter, aber er kann seine Beobachtung nicht unmittelbar, sondern nur sprachlich oder bildlich vermittelt weitergeben. Der Erzähler kann also immer nur mittelbar von einem Ereignis erzählen, was die Frage aufwirft, in welcher Relation die erzählte Welt der Ereignisse zur tatsächlichen Welt der Geschehnisse steht. Fünftens schließlich muss sich der Erzähler eines technischen Mediums bedienen, um seine Erzählung zu vermitteln. Von der Wahl des Mediums hängt es ab, ob eine Erzählung etwa als fortlaufender Text sichtbar wird oder, wie das bei den audiovisuellen Medien der Fall ist, als komplexe Bild-Ton-Abfolge mit verschiedenen Erzählkanälen (visuelle, auditive und verbale Kanäle), die erst synchronisiert werden müssen, damit eine Erzählung entsteht.

Erzählung

Katastrophen, die die Normalität der Alltagswelt aus den Angeln heben und zu einem verzweifelten Überlebenskampf der betroffenen Opfer sowie zu dramatischen Rettungsaktionen der herbeieilenden Helfer führen, finden sich zu allen Zeiten und sind, gerade wegen ihrer Dramatik, häufig Erzählinhalt von Kinofilmen und Fernsehdokumentationen. Vor allem das Erzählschema der Spielfilme wiederholt sich dabei meist stereotyp: Am Anfang der Erzählung steht ein Schreckensereignis, das einen bestehenden Zustand radikal verändert und bestimmte Personen oder Personengruppen zum Handeln zwingt. Sie müssen gegen die Katastrophe ankämpfen. Einzelne Akteure (z.B. Polizisten, Ärzte, Forscher) treten [18]dabei in den Vordergrund und nehmen entscheidenden Einfluss auf das Handlungsgeschehen. Die Helfer sind bemüht, in einem Wettlauf gegen die Zeit möglichst viele Menschen zu retten und das katastrophale Geschehen schnell zu beenden. Dennoch können sie nicht verhindern, dass viele Menschen der Katastrophe zum Opfer fallen. Bei solchen oft als Actionfilm inszenierten Ereignissen rücken ‚Erzählzeit‘ (Zeit der Erzählung) und ‚erzählte Zeit‘ (Zeit des Ereignisses) eng zusammen, weil der Kampf gegen die (ablaufende) Zeit die Handlung strukturiert. Ein Katastrophenfilm lässt sich natürlich auch aus der Opferperspektive erzählen. Dies versucht anlässlich von 9/11 beispielsweise der Film „Extrem laut und unglaublich nah“ (USA 2011). Aber auch dort gibt es Protagonisten, Antagonisten und weitere Handlungsfiguren sowie innere und zwischenmenschliche Konflikte, die die Handlung vorantreiben und das Ende der Erzählung bestimmen. Das sich in vielen Katastrophenfilmen wiederholende Erzählschema verweist wiederum auf die raumzeitliche Struktur der Ereignisabläufe selbst, die sich nicht nur in den Erzählungen wiederfindet, sondern auch schon den tatsächlichen Geschehnissen innewohnt, auf die sich die Erzählungen beziehen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass es bei Geschehensabläufen, Ereignissen und Erzählungen immer um dasselbe geht, um handelnde Akteure in Zeit und Raum oder, etwas erzählerischer formuliert, um konkrete Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Schauplätzen handeln müssen, weil ein Ereignis ihren Lebensalltag destabilisiert hat und sie zwingt, die Stabilität auf neuer Grundlage wieder herzustellen.

