Bangkok Rhapsody

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12

Penelope Owens war mittlerweile allein im Bangkoker Büro von Goldstein & Schulman. Richard McGrowan, der Niederlassungsleiter, war mit einem Rudel Kollegen zu einem Geschäftsessen davongeeilt und auch Nup, die Chefsekretärin, hatte sich in den Feierabend verabschiedet. Es war halb acht abends, als sie die Internetverbindung der amerikanischen Justizministerin anwählte. Melinda Rodriguez und Jonathan Robson hatten in Erwartung ihres Anrufs bereits den großformatigen Bildschirm für Videokonferenzen eingeschaltet und begrüßten Penelope mit Frühstückskaffee und Frischkäse-Bagels.

„Hallo, Schätzchen, du siehst großartig aus. Kommst du in Bangkok zurecht?“ Melinda kannte Penelope schon seit deren Kindertagen, als sie selbst noch Studentin von Andrew J. Owens war, der vor seiner Berufung an den Supreme Court an der juristischen Fakultät in Harvard gelehrt hatte.

„Guten Morgen, Amerika. Hallo, Melinda und Jonathan.“

„Schätzchen, fassen wir uns kurz. Ich habe gleich einen Termin beim Präsidenten, und du hast bestimmt auch noch etwas Nettes vor.“

„Penelope, welchen Eindruck hast du von William La-Rouche?“, begann Jonathan.

„Schwierig zu sagen. Ich kann den Mann nach der ersten Begegnung noch nicht einschätzen“, gab Penelope zu und erinnerte sich dabei, wie herausfordernd der ehemalige FBI-Agent sie immer wieder gemustert hatte.

„William ist der richtige Mann für diese Aufgabe. Ich hätte dir sagen sollen, dass er etwas verschroben ist. Aber ich garantiere für seine Integrität. Du kannst ihm vertrauen“, versicherte Jonathan.

„Penelope, Schätzchen“, mischte sich Melinda wieder ein, „du behältst LaRouche im Auge. Bleib an ihm dran, so schwer wird dir das doch nicht fallen. Der Bursche sieht doch ganz manierlich aus.“ Die Ministerin hob ein Foto von William in die Kamera und zwinkerte Penelope auffordernd zu.

„Melinda!“ Jonathan rollte mit den Augen. „Das ist eine Aufnahme, die LaRouche als Special Agent bei seinem ersten Einsatz in Kalifornien zeigt. Der Mann ist mittlerweile fünfzehn Jahre älter und ein paar Pfund schwerer geworden.“

„Okay, okay. Du klärst das mit Penelope. Wir sehen uns dann später“, entschuldigte sich die Ministerin und verschwand aus dem Bild.

„Melinda sieht in William nur den Agenten“, erklärte Jonathan mit gesenkter Stimme, obwohl seine Chefin bereits das Konferenzzimmer verlassen hatte. „Ich war mit seinem Dad in Vietnam und Kambodscha und kenne Bill schon seit Jahrzehnten. Es ging ihm in letzter Zeit nicht besonders gut.“

„William hat ein paar Andeutungen in diese Richtung gemacht. Bist du sicher, dass er mental stabil genug ist, um sich mit einem Mann wie Mazzini anzulegen?“

Es knackte in der Leitung. Das Bild flackerte für ein paar Sekunden. Dann stand die Verbindung wieder.

„Er wird es schaffen. Bill ist der beste Exposer, den ich kenne. Dieser Auftrag ist für ihn auch eine Chance, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Und entschuldige Melindas Taktlosigkeit. Im Grunde wollte sie dich nur um Folgendes bitten: Wäre es dir möglich, Bill aufzufangen, sollte er wider Erwarten eine dunkle Stunde erwischen?“ Jonathan hielt kurz inne, um dann hinzuzufügen: „Sofern er es zulässt.“

„Ich werde mich um William kümmern, wenn es die Situation erfordert und er es zulässt“, wiederholte Penelope und verabschiedete sich nachdenklich von Jonathan und dem morgendlichen Washington. Auch Jonathan war noch ganz in Gedanken, als er zu Melinda Rodriguez zurückkehrte, die ihn in ihrem Amtszimmer mit dem Zeitplan für den Tag erwartete.

