Bangkok Rhapsody

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15

Der Mann schlenderte zufrieden den belebten Sukhumvit Boulevard entlang und zog dabei sein rechtes Bein ein klein wenig nach. Die Sonne brannte schon zu dieser Vormittagsstunde erbarmungslos und trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Als er die Haltestelle der Omnibuslinie 22 erreichte, trocknete er sich mit einem Taschentuch die Stirn und seine fettig-verschwitzte Nase, auf der eine wuchtige Hornbrille keinen rechten Halt mehr finden wollte. Der Mann hatte seinen freien Tag genutzt, um wieder einmal seinen Lieblingsbuchladen zu besuchen. Genau genommen war es eine Art Antiquariat, das der Besitzer in einem Hinterhof versteckt hatte. In dem zusammengewürfelten Durcheinander von gedrucktem Schund aus aller Herren Länder konnte man hier mit Geduld und etwas Glück durchaus Raritäten oder Kurioses entdecken. Der Mann hatte heute bemerkenswertes Glück gehabt: Unter Jahre altem Staub hatte er in einem der raumhohen Regale des verwinkelten Labyrinths eine gebundene Erstausgabe von George Orwells Tage in Burma aus dem Jahr 1934 ausgegraben und diese dann für lächerliche zehn US-Dollar erstanden. Er zog die kostbare Neuerwerbung aus der Umhängetasche. Wie war diese Perle der Weltliteratur wohl in diesen verborgenen Winkel Bangkoks gelangt? Die Antwort wäre womöglich noch interessanter als der Inhalt des Werkes, der dem Mann selbstverständlich bekannt war. Er strich nachdenklich über den ausgebleichten Leineneinband. Dabei fiel sein Blick auf seinen linken Ringfinger, an dem das letzte Glied fehlte. Er dachte wehmütig, wie unvollständig er sich seit dem Verlust dieses Teils seines Körpers fühlte, dem nüchtern betrachtet keine unverzichtbare Funktion zukam. Als nach gehöriger Wartezeit in praller Hitze in der Ferne endlich ein Omnibus auftauchte, trat der Mann dicht an die Bordsteinkante, beschattete seine Augen mit der ausgestreckten Hand und entzifferte erleichtert auf der Frontscheibe die Nummer 22.

Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, traf ihn ein Stoß, nicht einmal besonders heftig, aber ohne jede Vorwarnung. Im Grunde war es nur eine gezielte Berührung an der richtigen Stelle, die ihm das Gleichgewicht raubte. Er hatte schließlich die sechzig bereits überschritten und in seinem Leben noch nie Sport getrieben. Seine Beine konnten keinen Gegenhalt bieten und er stolperte auf die Fahrbahn, auf der in diesem Moment der farbenprächtig lackierte Bus der Linie 22 direkt auf ihn zu rollte. Bruchteile einer Sekunde später prallte die Stoßstange gegen sein Becken, er vernahm kreischende Bremsen, wurde zu Boden geschleudert, sah den wolkenlosen Himmel über Bangkok und wusste, dass dies sein Ende war. Reflexartig riss er seinen Rumpf noch einmal in die Höhe. Sein Blick traf den des Busfahrers, der mit weit aufgerissenen Augen nicht verhindern konnte, dass die Front des Fahrzeugs ein weiteres Mal das Opfer traf. Der letzte Gedanke, der durch das Gehirn des Mannes raste, war eine Frage: Warum musste sein Leben auf diese jämmerliche Weise enden? Er hatte doch noch so viele Pläne. Und seinen Tod, der ihn natürlich unweigerlich eines Tages ereilen würde, hatte er sich eindrucksvoller und heroischer vorgestellt. Dann zersplitterte sein Schädel. Knochenfragmente rammten sich in sein Gehirn, noch ehe das erste Blut aus dem zertrümmerten Haupt herausquoll. Schließlich verdrängte eine eisige Finsternis die glutheiße Helligkeit, die ihn noch eben umhüllt hatte.