9/11 zeigt schließlich auch, dass es Ereignisse gibt, die einen nur kurzen Zeitablauf haben – die Flugzeuge trafen die New Yorker Türme innerhalb von Sekundenbruchteilen – und dass es Ereignisse mit längerem Zeitablauf gibt: das WTC Building 7 stürzte nach achteinhalb Stunden in sich zusammen. Zur gleichen Zeit lösten diese Ereignisse eine Kaskade neuer Ereignisse aus (Domino-Effekt). Schon kurz nach dem Angriff wurde der Präsident der Vereinigten Staaten an einen sicheren Ort gebracht, wo ihm die Gesamtlage vorgetragen wurde. Nicht nur das WTC, sondern auch das Pentagon war mit einem Flugzeug angegriffen worden, und ein weiteres Angriffsflugzeug war abgestürzt und hatte viele Unschuldige in den Tod gerissen. Der Präsident sah darin einen Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Dem Angriff folgte eine Kriegserklärung an die für den Angriff Verantwortlichen. Der Terrorist Osama Bin Laden wurde zum Antagonisten (Anführer der ‚Bösen‘) erklärt, ihm standen George W. Bush als Protagonist (Anführer der ‚Guten‘) und seine Helfer gegenüber. Mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ begann ein neues Ereignis mit weltweiten Auswirkungen. In diesem Großereignis fanden zwar Teilereignisse ihren Abschluss (Tod Saddam Husseins, Tod Osama bin Ladens u.a.), der Abschluss des Gesamtereignisses (‚Krieg gegen der Terror‘) selbst steht aber noch aus und wird vielleicht nie erfolgen, da Terror vermutlich immer wieder auftritt. Viele Teilereignisse dieses Kampfes sind auch [19]bereits Gegenstand von Filmen geworden – „Von Löwen und Lämmern“ (USA 2007), „Essential Killing“ (HU/IE/NO/PL 2010), „Zero Dark Thirty“ (USA 2012), „Blackwater“ (USA 2015) und andere – das Gesamtereignis wird filmisch aber wohl kaum jemals erzählt werden können, da die filmische Erzählzeit stets nur auf wenige Stunden begrenzt ist.

Erinnerung

Dramatische Ereignisse bleiben in Erinnerung. Das trifft nicht nur auf die Ereignisse zu, die den Lebensalltag einzelner Menschen radikal verändern, sondern auch auf die nationalen Dramen, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Insbesondere den Massenmedien ,Film‘ und ,Fernsehen‘ fällt dabei die Aufgabe zu, die kollektiven Erinnerungen immer wieder zu erzählen und damit den gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs in Gang zu halten (siehe Kap. 2.2.2 und 2.3.2). Bei dramatischen Ereignissen mit großer Reichweite beginnt dieser gesellschaftliche Erinnerungsdiskurs früh. Auch das belegt das Ereignis 9/11 eindrücklich. Unmittelbar nach dem Angriff in New York rief der Sender Home Box Office (HBO) auf Anregung des New Yorker Bürgermeister Rudolph Giordano in lokalen Anzeigen die Einwohner dazu auf, Fotos und Videos von dem Schreckensereignis zur Verfügung zu stellen. Ein Erinnerungsfilm der New Yorker sollte entstehen. Das Ergebnis lief sechs Monate später, im Mai 2002, unter dem Titel „In Memoriam: New York City 9/11/01“ bei HBO. Über 800 Stunden Material von mehr als 100 Privatpersonen sowie die Filmaufzeichnungen von vielen Profikameraleuten waren gesammelt, gesichtet und zu einem einstündigen Film zusammengeschnitten worden. Die Dokumentation lief auch bei ‚CNN International‘ und konnte so von mehr als 170 Millionen Haushalten in über 200 Ländern und Territorien rund um die Welt gesehen werden. Kurz vorher war schon der Film der Brüder Naudet gelaufen, die bei ihrer Reportage über New Yorker Feuerwehrleute die ersten Filmbilder vom explodierenden Flugzeug im WTC aufgezeichnet hatten. Durch die Katastrophe wurde aus der ursprünglich geplanten Alltagsgeschichte eine Heldengeschichte der New Yorker Feuerwehr. Der Film lief unter dem Titel „9/11“ (dt. Fassung: „11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center“) bei CBS und erreichte ca. 40 Millionen Zuschauer. Aber auch dieser Film war nur einer von vielen weiteren, die zum Erinnerungsdiskurs beitrugen. Allein in Deutschland liefen zwischen dem 17.8.2002 und dem 13.9.2002 über 26 Erinnerungssendungen zu 9/11 im Fernsehen.