„Du behauptest also, William LaRouche ist ein Genie. Ein Genie, das ein Kindermädchen braucht. Bist du dir sicher, dass Penelope dafür die richtige Wahl ist?“, entfuhr es Melinda.

„Du warst eben unmöglich. Ein Elefant im Porzellanladen geht behutsamer vor. Und zu Penelope: Ich kenne Andrews Tochter nicht so lange, wie du sie kennst. Aber ich bin überzeugt, sie ist sensibler, als du es jemals sein wirst.“ Nur Jonathan durfte so mit der Ministerin sprechen. Er hatte die politische Karriere der ehrgeizigen Tochter eines mexikanischen Viehhirten über Jahre loyal begleitet und unterstützt. Er schätzte ihren unermüdlichen Einsatz für die amerikanischen Minderheiten, die in der Summe betrachtet inzwischen die Mehrheit der Bevölkerung stellten. Jonathan bewunderte zudem Melindas Konsequenz, wenn es um die Strafverfolgung von Verbrechern ging. Anders als die meisten ihrer Parteifreunde vertrat sie hier eine Null-Toleranz-Politik und kannte bei der Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten keine Freunde und Genossen, was sie in den eigenen Reihen und in den liberalen Medien zu einer Reizfigur hatte werden lassen.

„Jonathan, du weißt, dass ich die Gewalt autoritärer Eliten, die ihre Völker unterjochen, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfe. Dass Mazzini sich als amerikanischer Staatsbürger diesen Diktaturen als Folterspezialist andient, ist unerträglich. Ich will an diesem Mann ein Exempel statuieren. Die Welt soll sehen, wie die Justiz der Vereinigten Staaten Verbrecher vom Schlage eines Mazzini aus dem Verkehr zieht.“

Jonathan war grundsätzlich der gleichen Meinung, fand aber, dass Melinda mitunter undiplomatisch voranschritt. Statt einer abgestimmten multinationalen Aktion, plante sie im Mazzini-Fall einen Alleingang, um die von ihr geringgeschätzte internationale Gerichtsbarkeit zu umgehen.

„Nimm nur den Fall Mazzini“, hob die Ministerin wie auf Bestellung an. „Der internationale Haftbefehl verstaubt seit Jahren irgendwo in einer Schublade der Bürokratie. Der Strafgerichtshof in Den Haag ist ein zahnloser Papiertiger. Nichts ist passiert. Der Kerl läuft immer noch frei herum und treibt sein Unwesen. Wir sind gottlob nicht Mitglied in diesem Klub der Weicheier. Mazzini wird vor ein ordentliches amerikanisches Gericht gestellt. Ein zügiger Prozess nach amerikanischem Recht, das keinen Verteidiger-Hokuspokus zulässt und in ein paar Bundesstaaten auch noch mit der Todesstrafe enden kann.“

Melinda verfolgte unnachgiebig ihre Linie, denn sie hatte große Pläne. Die Unterstützung der Latinos, erheblicher Teile des schwarzen Amerikas, der Frauenverbände und der Intellektuellen der Ostküsten-Metropolen war ihr sicher. Um als erste Frau in der amerikanischen Geschichte als Präsidentin ins Weiße Haus einziehen zu können, benötigte sie jedoch zusätzliche Stimmen aus der konservativen weißen Mittelschicht. Ein Schauprozess gegen einen Feind Amerikas, der im südostasiatischen Dschungel brave amerikanische Farmerjungs aus dem mittleren Westen gefoltert und ermordet hatte, war insofern für sie ein probates Mittel zum Zweck.

13

Nurathat Chatchawan blinzelte benommen auf das Display seines Smartphones. Er hatte mit Freunden gepokert, dabei etliches getrunken und noch mehr verloren. Spät in der Nacht war er ins Bett getaumelt, ohne noch das ganze Ausmaß seines Verlustes wahrgenommen zu haben. Wer wollte ihn nun um halb fünf morgens sprechen? Etwas Angenehmes konnte das kaum sein. Als er die Nummer des ankommenden Anrufs erkannte, schoss er in die Höhe.