16

Penelopes Chef Richard McGrowan hatte ins exklusive Sukhothai-Hotel geladen. Goldstein & Schulman vertraten weltweit überwiegend hochprofitable Mandate, deren Vergütung bei eintausend Dollar pro Stunde begann. An diesem Vormittag stand allerdings die erste NGO Network Convention auf dem Programm, welche die New Yorker Anwaltskanzlei in Bangkok durch ihre dortige Niederlassung veranstalten ließ. Diese Wohltätigkeitsveranstaltungen waren eine Herzensangelegenheit der Kanzleigründer Aaron Goldstein und Randolph Schulman und in Manhattan längst eine feste Einrichtung. Hier wurde sozial engagierten Nichtregierungsorganisationen eine gesellschaftliche Plattform gegeben, auf der man Beziehungen pflegte, Kontakte knüpfte und um Spenden warb. Dazu erschienen regelmäßig die Vertreter der Presse und diverser Fernsehstationen.

Richard, seine Assistentin Nup und Penelope Owens standen am Eingang zur Mahamek-Lounge und verfolgten das Defilee der humanitären High Society Thailands. Der Österreicher Alfons Obermayr von Expertisis, einer Vereinigung, die pensionierte europäische Fachkräfte für freiwillige Aufbauarbeit in unterentwickelte Regionen Südostasiens vermittelte, überraschte Nup und Penelope mit einer Schachtel Mozartkugeln. Loraine Chepawaki vertrat mit beeindruckender Körperfülle die amerikanische Methodist Development Agency, die sich dem kompletten Spektrum sozialer Missstände anzunehmen versprach, sofern das übergeordnete Ziel der christlichen Missionierung dabei nicht zu kurz kam. Schließlich begrüßte Penelope Mrs. Chantrakal, die als Präsidentin der South-East-Asia Division von ECPAT vorstand. Die feine Dame der thailändischen Upperclass hatte erst kürzlich den Conrad-Hilton-Preis entgegengenommen, mit dem das Engagement ihrer Organisation gegen die Kinderprostitution gewürdigt wurde.

„Die musst du dir merken. Bestens vernetzt und mit großem Einfluss in Thailand“, flüsterte Penelope William zu. Seit dem Abendessen an der Tuk-Tuk-Garküche duzten sie sich und Penelope hatte William zu diesem Empfang eingeladen. Sie entboten Mrs. Chantrakal einen respektvollen Wai, dann raunte Penelope: „Was gibt’s Neues von Mazzini?“

„Ich habe Persitzky observiert. Es passt alles. Er hat einen verkrüppelten Finger.“

Penelope blickte William fragend an.

„Mazzini hatte in jungen Jahren einen Unfall, bei dem er einen Teil seines linken Ringfingers verloren hat. Ich habe Persitzkys Apartment durchsucht. Auf dem Nachttisch steht eine Fotografie von Mazzinis Mutter Holly, außerdem habe ich Manuskripte gefunden. Hatte ich dir erzählt, dass Persitzky schreibt?“

Lost Souls of Bangkok. Ich erinnere mich“, bestätigte Penelope und schlug vor, dass sie sich für einen Moment zurückziehen sollten, damit sie ungestört sprechen konnten. Als sich die illustre Gästeschar dem Buffet widmete, traten Penelope und William auf den großzügigen Dachgarten hinaus, wo die Mittagshitze sie fast erschlug. William entdeckte ein halbwegs schattiges Plätzchen unter einem Bananenhain und fuhr mit seinem Bericht fort: „Persitzky skizziert seine Romankapitel mit der Hand, ehe er sich an den Computer setzt. Die Entwürfe tragen Mazzinis Handschrift.“

In diesem Augenblick bemerkten sie, wie Richard McGrowan mit einem graugelockten Farang und einem untersetzten Thai in einer Polizeiuniform auf sie zuhielt.

„Darf ich zwei gute Freunde unserer Kanzlei vorstellen?“

Penelope, die seit einem guten halben Jahr für Goldstein & Schulman in Bangkok tätig war, kannte natürlich den Polizeioffizier, dessen goldene Sterne auf den Schulterklappen in der Sonne funkelten. Dem vielleicht sechzigjährigen Ausländer mit der Albert-Einstein-Frisur war sie dagegen noch nicht begegnet.

