Bangkok Rhapsody

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4

Der Nacht-Express verlies um drei Uhr fünfzehn die Union Station in Richtung New York. Jonathan Robson sah hinauf zu einem scharf konturierten Novembervollmond, dessen Leuchtkraft in der kalten, wolkenlosen Nacht das schlafende Washington mit einem goldenen Schimmer überzog. Nachdem er sich eine Weile mit dem Studium einiger Akten wachgehalten hatte, döste er nun in seinem komfortablen Business-Class-Sessel vor sich hin. Pünktlich kurz nach halb sieben rollte der Zug in New Yorks Pennsylvania Station ein.

Jonathan wusste, dass William ein early bird, ein Frühaufsteher, war. Er hatte seinen Besuch nicht angekündigt und erinnerte sich an ihr letztes Telefonat vor etlichen Wochen, in dem sich William angespannt und auf eine ungewohnte Art abweisend gezeigt hatte. Jonathan durchschritt die Schalterhalle und sprang kurz darauf in ein gelbes Taxi, wo ihn der Fahrer mit „Bruder“ ansprach. Er nannte Williams Adresse in Hoboken, was dem schwergewichtigen Afrikaner ein zufriedenes Lächeln entlockte. Ein angenehmer Auftrag um diese Zeit, wo alles nach Manhattan strebte und die Gegenfahrbahnen, hinaus aus dem Herzen des Big Apple, zu einem entspannten Ritt einluden. In zügiger Fahrt ging es zum Lincoln-Tunnel, durch den sie den Hudson River unterquerten. Ein paar Meilen weiter stoppte der Wagen an einer Ecke von Hobokens Park Avenue, wo Jonathan ausstieg und in einem vietnamesischen Deli-Shop zwei Portionen starken Kaffee zum Mitnehmen bestellte. Wenig später stand er vor dem Eingang eines vierstöckigen Backsteingebäudes. Neben einem Dutzend Klingelknöpfen prangte ein Messingschild mit der Aufschrift „William H. LaRouche – Private Investigator“. Jonathan presste seinen kalten Zeigefinger auf die Klingel. Nichts geschah. Er bemerkte, dass die Haustür nur angelehnt war, schob sie auf und trat in ein Treppenhaus, in dem es nach gebratenem Fisch und Katzenurin roch. Er kletterte die ausgetretene Holztreppe bis in die letzte Etage hinauf, ehe er eine verkratzte Wohnungstür erreichte, an der ein laminierter Computerausdruck befestigt war, dessen Text sich mit der Aufschrift des Messingschildes deckte. Da kein weiterer Klingelknopf vorhanden war, klopfte Jonathan kräftig an die Metalltür. Seine Armbanduhr zeigte mittlerweile zwanzig nach sieben.

„Mrs. Wilberforce? Stellen Sie die Milch vor die Tür. Ich komme später vorbei und bringe Ihnen das Geld.“ Es war Williams raue Stimme, worauf Jonathan ein weiteres Mal gegen den Eingang hämmerte.

„Verdammt! Wer ist denn da, so früh am Morgen?“

„William. Ich bin’s, Jon. Trinkst du einen Kaffee mit mir?“, rief Jonathan und hörte, wie sich die Querriegel der Türsicherung zur Seite bewegten.

„Jon? Was machst du hier? Haben sie dich gefeuert?“

„Billy, Agent W, lass mich erst mal in deine gute Stube. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

William reichte seinem Besucher die Hand, vermied dabei aber den direkten Augenkontakt. Jonathan blickte sich unauffällig um. Der Zustand des Apartments war für ihn ein weiterer Beweis, dass William noch immer keine Ordnung in seinem Leben gefunden hatte. William eilte zu der Küchenzeile, wo er einen Lappen fand, mit dem er einen Teil seines Schreibtisches säuberte, damit Jonathan die Kaffeebecher abstellen konnte.