„Andy am Apparat. Sir? Was kann ich für Sie tun? Es ist sehr früh …“, stammelte dieser mit schwerer Zunge.

„Ich habe eine Aufgabe für dich. Es ist dringend.“ Die schneidende Stimme des Anrufers ließ keinen Zweifel offen, dass bei einem Misserfolg Unangenehmes zu erwarten war. Die nächsten Minuten saß Andy kerzengerade an der Bettkante und hörte so konzentriert, wie es in seinem Zustand möglich war, zu. Er bestätigte immer wieder mit „Yes, Sir!“ oder „Verstanden, wird erledigt!“, um dann ein letztes Mal seine Dienstbeflissenheit zu bekunden. „Sir, Sie können sich auf mich verlassen.“

Als der Auftraggeber seine Anweisungen beendet hatte, sank Andy ermattet zurück ins Laken. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Der Anrufer hatte schier Unmögliches von ihm verlangt. Würde es ihm dennoch gelingen, einigermaßen glimpflich aus dieser verzwickten Situation herauszufinden?

Sie fuhren schweigend mit der Rolltreppe in die zweite Etage des BACC, dem Kunst- und Kulturzentrum von Bangkok. Dort betraten sie ein Café, das belgische Waffelspezialitäten anbot. William bestellte einen Cappuccino, Andy einen Doubleshot, der einem doppelten Espresso entsprach. Andys Haare standen wirr in alle Richtungen, sein jugendliches Gesicht wirkte in dem künstlichen Licht des Lokals blutarm und gelblich-fahl.

„Ich habe erfreuliche Nachrichten“, verkündete Andy, der seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckte.

„Ich höre.“

William rührte in seinem Cappuccino und dachte dabei, in welch jämmerlichem Zustand Jonathan ihn vor nicht einmal zwei Wochen in seinem Büro in Hoboken angetroffen hatte. Andy hatte vermutlich nur ordentlich mit Freunden gefeiert und stand nun tapfer seinen Mann. Dieser junge Ermittler gefiel ihm. Penelope hatte bei der Selektion seines Assistenten die richtige Wahl getroffen.

„Möchten Sie etwas essen?“

William schob Andy die Speisekarte zu.

„Nein, danke“, lehnte Andy ab. „Es gibt eine erste Spur. Ich habe einen Hinweis von einem früheren Kollegen erhalten, der mittlerweile im Immigrationsbüro tätig ist.“

Ein Touristenpaar nahm an einem Ecktisch Platz. Sie bestellten Waffeln mit Zimtsahne und Nougatcreme. Dann bauten sie ihre Tablets auf und jeder für sich entfloh schweigend in seine private Virtualität. William zog den Löffel aus der Tasse und legte ihn behutsam auf die Untertasse.

„Das ist Herbert C. Persitzky. Ich habe mir erlaubt, ein paar Fotos aus der Entfernung zu schießen. Bitte entschuldigen Sie die schlechte Qualität.“ William nahm die Aufnahmen entgegen, die einen älteren Herrn mit schütterem, grauem Haar und einer altmodischen Hornbrille zeigten.

 

„Laut Auskunft der Ausländerbehörde wurde Persitzky am 20. April 1951 in Buenos Aires geboren, ist amerikanischer Staatsbürger und seit 2003 mit einem Dauervisum und einer Arbeitserlaubnis in Bangkok gemeldet. Ich werde in den nächsten Tagen die Echtheit der von Persitzky vorgelegten Immigrationsdokumente überprüfen“, erläuterte Andy seine Nachforschungen. William untersuchte auf den Fotografien die Gesichtspartie und, soweit erkennbar, die Hände Persitzkys.

„Gute Arbeit, Andy. Womit verdient der Mann seinen Lebensunterhalt?“

„Er arbeitet stundenweise als Verkäufer für Importweine und Spirituosen in einem Feinkostgeschäft in der Shoppingmall Siam Paragon. Außerdem schreibt er unter einem Pseudonym Kriminalromane, Thriller und Ähnliches.“

„Unter Pseudonym?“ William spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Andys Entdeckung schien vielversprechend.