Kollektive Erinnerungen brauchen Erzählanlässe, die den Erinnerungsprozess in Gang halten. Sehr oft sind das Jahrestage, neben 9/11 zum Beispiel in den USA der 6. Juni (Landung der alliierten Truppen 1944 in der Normandie). In Deutschland sind heute der 8. Mai (Tag der Befreiung vom NS-Regime 1945), der 9. November (Tag des Mauerfalls 1989) oder der 3. Oktober (Tag der deutschen [20]Einheit 1990) nationale Erinnerungstage. Diesen Daten, die an erfreuliche Ereignisse erinnern, stehen Gedenktage gegenüber, die an NS-Verbrechen erinnern, zum Beispiel der 27. Januar (Tag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen 1945) oder der 9. November (Judenpogrom 1938). Alle Erinnerungstage liegen noch im Zeithorizont der älteren Generation, sind lebendige Erinnerung, die nicht nur Wissen beinhalten, sondern auch Emotionen. Und vor allem diese ‚gefühlte‘ Geschichte ist es, die die Erinnerungen so lange lebendig halten. Die ,großen‘ Erzählinstitutionen der kollektiven Erinnerung sind Film und Fernsehen, sie ,setzen‘ die meisten Erinnerungsthemen des öffentlichen Geschichtsdiskurses. Sie erzählen populär und damit massenwirksam und prägen die Geschichtsbilder aufgrund ihrer audiovisuellen Überzeugungskraft maßgeblich mit.

 

Geschichtssendungen in Film und Fernsehen, die sich im Zeithorizont der Erinnerungskultur bewegen, werden deshalb in diesem Buch gesondert behandelt und ausführlich diskutiert. Geschichtssendungen sind Vermittler zwischen der Gegenwart, in der sie laufen, und der Vergangenheit, von der sie erzählen. Sie greifen dabei auf vergangene Erzählungen zurück, die einstmals aktuelle Ereignisse dokumentierten (z.B. Nachrichtenerzählungen). Und so wie die alten TV-Nachrichten mit Hilfe aktueller audiovisueller Aufzeichnungen von ihrer aktuellen tatsächlichen Welt erzählt haben, so erzählen spätere Geschichtsdokumentationen mit Hilfe historischer AV-Dokumente von vergangenen Welten und stärken damit den ‚flow‘ generationsübergreifender Vergangenheitserzählungen.

Weiterführende Literatur

Bentele 2008: Günter Bentele, Objektivität und Glaubwürdigkeit. Medienrealität rekonstruiert. Wiesbaden 2008.

Bietz 2013: Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier 2013.

Drews 2008: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008.

Erll 2008: Astrid Erll, Erinnerungskultur und Medien – In welchem Kontext spielt sich die Diskussion um Geschichtsvermittlung im Fernsehfilm ab? In: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008, 9–27.

Gergen 1998: Kenneth Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. In: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 170–202.

Schmid 2014: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie. Berlin 20143.

Straub 1998b: Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Jürgen Straub (Hg), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 81–169.

[21]2.1 Audiovisuelle Geschichte

Audiovisuelle Geschichte macht in ihren Erzählungen vergangene Lebenswelten wieder sicht- und hörbar, die in der tatsächlichen Welt unsichtbar und stumm geworden sind. Dies gelingt auf zweierlei Weise: entweder unmittelbar, durch Vergegenwärtigung der lebensweltlichen Vergangenheit im szenischen Spiel, oder mittelbar, durch eine verbale Erzählung, bei der Dokumente aus der Vergangenheit gezeigt und zu Gehör gebracht werden.

Szenische Geschichtsfilme

Betrachten wir zuerst die Dramatisierung von Vergangenheit im szenischen Spielfilm. Als Beispiel wählen wir den deutschen Fernsehfilm „Die Himmelsleiter“ aus dem Jahr 2015, der die Zuschauer in die Lebenswelt der Stadt Köln im Jahr 1947 zurückführt. Das Köln jener Tage ist schwer gezeichnet vom Bombenkrieg. Große Teile der Innenstadt liegen in Trümmern. Viele Ausgebombte leben auf engsten Raum zusammen, nicht wenige warten verzweifelt auf vermisste Familienangehörige. Kleine und große Nazis sind untergetaucht, manche von ihnen arbeiten schon wieder an einer zweiten Karriere. Die Versorgung der Bevölkerung funktioniert nur notdürftig, Tauschhandel, Schmuggel und Schwarzmarkt prägen das Alltagsleben. Viele Menschen leben von der Hand in den Mund. Es ist eine Zeit der Ungewissheit: der Krieg ist zwar vorbei, aber eine neue politische und gesellschaftliche Normalität noch nicht erreicht.