„Billy, mein Junge, du siehst großartig aus. Ich störe doch hoffentlich nicht? Und zu deiner Frage: Noch arbeite ich im Justizministerium. Aber du weißt ja, wie schnell man in der Politik seinen Job loswerden kann.“

William wirkte auf Jonathan wie ein verunsichertes Raubtier, das eine Gefahr ahnte, aber noch nicht wusste, von woher sie drohte. Sie waren sich seit Monaten nicht mehr persönlich begegnet. Der äußeren Erscheinung nach zu urteilen, ging es seinem Jungen alles andere als großartig.

„Ich sehe großartig aus? Deine Witze waren früher besser. Agent W hat sich abgemeldet, hat seine Mom im Stich gelassen und seinen Mentor Jonathan enttäuscht. Mir geht es verflucht noch mal verdammt großartig!“ William trank einen Schluck Kaffee und wischte sich danach mit dem Handrücken die Lippen trocken.

„Jon, nimm Platz. Sorry, ich bin zurzeit wirklich nicht gut drauf, habe nicht aufgeräumt, die Heizung im Haus funktioniert nicht und die Klimaanlage hat im vergangenen Sommer ihren Geist aufgegeben. Warum musst du ausgerechnet heute kommen?“

William nahm schlürfend einen weiteren Schluck aus dem Kaffeebecher und musterte Jonathan. Wie fremd ihm dieser Mann mittlerweile geworden war. Vor ihm saß ein geschmackvoll gekleideter Afroamerikaner von mittlerer Statur mit ergrautem, kurz geschnittenem Lockenhaar, der ihn durch eine markante Hornbrille ebenfalls beobachtete. Am linken Handgelenk trug Jonathan ein Oakley-Titanium-Pilotenchronometer. Vincent LaRouche, Williams Vater, hatte eine Uhr derselben exklusiven Sonderserie besessen, aber sie war zusammen mit ihm im kambodschanischen Dschungel verschwunden. William hatte seine eigene Oakley Titanium, das inoffizielle Erkennungszeichen aktiver und ehemaliger FBI-Agenten, zusammen mit ein paar weiteren Erinnerungen an seine Dienstzeit in eine Pappschachtel unter sein Bett verbannt. Er wollte nichts mehr mit dem FBI zu schaffen haben und sich schon gar nicht mit einer Oakley Titanium brandmarken. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Für einen kurzen Moment kam es William so vor, als habe er in Jons Augen etwas Geschäftsmäßiges entdeckt. Er vermisste die Wärme, die verlässlich in diesen Augen gelegen hatte, als Jon sich nach Vincent LaRouches Verschwinden um dessen Sohn gekümmert und versucht hatte, Doris vom Alkohol wegzuholen. William wandte sich ab und sah, wie im Hinterhof die ersten Strahlen der Vormittagssonne auf dem glitzernden Morgentau der kahlen Zweige des Kirschbaums tanzten. Es würde ein schöner, kalter Herbsttag werden, dachte er und wärmte seine Hände an dem Kaffeebecher.

„William, seit wann lassen Louisiana-Boys ihre Familien im Stich? Warum besuchst du deine Mom nicht? Doris braucht dich“, sagte Jonathan vorwurfsvoll und legte seine Hand auf Williams Schulter.

„Es hat keinen Sinn. Nicht jetzt. Ich stecke noch immer im Sumpf fest … Mom soll nicht mitbekommen, wie dreckig es mir geht.“

Jonathan hatte sich erhoben und stand am Fenster zur Park Avenue, auf der ein böiger Wind die braun-orangenen Blätter der Kastanienbäume aufwirbelte und vor sich hertrieb.

„Warum bist du hier? Was willst du von mir?“

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Ein Auftrag?“

Jonathan wandte sich wieder William zu und faltete bedächtig die Hände.