„Sein Autorenname ist Lawrence Fisher. Sein Thriller Lost Souls of Bangkok hat sich vor ein paar Jahren gut verkauft. Es gab sogar Pläne für eine Verfilmung, die aber im Sande verlaufen sind“, erklärte Andy.

„Lawrence Fisher? Nie gehört. Wo wohnt Persitzky?“

„Er hat sich erst kürzlich ein Apartment in Sukhumvit Soi 31 gekauft, eine ziemlich teure Gegend. Dort leben viele Expatriates, leitende Angestellte ausländischer Konzerne und reiche Ausländer.“

Andy schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und William sah in rotgeränderte Augen.

„Das haben Sie ausgezeichnet gemacht!“, lobte William ein weiteres Mal. „Legen Sie sich jetzt ein paar Stunden aufs Ohr. Ich rufe Sie an, wenn ich Persitzky gesehen habe.“

„Okay, Boss.“

Andy tippte sich zum Abschied militärisch knapp an die Schläfe und verließ das Café in Richtung des Museumsausgangs. William legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und betrat den Rampenaufgang, der sich spiralförmig um den Lichthof des kathedralen Gebäudeinnenraumes wand und in die Ausstellungsebenen der höher gelegenen Etagen führte. Er fühlte sich in diesem architektonisch gelungenen Kultur- und Ausstellungspalast wohl, das einen angenehmen Gegensatz zu dem allgegenwärtigen Kommerzhype Bangkoks bot und ihm schon zu FBI-Zeiten eine Oase der Besinnung gewesen war.

William schlenderte durch eine Sonderausstellung, die eine Auswahl des fotografischen Frühwerks des vom thailändischen Volk gottähnlich verehrten, seit nahezu sieben Jahrzehnten amtierenden Königs Bhumibol zeigte. William betrachtete nostalgische Aufnahmen aus der Zeit, als der heute hochbetagte Monarch in jungen Jahren einige Zeit in Europa gelebt hatte: ein erleichtertes, optimistisches Nachkriegs-Paris, die Lavendelblüte in Südfrankreich, natürlich die Schweizer Alpen mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Schließlich ein behagliches, schwarz-weißes Lausanne, wo der junge Bhumibol studiert hatte.

William setzte sich auf eine lederbezogene Bank. Die Person auf Andys Observationsfotos hatte ohne Zweifel Mazzinis Physiognomie. Die Augenpartie hatte Andy recht ordentlich erwischt, obwohl die zweidimensionale Ansicht für William nicht aussagekräftig genug war. Schließlich gab es den verkrüppelten Finger, auf den in seinem Dossier immer wieder hingewiesen wurde. William LaRouche blickte hinüber zu einer Fotografie, die einen Sonnenaufgang über dem Genfer See zeigte. Der junge König hatte die zuversichtliche Stimmung eines jungfräulichen Tagesanbruchs gekonnt eingefangen, obwohl ihn an diesem Ort ein schwerer Schicksalsschlag getroffen hatte, als er 1948 bei einem Autounfall ein Auge verlor und sich eine unheilbare Gesichtslähmung zuzog.

14

Penelope hatte bewusst ein paar Tage nach dem denkwürdigen Telefonat mit Melinda Rodriguez und Jonathan Robson verstreichen lassen. Die Justizministerin hatte sie unmissverständlich aufgefordert, sich William LaRouches anzunehmen. Im Auftrag der vielleicht nächsten Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika griff Penelope nun zum Telefon.

„William?“

„Wie geht es Ihnen, Penelope?“

„Haben Sie heute Abend schon etwas vor? Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang und anschließend gebratenen Heuschrecken, die wir mit ein paar Gläsern Singha-Bier hinunterspülen?“

„Ich trinke keinen Alkohol mehr. Sie müssen sich auch nicht um mich kümmern. Ich bin ein großer Junge, der alleine auf sich aufpassen kann. Ich wette, da steckt Jonathan dahinter“, bremste William die Juristin aus. Im gleichen Moment ärgerte er sich über seine schroffe Art, mit der er sich eigentlich nur selbst daran erinnern wollte, dass ihn sein Verlangen nach dieser Frau von seiner Arbeit ablenkte und zudem chancenlos war.