„William LaRouche, das ist Lieutenant General Vitikorn, der Polizeidirektor von Bangkok. Penelope, ihr kennt euch ja bereits.“

Penelope verbeugte sich und deutete einen Wai an. Sie hatte William schon zu Beginn der Veranstaltung informiert, dass auch Bangkoks Polizeichef eingeladen war, dem Jonathan ein paar Basisinformationen zugesteckt hatte, damit man bei der Jagd auf Mazzini im Notfall rasch auf lokale Unterstützung zugreifen konnte. Nun griff William nach Vitikorns ausgestreckter Hand, die sich weich und biegsam anfühlte.

„Nice to meet you“, behauptete der Polizeigeneral. William nickte stumm.

„Und hier haben wir Dr. Jürg Bertoli, den Gründer des Baan Jai Dii, einer Einrichtung, die sich um alleinstehende ältere Menschen sorgt.“

Wieder gehörte Penelope die erste Aufmerksamkeit. Bertoli reichte ihr die Hand.

„Nice to meet you, Dr. Bertoli.“

„Oh, meine Liebe, nicht so förmlich. Ihr Name ist Penelope? Nennen Sie mich einfach Jürg. Ich bin schon lange in Bangkok. Auf Empfängen und Veranstaltungen trifft man immer wieder auf die gleichen Nasen. Es ist ein wenig wie in den Schweizer Bergen. Dort freuen sich die Bewohner der engen Täler, wenn gelegentlich ein neues Gesicht auftaucht. Vor allem, wenn es ein so attraktives ist wie das Ihre“, schmeichelte Bertoli und berührte väterlich Penelopes Unterarm, die eine Visitenkarte aus einem Etui entnahm und diese mit beiden Händen, wie in Asien üblich, überreichte.

„Und Sie sind William LaRouche, der Amerikaner mit dem eleganten französischen Nachnamen. Wie ich hörte, sind Sie Journalist?“ Neugierige graublaue Augen blickten William an, ein herzlicher Händedruck folgte.

„Ich arbeite als freier Mitarbeiter in der Online-Redaktion der Times-Picayune in New Orleans. Leider musste das Blatt seine Printausgabe vor ein paar Jahren einstellen“, antwortete William mit einer Mischung aus Flunkerei und Wahrheit.

„Möchten Sie nicht einmal über mein Seniorenheim Baan Jai Dii berichten?“

„Warum nicht?“, stellte William in Aussicht; dabei fiel sein Blick auf Bertolis linke Hand. Er stutzte einen Augenblick und verwarf seinen Gedanken sofort wieder. Das, was er da gesehen hatte, musste ein Zufall sein. In diesem Moment steuerte ein junger Mann, umhängt mit allerlei Gerätschaften, auf ihre Gruppe zu.

„Ah, der Fotograf der Bangkok Post. Nukatet ist Ihr Name, wenn ich mich recht entsinne“, begrüßte Richard den jungen Mann, der kurz darauf eine Kamera in Anschlag brachte.

„Khun Richard, Sie haben ein ausgezeichnetes Gedächtnis“, lobte der Thailänder auf Englisch und ließ es etliche Male klicken.

 

„Noch einmal lächeln! Wie schön. Eine asiatische Blume im Kreis von vier eleganten Gentlemen.“

„Khun Nukatet, wann wird der Artikel über unsere Veranstaltung in der Bangkok Post erscheinen?“, wollte Penelope auf Thai wissen.

„Oh, Sie sprechen Thai?“, gab der Fotograf überrascht zurück, blieb aber im Englischen. „Ich schieße nur die Fotos. Ich vermute, die Reportage wird am Wochenende in der Rubrik People & Life platziert.“

Als sich der Pressefotograf wieder in Richtung des Buffets zurückgezogen hatte, wandte sich Penelope an Bertoli. „Jürg, erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit in Thailand.“

„Das mache ich gerne. Aber zuerst stärken wir uns am Buffet.“ Diesmal blickte Bertoli zu William und berührte ihn freundschaftlich am Oberarm. „Junger Mann, Sie sehen so aus, als könnten Sie ordentlich zulangen. Der Chefkoch ist ein Landsmann von mir und hat ein paar besondere Delikatessen vorbereitet. Sie müssen unbedingt die Luzerner Rösti und den echten Emmentaler Käse probieren.“

Die kleine Gruppe setzte sich, Bertolis Vorschlag folgend, in Bewegung und hatte das Buffet noch nicht ganz erreicht, da meldete Williams Mobiltelefon einen Anruf. Er zog das Gerät heraus, erkannte die Nummer und nahm das Gespräch an.