Es gibt sehr viele verschiedene Geschichten, die von diesen historischen Tatsachen erzählen. Sie finden sich in Zeitungen, Tagebüchern und Romanen. Der Film „Die Himmelsleiter“ erzählt die Kölner Nachkriegsgeschichte auf seine Weise, und er beginnt so:

DIE HIMMELSLEITER (D 2011), ANFANGSSZENE

Bild und Ton blenden auf, der Film beginnt: auf der visuellen Ebene wird bildfüllend eine Kirchenglocke sichtbar. Sie trägt die Inschrift „St. Peter bin ich genannt / schütze das deutsche Land / geboren aus deutschem Leid / ruf ich zur Einigkeit“. Die Kamera schwenkt langsam nach links, verliert die Inschrift aus dem Blick und erfasst aus der Perspektive des Glockenstuhls die Silhouette einer zerbombten Stadt. Ein breiter Fluss ist tief unten erkennbar, in dem über die gesamte Breite hinweg eine zerstörte Eisenbahnbrücke liegt. Während des Schwenks beginnt auf der auditiven Ebene ein Soundgemisch aus Windgeräuschen und einem hohem Geigenton, das nach wenigen Momenten in ein gesungenes Kirchenlied durchblendet. Auf der visuellen Ebene wird das Rätsel nach der Quelle des Gesangs durch eine Bildblende von der fernen Trümmerlandschaft in das nahe Kircheninnere geklärt. Die Trickkamera fährt durch den Glockenturm nach unten und erfasst nach einer weiteren Bildblende die Kirchengemeinde aus Richtung des Altars. Die ersten Reihen der Gemeindemitglieder werden vom rechten Seitenschiff hin zum Mittelschiff abgefahren. Alle Personen tragen Feiertagskleidung der 1940er Jahre. Die Kamera verlangsamt ihre Querfahrt und hebt aus der Gruppe zwei Frauen heraus. Auf der auditiven Ebene wird diese visuelle Fokussierung dadurch unterstützt, dass die Gesangsstimmen der Frauen aus dem Gesamtchor herausgehoben werden. Dann wechselt der Schauplatz. Auf der visuellen Ebene wird nun aus einer obersichtigen Perspektive die städtische Trümmerlandschaft in einer ‚Totalen‘ gezeigt. Auf der auditiven Ebene erklingt die Titelmusik. Der Titel des Films wird auf die Trümmerlandschaft geblendet: „Die Himmelsleiter. Sehnsucht nach Morgen“. Es folgt eine weitere Texteinblendung: „Nach einer wahren Begebenheit“. Auf der auditiven Sprachebene beginnt unmittelbar nach dem Titel eine Frauenstimme im rheinländisch eingefärbten Dialekt Voice-OverVoice-Over zu erzählen:

„Es war Sommer 1947 und der Krieg war seit zwei Jahren aus. Es war nicht so gelaufen, wie es gedacht war. Wir hatten zweihundertzweiundsechzig schwere Luftangriffe hinter uns, darunter den Tausendbomberangriff und die grausame Peter-und-Paul-Nacht. Mit den Trümmern konnten wir leben, aber wirklich schlimm war der Hunger. Unser Leben bestand aus Stehlen, Schmuggeln, Schachern und Hamstern, kurz ‚Fringsen‘. Denn unser Kölner Erzbischof, Kardinal Frings, hatte ja gepredigt, in der Not sei fast alles erlaubt, um seine Kinder durchzubringen. Aber sogar die Kinder selber mussten ran, zum ‚Rabatzen‘, sind mit Kupfer oder sonst was von Wert über die ‚Himmelsleiter‘ nach Belgien, um Kaffee einzutauschen. ‚Himmelsleiter‘, so haben sie den verminten Weg durch die Eifel genannt, weil er für viele direkt in den Himmel führte.“