„William, bleiben Sie cool. Die Ministerin höchstpersönlich hat’s angeordnet. Wenn Sie sich nicht mit mir treffen, beißt Melinda mir die Ohren ab.“

„Was reden Sie für einen Unsinn! Ich hatte gerade das Telefon in der Hand und wollte Ihnen ein Treffen vorschlagen. Wir sind möglicherweise Mazzini auf der Spur. Sind Sie noch im Büro? Ich kann in zwanzig Minuten bei Ihnen sein.“

Kurz nach sechs betrat William die Goldstein-&-Schulman-Niederlassung. Nup, die hinter der Rezeption werkelte, rief ihm zu, dass Penelope in ihrem Büro am Ende des Flures zu finden sei. William lief den Gang hinunter, vorbei an einem hell erleuchteten Konferenzraum, in dem ein halbes Dutzend hemdsärmeliger Männer ohne Krawatten über Aktenordnern und vor eingeschalteten Notebooks brütete. Dazwischen farbenfrohe Akzente setzend: Softdrinkdosen, Kaffeetassen und Pappschachteln mit Pizzaresten. Es roch nach mediterranen Kräutern und dem ganz großen Geld.

„Sind Sie bereit?“

Penelope hatte ihr Businesskostüm gegen Jeans und eine pinkfarbene Bluse getauscht und wirkte auf William noch attraktiver als bei ihrer ersten Begegnung vor wenigen Tagen.

„Bereit? Wozu? Wir müssen über Mazzini reden.“

„William, entspannen Sie sich. Wir drehen eine kleine Runde. Dann lade ich Sie zum Essen ein. Dabei kann der Spürhund dann die Neuigkeiten vom Fuchs loswerden.“

William fügte sich. Warum auch nicht, Mazzini war aller Voraussicht nach bereits eingekreist und sie waren schließlich Partner in einem sehr speziellen Fall, der sich offenbar der Aufmerksamkeit höchster politischer Kreise in Amerika erfreute. Selbst die Justizministerin schien sich Sorgen um sein Wohlergehen zu machen.

Mit etwas Glück ergatterten sie ein Taxi, das sie trotz Feierabendverkehrs in vertretbarer Zeit zur Taksin-Brücke chauffierte, wo sie ein Expressboot zum Pak Khlong Talat, dem beliebten Obst-, Gemüse- und Blumenmarkt, nahmen. Die meisten Händler, die ihre Geschäfte regelmäßig in den Vormittagsstunden erledigten, hatten ihre Waren bereits zusammengeräumt und geschlossen. Wie gewöhnlich verwandelte sich diese Gegend nach Sonnenuntergang in eines der dubiosen Nachtmarkt-Biotope Bangkoks, in einen Basar für legalen Billigramsch und illegale Nachahmerprodukte aller Art. Verblendete Touristen wähnten sich im Discount-Paradies, abgebrühte Verkäufer spielten das Feilschen um Cent-Beträge mit und Straßenköter legten sich unbeirrt dort zur Ruhe, wo das Gedrängel am größten war.

„William, Sie erwähnten Neuigkeiten. Sind Sie dem Fuchs schon auf der Spur?“, begann Penelope und William störte sich ein wenig an dem unverbindlichen Plauderton der Juristin.

„Diese Spürhund-Fuchs-Sache ist gelegentlich ganz witzig. Wir veranstalten hier aber keine lustige Treibjagd, bei der die Sieger schon im Voraus feststehen. Unsere Zielperson ist ein hochintelligenter Verbrecher, der vor nichts zurückschreckt, gefährlich wie eine Python und flüchtig wie ein Reh.“ William erschrak über seinen scharfen Ton, mit dem er die verdutzte Penelope zurechtgewiesen hatte.