„Mr. LaRouche?“

„Andy, was gibt’s?“ William trat ein paar Schritte zur Seite und verbarg die Lippen hinter der vorgehaltenen Hand, eine Angewohnheit, die noch aus alten FBI-Zeiten in ihm steckte.

„Ich habe keine guten Nachrichten.“ Andy war undeutlich zu verstehen, er schien sich an einem belebten Ort aufzuhalten.

„Was ist passiert?“

„Herbert Persitzky ist tot. Ein Verkehrsunfall.“

17

In weniger als einer halben Stunde hatte Vitikorns Dienstlimousine das Polizeihospital erreicht. William und Penelope sprangen aus dem Wagen, der Lieutenant General folgte geruhsamen Schrittes, am Ohr sein Mobiltelefon. Der Polizeichef hatte ohne Umschweife seine Hilfe angeboten, obgleich sich ihm der Zusammenhang des Verkehrstoten mit der Mazzini-Fahndung offenkundig nicht erschloss.

William fluchte. Immer wieder war in seinen Unterlagen über das angebliche Ableben Mazzinis berichtet worden. In den 1990er Jahren war er in Südafrika an einer Lungenentzündung verstorben. Ein halbes Jahrzehnt später verunglückte er tödlich beim Absturz eines Kleinflugzeuges in Indonesien, und der bislang letzte bekannt gegebene Tod ereilte ihn erst vor wenigen Jahren, als er in Bukarest bei einer Gasexplosion verbrannte.

Als sie die weißgekachelten Räume der rechtsmedizinischen Abteilung betraten, schlug ihnen der Geruch des Todes entgegen. Penelope, für die der Besuch einer derartigen Einrichtung eine Premiere war, fröstelte.

„Es ist nur die Formalinlösung, die so unangenehm riecht“, beruhigte William die junge Wirtschaftsjuristin. Vitikorn hatte inzwischen sein Telefonat beendet und wandte sich dem diensthabenden Pathologen zu. „Meine ausländischen Freunde möchten einen kurzen Blick auf das Opfer des Verkehrsunfalls von heute Vormittag werfen.“

„Welches Opfer hätten Sie denn gerne?“, presste der in blaue Schutzkleidung gehüllte Mann durch seinen Mundschutz. „Bis zur Mittagspause wurden vier Verkehrstote eingeliefert.“

„Persitzky. Herbert C. Persitzky“, erklärte William, „amerikanischer Staatsbürger, Anfang sechzig, der Ringfinger der linken Hand verkrüppelt.“

„Ah, unser VIP. Alle anderen sind Asiaten“, brummte es unter dem Mundschutz. „Ausländer werden bei uns bevorzugt behandelt. Er liegt noch auf dem Untersuchungstisch.“

„Sehen Sie, meine liebe Penelope und verehrter Mr. La-Rouche“, mischte sich der Polizeichef ein. „Meine Mitarbeiter bemühen sich ohne Verzögerung, die bedauerlichen Unfälle von Touristen aufzuklären. Dieser unermüdliche Einsatz hätte meiner Meinung nach eine Würdigung in der internationalen Presse verdient.“

Der Polizeiarzt korrigierte seinen Chef: „Lieutenant General, der Mann hatte keinen Unfall. Er wurde aller Wahrscheinlichkeit nach vorsätzlich getötet. Es gibt Zeugen, die gesehen haben, wie ein Unbekannter ihn vor den Bus gestoßen hat. Der Täter ist leider entwischt.“