„So könnte man es wohl nennen. Wir brauchen deine Hilfe.“

„Wir?“

„Ja. Die Justizministerin und ich.“

„Jon, ich arbeite nicht mehr für das FBI und auch nicht für das Justizministerium. Niemals und unter keinen Umständen. Tut mir leid, ich kann es nicht.“

5

„Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir das Gespräch aufzeichnen und mein Kollege ein paar Fotos schießt?“

Rangrit, der Reporter der Bangkok Post, sah Jürg Bertoli fragend an. Eine junge Thai huschte auf die schattige Veranda und stellte ein Tablett mit Gläsern und einer Karaffe Obstsaft auf einen Tisch, um den herum bequeme Korbsessel gruppiert waren. Es war noch keine elf Uhr. Die heißesten Stunden des Tages standen noch bevor, und doch hatten die Ventilatoren schon jetzt Mühe, den Hauch einer Luftzirkulation zu entwickeln, damit es im Freien erträglich blieb.

„Wir bedienen uns dann selbst“, bedankte sich Bertoli bei seiner Mitarbeiterin und bat die Journalisten, Platz zu nehmen. „Selbstverständlich können Sie fotografieren.“

„Dr. Bertoli, unsere Leser sind an Ihrer Persönlichkeit und der sozialen Arbeit interessiert, die Sie seit geraumer Zeit in Bangkok leisten“, begann der Thailänder auf Englisch. „Sie gründeten Ihre Einrichtung Baan Jai Dii vor acht Jahren. Erklären Sie unseren Lesern, was Ihr Anliegen ist.“

„Gerne! Dafür erlaube ich mir einen Ausflug in die Vergangenheit. Wie Sie vielleicht wissen, halten wir uns hier in einem der ältesten Gebäude Bangkoks auf. Auf den Grundmauern stand einst das Anwesen des Leibarztes von König Taksin, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Hauptstadt des siamesischen Reiches von Ayutthaya in das flussabwärts gelegene Fischerdorf Thonburi, einem heutigen Stadtteil Bangkoks, verlegt hatte …“ Bertoli unterbrach für einen Moment und schmunzelte. „Leider wurde König Taksin größenwahnsinnig. Auch sein Leibarzt wusste kein Rezept gegen diese Krankheit. Der Adel befreite sich von dem Despoten, Taksin wurde hingerichtet und der Thron fiel an den ersten Rama, den Begründer der Chakri-Dynastie, der auch unser jetziger König Bhumibol als mittlerweile neunter Rama angehört.“

„Was wurde aus dem Leibarzt, wurde er auch getötet?“, wollte Rangrit wissen.

„Nein. Rama der Erste verlegte den königlichen Palast als Zeichen des Neubeginns auf das gegenüberliegende Ostufer des Chao Phraya in die Nähe der Chinesensiedlung Bang Kok. Der neue Herrscher übernahm den Leibarzt seines Vorgängers, und der im ganzen Reich anerkannte Mediziner ließ seinen ehemaligen Wohnsitz zu einem öffentlichen Hospital umbauen. Er nannte es Baan Jai Dii, das Haus des Guten Herzens.“ Der Reporter der Bangkok Post machte sich konzentriert Notizen.

„Unsere Arbeit steht in der Tradition dieses historischen Baan Jai Dii. Wir bemühen uns, alleinstehenden, alten Menschen zu helfen und sie mit ganzem Herzen bis in ihre letzte Stunde zu begleiten“, erläuterte Jürg Bertoli und erhielt Rangrits Bestätigung. „Die moderne Lebensweise treibt die jungen Menschen aus den Dörfern in die Städte. Die Großfamilien lösen sich auf und die Alten können nicht mehr so versorgt werden, wie es unserer Tradition und unserem buddhistischen Glauben entspricht.“

 

„Die staatlichen Sozialsysteme sind in Asien, wenn überhaupt, auf einem niedrigen Niveau vorhanden. Wenn die Familienverbände nicht mehr funktionieren, stellt das ein ernstes Problem dar. Wir helfen, wo wir können. Unsere Kapazitäten sind allerdings begrenzt, so dass nicht jeder einen Platz in unserer Mitte findet. Aber ist es nicht so, dass auch der engagierteste Helfer den Erfolg seiner Arbeit gefährdet, wenn die Sentimentalität die Sachlichkeit verdrängt?“, gab Bertoli zu bedenken und goss frisch gepressten Ananassaft in die Gläser. Ein dunkelblond gelockter Junge in einem Matrosenanzug näherte sich der Runde.