„Und wieder tummeln Sie sich in der Tierwelt. Warum sind Sie so gereizt? Sie waren es doch, der mit dem Vergleich begonnen hat. Erinnern Sie sich nicht mehr?“

„Okay, okay. Das kann schon sein, ich erinnere mich“, lenkte William ein. „Wie dem auch sei, mein Assistent Andy hat erste Hinweise geliefert, die ich überprüft habe. Alles deutet auf Larry Mazzini hin. Meine Zielperson verbirgt sich möglicherweise hinter einem gewissen Herbert Persitzky. Ich denke, in ein paar Tagen weiß ich mehr darüber“, deutete William an. Er wollte Penelope nicht mit Details über die nun notwendigen weiteren Maßnahmen langweilen, schließlich war sie Juristin und keine Agentin. Außerdem: Bei allem Vertrauen, William hatte schon die merkwürdigsten Dinge erlebt, und mit einer Frau hatte er während seiner gesamten FBI-Laufbahn kein einziges Mal im Zusammenhang mit einem ähnlichen Auftrag zusammengearbeitet.

„Haben Sie Jonathan schon informiert?“

„Das hat noch Zeit. Erst müssen wir ganz sicher sein. Stellen Sie sich vor, Persitzky hat einen Thriller mit dem Titel Lost Souls of Bangkok geschrieben.“

Lost Souls of Bangkok? Davon gibt es hier zu jeder Zeit genügend Exemplare.“

Penelope warf William einen herausfordernden Blick zu. Dabei bemerkte sie, dass ihr Begleiter deutlich erholter und entspannter aussah und sein frisch gebügeltes mintgrünes Poloshirt ihm gut zu Gesicht stand.

Neben einem Verkaufsstand, in dem erotische Dessous angeboten wurden, entdeckte Penelope eine Tuk-Tuk-Garküche. Ein halbes Dutzend verbeulter Metalltische und eine Horde blauer Plastikhocker gruppierten sich um eine zur offenen Küche umgebauten Motor-Rikscha. Die Mitglieder einer Großfamilie rührten in Töpfen, zerkleinerten Zutaten für die Street-Food-Gerichte und riefen sich Kommandos zu. Für einen Ausländer mochte ein solches Restaurant ein Abenteuer sein. Für Thais war es die bequemste Möglichkeit, sich mit vernünftiger Hausmannskost zu unschlagbar günstigen Preisen zu versorgen.

„Haben Sie Appetit?“, fragte Penelope und griff dabei instinktiv nach Williams Arm.

„Hatten Sie nicht Heuschrecken vorgeschlagen?“, lachte William, und sie quetschten sich an den letzten freien Tisch in direkter Nachbarschaft zu einem Freiluft-Friseur. Der sanfte Kontakt mit Penelope hatte ihm gutgetan. Wann hatte ihn eine Frau das letzte Mal derart berührt, dass er darüber nachgedacht hatte? Er konnte sich nicht mehr erinnern.

„Schauen Sie, so werden hier lästige Haare entfernt.“ Penelope deutete auf die Mitarbeiter des Friseurs, die mit feinen Garnschlingen den Wildbewuchs in den Gesichtern und an den Ohren ihrer Kunden epilierten. Eine Bedienung mit fleckiger Schürze wühlte sich an ihren Tisch heran und nahm die Bestellung auf: gegrillten Tintenfisch mit einer höllenscharfen Chilisauce, mittelscharfen Papaya-Salat und eine Terrine Tom-Yam-Gai, eine sauer-scharfe Hühnersuppe mit Zitronengrass. William trank Coca-Cola und Penelope bestellte Bier.

„Darf ich Sie etwas fragen?“, begann Penelope, nachdem sie ohne große Worte das köstliche Essen und das bunte Treiben um sie herum genossen hatten.

„Was wollen Sie wissen? Ich bin zweiundvierzig Jahre alt und noch kein bisschen weise.“ William verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Jetzt war er es, der die Plauderebene auf keinen Fall verlassen wollte, weil er ahnte, was die Folge wäre.