„Natürlich war es ein Unfall! Der Mann hatte vermutlich nicht mehr alle Sinne beisammen. Hat sein Gleichgewicht verloren“, fuhr Vitikorn nun auf Thai seinen Mitarbeiter an. „Sie wissen doch so gut wie ich, dass jeder zweite Ausländer in Bangkok spätestens bis mittags stockbetrunken ist. Es war ein unglückliches Missgeschick. Möglicherweise ist er auch auf einer Bananenschale ausgerutscht, meinetwegen in nüchternem Zustand und ohne Selbstverschulden. Ich will bis Dienstschluss Ihren Bericht in diesem Sinne auf meinem Schreibtisch sehen.“ Dann wandte er sich in englischer Sprache wieder an seine beiden Begleiter: „Persatzki hatte einen Unfall. Ausgerutscht auf einer Bananenschale. Ich versichere Ihnen, meine Männer werden diese Sache so rasch wie möglich bearbeiten, damit die Angehörigen nicht im Ungewissen bleiben und die Lebensversicherungen keine Ausreden haben.“

Natürlich hatte William Vitikorns Anweisung an den Polizeiarzt verstanden und sah wieder einmal seine Vorbehalte gegenüber asiatischen Polizeibehörden bestätigt. Es war alles beim Alten geblieben: die Unterschlagung von Fakten, das Ignorieren von Zeugenaussagen, der Missbrauch hierarchischer Strukturen. Es hatte keinen Zweck, sich darüber zu ärgern.

„Lieutenant General, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Andeutungen Ihres Mitarbeiters prüfen würden“, schaltete sich Penelope ein, die ihre Empörung schlecht verstecken konnte.

„Lieutenant General, der Mann heißt Persitzky, nicht Persatzki“, glättete William die aufkommenden Wogen in unterwürfigem Ton. „Kein Mensch zweifelt an der rechtmäßigen Untersuchung. Die bemerkenswerte Arbeit thailändischer Polizeibeamter ist auch in Amerika hinlänglich bekannt. Lieutenant General Vitikorn, Sie sind ein Mann mit großer Erfahrung, ganz sicher war es ein Unfall. Das Opfer war einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort, dazu kam dann noch die dumme Bananenschale. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich dennoch einen kurzen Blick auf Mr. Persitzky werfe?“

Vitikorn rollte mit den Augen, gab aber dem Polizeimediziner einen Wink in Richtung des Labors, in dem der aufgebahrte Leichnam von zwei weiteren Blauverhüllten untersucht wurde. Als sie an den Inspektionstisch traten, drehte sich Penelope erschreckt ab. Persitzkys Gesicht war praktisch nicht mehr vorhanden. Die Stoßstange des Omnibusses war offenbar frontal auf die Stirnregion geprallt. Nur noch eine schleimig-rote Gewebemasse war übrig geblieben, umrandet von ein paar Fragmenten des Kiefers und des Jochbeins. Großflächige Schürfwunden verteilten sich über den entblößten Körper. Die Brustbehaarung war mit Blutkrusten und Schmutz verklebt. Penelope hielt sich eine Hand vor den Mund und eilte aus dem unterkühlten Raum.

„Sind Sie jetzt zufrieden?“, wollte Vitikorn wissen.

„Auf jeden Fall kann ich bestätigen, dass es Persitzky ist“, entgegnete William und zeigte auf das fehlende Glied des linken Ringfingers. Sein Blick traf die rechte Hüfte des Toten, an der eine zwanzig Zentimeter lange Narbe zu sehen war. Auch das passte. Mazzini hatte sich vor einigen Jahren einer aufwendigen Hüftoperation unterzogen. Einer der beiden Untersucher hob Persitzkys rechten Arm ein wenig in die Höhe. Dabei fiel Williams Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf eine Tätowierung im Achselbereich.

„Darf ich mal?“

William schlüpfte in eine paar Untersuchungshandschuhe und tastete den rechten Arm der Leiche ab. Der Rigor mortis, die Totenstarre, hatte erst die Muskulatur im Nackenbereich erfasst, was sich mit dem angegebenen Zeitpunkt des Todes deckte. William spreizte Persitzkys Arm zur Seite ab und untersuchte das jahrzehntealte Tattoo. Es zeigte einen etwa drei Zentimeter großen Davidstern, unter dem fünf verblasste Ziffern zu erkennen waren. William schüttelte ungläubig den Kopf und las die Zahlenreihe: „Zwei – sieben – eins – vier – fünf.“