Während des Voice-OverVoice-Over wird auf der visuellen Ebene ein von einem Trümmerberg heruntersteigender Junge sichtbar. Er hat ein geschminktes Karnevalsgesicht und versucht, sich eine ‚Kippe‘ anzuzünden. Beim Voice-Over-Wort „Fringsen“ erfolgt ein Umschnitt auf das Titelblatt der „Rheinischen Tageszeitung“, das ein Großfoto von Köln in Trümmern zeigt und so den Film als historische Erzählung beglaubigt. Die kleine dokumentarische Schnittfolge endet mit der Etablierung einer Szene: eine Menschenschlange steht an einem Milchgeschäft an. Die Frau, die bereits aus der Kirchengemeinde visuell und auditiv herausgehoben wurde, stellt sich mit einem kleinen Jungen dazu. Ein Dialog zwischen beiden beginnt, der sich mit dem Voice-Over mischt. Die Erzählstimme aus dem Off ist als Stimme der Frau in der Schlange zu identifizieren, offensichtlich die Protagonistin des Films. Es ist also ihre Geschichte, die aus ihrem Rückblick erzählt wird. Auf der auditiven Ebene geht das Voice-Over nun in szenische Dialoge über, entsprechend werden auf der visuellen Ebene szenische Handlungen sichtbar: das raumzeitliche Filmgeschehen nimmt seinen Lauf. Die Handlung hat längst begonnen, da gibt es noch einmal eine Texteinblendung: „Köln im Sommer 1947“. Dieser außerfilmische Hinweis stellt noch einmal heraus, dass die Erzählung sich auf Ereignisse beziehen will, die sich 1947 in Köln und Umgebung tatsächlich zugetragen haben sollen.

[22]Der Spielfilm „Die Himmelsleiter“ (D 2015) ist darum bemüht, bereits mit den ersten Bildern die Lebensbedingungen der Kölner Bevölkerung des Jahres 1947 wieder sichtbar zu machen und ‚tote‘ Geschichte in eine lebendige filmische Gegenwart zu verwandeln. Die eingeblendeten Texte und die Voice-OverVoice-Over-Erzählung zeigen schon im Vorspann an, dass der Film ein Geschichtsfilm sein und vergangene Ereignisse im Hier und Jetzt glaubwürdig darstellen will. Zu diesem [23]Zweck konstruiert er eine sicht- und hörbare historische Lebenswelt, in der Schauspieler tatsächliche, mögliche oder fiktive historische Personen darstellen und Ereignisse nachspielen, die sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen haben können.

Der sichtbare Raum

Die Trümmerwelt der Jahre 1947/48, in der der Film durchgängig spielt, symbolisiert nicht nur die innere Verfassung der filmischen Akteure, sondern steht sichtbar und ganz konkret auch für die vielen zerstörten Städte der Nachkriegszeit. Die Glaubwürdigkeit des Films, die in den Textinserts des Filmanfangs behauptet wird, hängt deshalb in starkem Maße auch davon ab, dass dieser zerstörte Lebensraum authentischAuthentizität, authentisch, Authentifizierung gestaltet wird. Daran hat sich das Filmteam tatsächlich gehalten, allerdings nicht in Köln, sondern im entfernten Prag, wo man die passendere Location und auch die Fachkräfte für den Aufbau einer historischen Szenerie fand: Skulpteure, Stuckateure, Oberflächengestalter, Maler, Schreiner, Schlosser und so weiter. Jerome Latour (2015), der Szenenbildner des Films, erklärt: „Die Arbeit an dieser Produktion unterteilt sich in drei wesentliche Blöcke. Zum einen haben wir diese unglaublich große Industriebrache gefunden – eine ehemalige Zuckerfabrik, die wir als Ausgangspunkt für zwei zerstörte Kölner Stadtteile genommen haben. Nach aufwendigen Erdbewegungs- und Sicherungsarbeiten an den Ruinen haben wir angefangen, unsere eigenen Pflastersteinstraßen zu verlegen. Häuserfassaden und Gebäudefragmente bis zum zweiten Stockwerk wurden in die bestehenden Ruinen eingefügt, drei bespielbare Sets wurden im Inneren errichtet, Bäume wurde gepflanzt, um auch die unterschiedlichen Jahreszeiten leichter erzählen zu können. Zum anderen haben wir ein komplettes Studioset gebaut, um das Innere einer ruinierten Wohnung besser und kontrollierter drehen zu können. Und der große dritte Block bestand darin, existierende Originalmotive zu finden, die wir entsprechend auf Zeitreise schicken konnten. Das heißt, eine geeignete Grundstruktur vorzufinden, die wir mit historischen Ausstattungsgegenständen glaubwürdig auf 1947/48 herrichten konnten.“ In diesen, nach Ansicht vieler Kritiker überzeugend gestalteten filmischen Schauplätzen, entwickelt sich die Handlung.