„Weshalb haben Sie den Dienst beim FBI quittiert?“

„Eine Frage, auf die es keine Antwort gibt …“ William zögerte und korrigierte sich. „Natürlich gibt es auf diese Frage eine Antwort. Aber sie wird Sie nicht interessieren.“

„Es interessiert mich wirklich“, widersprach Penelope. William traf ein warmer Blick aus dunkelbraunen Augen und er entschied, dass er wenigstens das preisgeben konnte, was Penelope vermutlich ohnehin von Jonathan erfahren hatte.

„Okay, aber wundern Sie sich nicht, wenn das eine Weile dauert“, warnte William.

„Nehmen Sie sich Zeit. Ich habe heute Abend keine weitere Verabredung“, ermunterte ihn Penelope augenzwinkernd.

„Wissen Sie“, begann William noch ein wenig zögerlich, „das FBI war einmal meine Familie. Schon mein Großvater hatte bis zu seinem Tod davon geträumt, ein schneidiger FBI-Marshall zu sein.“

„FBI-Marshall? Die gibt’s doch nur in Filmen.“

„Korrekt. Grandpa kannte das FBI auch nur aus Filmen. Er war ein einfacher Soldat und ist es auch sein Leben lang geblieben. Die Baumwollplantage, auf der er als Landarbeitersohn aufgewachsen war und die US-Navy waren die Schulen seines Lebens. Bewerber für die FBI-Akademie müssen eine abgeschlossene Berufsausbildung, besser noch einen College- oder Universitätsabschluss vorweisen. Für meinen Vater hat sich dann Grandpas Traum erfüllt. Leider ist er diesem letztendlich zum Opfer gefallen. Sie kennen die Geschichte? Jonathan muss sie Ihnen erzählt haben.“

 

Penelope nickte. Jonathan hatte ihr sogar mehr verraten, als William vermutlich lieb war. Natürlich hatte sie die Sorgen von Jonathan und die Anweisung Melindas verstanden: William LaRouche war zweifellos ein außergewöhnlicher Fahnder, der zudem als Einzelkämpfer schon immer die besten Resultate erzielt hatte. Aber er war derzeit mental nicht in der stabilsten Situation. Penelope hatte sich mit ihrer Rolle als sensibles, wachsames Kontrollauge abgefunden und wollte ihren Job möglichst unauffällig und respektvoll erledigen.

„Als Dad nicht mehr aus Kambodscha zurückkam …“ William stockte und trank einen Schluck Coca-Cola. „Wie gesagt, Dad war verschollen, und ich wollte irgendwie die Fahne hochhalten und bin dann auch zum FBI gegangen.“

Penelope wollte William nicht weiter bedrängen. Sie spürte, wie schwer es ihm fiel, über seine Vergangenheit zu sprechen. Doch William setzte seinen Bericht nach einer kurzen Unterbrechung überraschenderweise fort.

„Vor ziemlich genau dreieinhalb Jahren war ich mit einer FBI-Einheit im Süden Thailands unterwegs. Muslimland. Sie wissen schon. Die Gegend wird seit Jahren von islamistischen Separatisten terrorisiert. In Yala, Narathiwat und vor allem in der Provinz Pattani war seinerzeit die Hölle los. Wir waren auf der Suche nach einem Logistiker der Anschläge vom 11. September, der dort untergetaucht war. Unsere Aufgabe bestand darin, den Burschen zu identifizieren und das Feld für die CIA-Kommandos vorzubereiten, die dann den finalen Zugriff durchführen sollten.“

Die Bedienung brachte Penelope eine weitere Flasche Bier und wendete sich William zu. „One Cola one more?“

No Cola one more“, lehnte William ab und steckte sich eine Lucky Strike an.

„Zugriffe auf fremden Staatsgebiet. Vermutlich nicht einmal von den lokalen Behörden autorisiert. Das klingt nach verdammt illegalen Einsätzen“, fasste Penelope Williams Bericht sachlich zusammen.