18

Nachdem sich Penelope verhalten und William ausgesprochen respektvoll von Bangkoks Polizeichef verabschiedet und das General Police Hospital verlassen hatten, stiegen sie die Stufen zum Sky Walk hinauf. Wortlos schlenderten sie auf der in luftiger Höhe schwebenden Fußgängerpassage den gläsernen Einkaufsparadiesen in der Umgebung der BTS-Station Siam Central entgegen. Nach der eisig-bedrückenden Atmosphäre in den Laborräumen der Rechtsmedizin genossen sie die wärmende Kraft der Sonne und kehrten in das erstbeste Café ein, das sie beim Betreten der Siam-Paragon-Shoppingmall entdeckten. Der Geruch des frisch zubereiteten Kaffees und die Düfte einer benachbarten Parfümerie vertrieben langsam den Formalingestank, der sich in Penelopes Nasenepithel verbissen hatte.

„Warum bist du mir in den Rücken gefallen? Der Lieutenant General vertuscht einen Mord und du sagst keinen Ton dazu“, beklagte sich Penelope enttäuscht, als die Kellnerin zwei große Tassen Milchkaffee brachte. William strich eine Papierserviette glatt und zog einen Kugelschreiber aus der Tasche seiner Cargohose. Dann zeichnete er einen Davidstern und setzte die Zahlen Zwei, Sieben, Eins, Vier und Fünf darunter.

„Hast du so etwas schon einmal gesehen?“

William schob die Skizze zu Penelope.

„Was soll das darstellen? Was hat das mit Mazzini zu tun? Beantworte lieber meine Frage: Warum bist du mir in den Rücken gefallen?“

„Das ist das Symbol der Auschwitz-Gesellschaft.“

„Na und? Ich habe heute genug erlebt. Ich will nach Hause“, antwortete Penelope trotzig. Sie war empört und erschöpft und sehnte sich nach einer Dusche.

„Penelope, wir sind im Einsatz. Unsere Suche nach Mazzini ist kein Blindekuh-Spiel wie auf einem Kindergeburtstag, bei dem man einfach nicht mehr mitmacht, wenn einen die Lust verlässt.“ Kaum ausgesprochen, bedauerte William auch schon seinen oberlehrerhaften Ton. Für einen Moment herrschte beklommene Stille, dann hob Penelope müde die Hand. „William, was ich dir jetzt sage, sage ich nur einmal: Du bist der Fahnder. Ich bin Juristin, habe einen vollen Terminplan und presse trotzdem noch etliche Zeitfenster hinein, um dich, Melinda und Jonathan unentgeltlich zu unterstützen. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, warum du mich in dieses beschissene Polizeihospital und in die noch beschissenere Leichenabteilung geschleppt hast. Das ist nicht mein Job. Es ist dein Job, Mr. LaRouche.“ William und Penelope griffen fast gleichzeitig zu ihren Kaffeetassen. Schweigend nippten sie an den Getränken.

„Sorry, ich hab’s nicht so gemeint.“ Es war William, der sich zuerst ein Herz fasste.

„Da bin ich anderer Meinung! Ich denke schon, dass du es genau so gemeint hast“, gab Penelope scharf zurück und ihr Gegenangriff war noch nicht beendet. „Vielleicht bist du tatsächlich ein Exposer-Genie, das gibt dir aber noch lange nicht das Recht, mit mir in diesem Ton zu sprechen. Kein Wunder, dass sich deine Frau von dir getrennt hat.“

Der letzte Satz Penelopes hatte William schwer getroffen. Nicht Ann-Louise hatte sich von ihm getrennt. Er war es gewesen, der die Scheidung eingereicht hatte, weil er nach seiner Rückkehr aus Thailand keinem Menschen auf der Welt seine deformierte Seele zumuten wollte. Er schüttelte resigniert den Kopf. Was wusste diese Frau schon von seinem Leben. William nahm sich vor, zukünftig größere Distanz zu Penelope zu halten, auch wenn es ihm gewiss nicht leichtfallen würde.