„Kann schon sein“, gab William nachdenklich zurück. „Amerika befindet sich seit den New Yorker Anschlägen im Krieg gegen den internationalen Terrorismus. Wer fragt da noch, ob eine Aktion illegal ist oder nicht?“

William drückte den kurzen Rest einer Zigarette in einen Blechnapf. Dann steckte er sich eine weitere Lucky Strike an und ließ das Nikotin langsam durch seine Lungen strömen. Es tat ihm gut, über diese Zeit zu sprechen, auch wenn ihm bewusst war, dass er sich bis jetzt allenfalls an der Oberfläche bewegt hatte.

„Und ein anderer Tag in diesem Krieg gegen den Terror hat dann mich verändert.“ Vor Williams Augen erschienen wieder die quälenden Bilder jener Aprilnacht: kreischende verschleierte Frauen, Kinder in Panik erstarrt, überall Blut, wimmernde Gestalten mit verzerrten Fratzen, die sich nach Bauchschüssen im Todeskampf krümmten, dumpf einschlagende Geschosse … grünstichige Erinnerungsfetzen … William und seine Männer hatten Helme mit Nachtsichtgeräten getragen.

„Ein Einsatz ging voll daneben. Zero Output. Wir haben die Zielperson nicht erwischt.“

Williams Worte kamen langsam über seine Lippen, mit einer merkwürdigen, anklagenden Betonung. Es war ihm unmöglich, sich von seinen Erinnerungen loszureißen. Als sie die Gebäude der Farm, auf der sich der Terrorist angeblich versteckt hielt, durchkämmt hatten, zählten sie vierundzwanzig Leichen: vierzehn Kinder, neun Frauen und einen alten Mann, den die Kugeln in seinem Rollstuhl durchsiebt hatten.

„William, Sie waren im Krieg, in einem asynchronen Krieg, dem schlimmsten aller Kriege. Der Feind benutzt Unschuldige als Schutzschilder und kämpft nicht mit geöffnetem Visier.“

„Was spielt das heute noch für eine Rolle?“, fragte William. Vor diesem Ereignis hatte er mit Überzeugung hinter den Operationen der amerikanischen Geheimdienste gestanden. Es waren erfolgreiche Aktionen, bei denen Organisatoren, Finanziers und intellektuelle Treiber des Terrors ausgeschaltet wurden – schnell, präzise und mit akzeptablen Begleitschäden. William hatte bei diesen Einsätzen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Er hatte Befehle ausgeführt, sich verteidigt und dabei, wenn es sich nicht vermeiden ließ, getötet. Aber in jener Nacht war alles anders. Die Traumsequenzen, die ihn seit dieser Nacht verfolgten, ließen ihn bis heute vor Ekel und Scham erstarren.

Allmählich wurde es in der schmalen Gasse ruhiger, die ersten Händler packten ihre Auslagen zusammen oder setzten sich in Gruppen zu einem späten Abendessen auf Plastikmatten nieder. Vor Penelope standen drei leere Flaschen Bier, in Williams Aschenbecher lagen ein Dutzend Zigarettenkippen.

„Sie rauchen zu viel.“

Penelope berührte sanft Williams Unterarm und William leerte mit einem Zug den Rest aus seiner Cola-Dose und wunderte sich, welche Gesprächigkeit die Blicke, der Duft und die Berührungen dieser Frau bei ihm auslösten. Noch einmal musterte er Penelope. Ihre Eltern, das afroamerikanische Ehepaar Owens, mussten sie adoptiert haben. Wie lange mochte das her sein? Die Melodie ihres Ostküstenakzents und die Art, wie Penelope sich gekonnt im Grenzgebiet der ungeschriebenen Gesetze bewegte, die für die ersten privaten Begegnungen zwischen einer Frau und einem Mann in Amerika galten – alles war durch und durch amerikanisch. Und doch, wenn es stimmte, dass die Augen die Seele spiegelten, war sich William sicher, dass auch Penelope schlecht verheilte Narben in sich trug.

„Vier Wochen nach diesem Ereignis habe ich meinen Abschied von der FBI-Familie eingereicht. Jonathan arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon im Justizministerium. Ich weiß, dass er versucht hätte, mich umzustimmen.“

„Hätte er eine Chance gehabt?“

„Nein.“

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