„William, entschuldige bitte. Ich bin zu weit gegangen. Es steht mir nicht zu, über dein Privatleben zu urteilen. Aber ich wollte damit nur sagen …“ Penelopes Stimme hatte mit einem Mal jede Schärfe verloren und eine weibliche, harmonische Intonation angenommen. „William, ich mag dich. Lass uns nicht streiten. Es tut mir wirklich leid. Ich habe natürlich Interesse an deiner Arbeit. Die Suche nach Mazzini ist unser gemeinsames Projekt.“ Nachdem Penelope vergeblich versucht hatte, Blickkontakt aufzubauen, tastete sie zögerlich nach Williams Hand.

„Ist schon okay. Du hast recht. Es ist mein Job, nicht deiner.“ Williams Stimme klang unsicher und verletzt, während sich gleichzeitig die Wärme von Penelopes Handfläche auf seinen Körper übertrug. Er wünschte sich, dass diese zarte Berührung niemals enden würde. Penelope wusste nicht, was in diesen Momenten in William vorging. Sie spürte aber, wie sehr er ihre Nähe genoss und wie auch sie selbst sich zu diesem komplizierten Mann hingezogen fühlte.

 

„Ein Davidstern, in Verbindung mit Zahlen? Hatten nicht die Nazis jüdische Häftlinge mit einer Nummer gekennzeichnet?“, holte Penelope sich und William wieder in die ungemütliche Realität zurück und bestellte kurz darauf einen doppelten Espresso. Auch William fand langsam wieder zu seiner professionellen Konzentration zurück. „Die Auschwitz-Gesellschaft ist eine Vereinigung der Nachkommen jüdischer Gefangener des Konzentrationslagers Auschwitz.“

„Hatte Mazzini womöglich jüdische Angehörige in Auschwitz?“ Penelope blickte irritiert auf. „Das wäre ein grandioser Treppenwitz der Geschichte: der amerikanische Staatsbürger Mazzini, einer der skrupellosesten Initiatoren von organisiertem Massenmord in der jüngeren Geschichte, ein Nachfahre jüdischer KZ-Opfer? Unfassbar für alle Juden der Welt. Eine Katastrophe für das jüdische Amerika.“

„Du hättest den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn Persitzky tatsächlich Larry Mazzini wäre. Habe ich dir wirklich noch nicht erzählt, wer Mazzinis Vater war?“

„Nein.“

Penelope erinnerte sich nicht, dass in ihrem mageren Informationsmaterial Mazzinis Eltern erwähnt wurden.

„Also“, spann William seinen Faden weiter, „Kein Mensch trägt ohne Grund eine solche Tätowierung. Ich bin mir absolut sicher, Herbert Persitzky war jüdischer Abstammung. Damit steht gleichzeitig fest: Er kann nicht Larry Mazzini gewesen sein.“

„Warum bist du so sicher? Du hast seine Wohnung durchsucht und eine Menge Beweise gefunden, er hat den verkrüppelten Finger …“, wandte Penelope ein.

„Der echte Mazzini hat keine jüdischen Vorfahren. Seine Mutter war die italo-amerikanische Go-Go-Tänzerin Holly Mazzini. Holly stammte aus einer sizilianischen Familie, in der die Blutehre heilig war. Eine Beziehung zu einem Juden wäre unmöglich gewesen. Sie war die erste ihres Clans, die eine Verbindung mit einem Nicht-Sizilianer, immerhin einem Katholiken, gewagt hatte und von eben diesem Mann 1950 schwanger wurde. Ihr Liebhaber und Larrys Vater war die Bestie von Auschwitz: SS-Hauptsturmführer Josef Mengele, Chefarzt im KZ-Hospital, der nach dem Kriegsende in Südamerika untertauchte“, schnaubte William mit einer Mischung aus Wut und Ernüchterung und lies sich gegen die Rückenlehne seines tiefen Polstersessels fallen. „Und noch etwas ist ziemlich sicher: Mazzini hat gewusst, dass Persitzky Jude war. Er hat uns an der Nase herumgeführt und macht sich einen Spaß aus unserer Suche.“

„Was bedeuten die Zahlen unter dem Davidstern?“ Penelope deutete auf Williams Serviettenskizze.

„Zwei – sieben – eins – vier – fünf steht für den 27. Januar 1945, das war der Tag, an dem Auschwitz von der russischen Armee befreit wurde.“

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