„Na, du Lauser!“ Bertoli winkte den vielleicht Fünfjährigen heran, der daraufhin auf den Schoß des Heimleiters kletterte.

„Das ist Tap, mein Sohn“, stellte Bertoli den kleinen Burschen vor, „Tap, das sind zwei Reporter von einer berühmten Zeitung aus Bangkok, die über unser Haus berichten wollen.“

Lung Moo, macht der Mann mit der Kamera auch von mir ein Foto?“

„Wenn du ihn nett bittest, ganz bestimmt.“

Lung Moo? Sie sagten doch, er sei ihr Sohn“, wollte der Fotograf grinsend wissen.

„Es ist ein Spiel. Nur Tap nennt mich Onkel Doktor. Unsere Gäste sind deutlich älter als ich und würden mich wohl kaum als Onkel bezeichnen wollen. Wo waren wir stehengeblieben?“

„Bei den eingeschränkten Kapazitäten. Gibt es Kriterien, nach denen Sie entscheiden, wen Sie aufnehmen?“

„Ich muss zugeben, dass ich mich vor diesen Entscheidungen gerne drücke und meine Mitarbeiter per Los entscheiden lasse, wenn wieder einmal ein Platz frei geworden ist.“

„Ein reiner Zufall entscheidet?“

„Nennen Sie mir eine Alternative, die unser Gewissen weniger belastet.“

In diesem Augenblick rumpelten zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Von mehreren Pflegerinnen begleitet, schleppten sie eine silbergraue Blechkiste durch die Eingangshalle zum Hinterhof, in dem ein Lieferwagen wartete.

„Sehen Sie“, Bertoli deutete auf die Gruppe, „es ist wieder ein Platz frei geworden. Die alte Wannapum hat uns gestern Nacht verlassen. Sie ist mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben und hat die Reise in ihr nächstes Leben mit Zuversicht angetreten.“

Die beiden Reporter wirkten sichtlich berührt. Der eine sortierte verlegen seine Unterlagen, der andere schraubte am Verschluss seiner Kamera herum.

„Dr. Bertoli, seit geraumer Zeit kursieren Gerüchte, dass es in Ihrer Einrichtung einen deutlichen Anstieg der Todesfälle gegeben hat.“

Bertoli lächelte. „Nun, Sie sind jung und haben hoffentlich noch ein langes, glückliches Leben vor sich. Im Baan Jai Dii ist dagegen der Tod unser ständiger Begleiter. Aber ist das bei einhundertfünfzig Gästen mit einem Durchschnittsalter von fünfundsiebzig Jahren nicht ein ganz natürlicher, biologischer Vorgang?“

„Da haben Sie vermutlich recht. Bitte verzeihen Sie auch die nächste Frage. Sie nehmen in erster Linie mittellose, alleinstehende Menschen in Ihrem Altenheim auf. Verraten Sie unseren Lesern, wie sich ein derartiges Projekt finanziert?“

Bertoli hob die Hände und seufzte: „Ja, das liebe Geld. Bei uns ist es immer knapp. Wir leben hauptsächlich von Spenden. Es gibt in Bangkok einige wohlhabende Gönner, die uns unterstützen. Dazu kommen gelegentlich Zuwendungen aus Quellen, zu denen ich noch aus meiner früheren Zeit Kontakte habe.“

„Stimmen meine Informationen, dass Sie, bevor Sie nach Thailand kamen, ein leitender Manager in einem Schweizer Pharmakonzern gewesen sind?“

„Schön wär’s.“ Bertoli schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Wie kommen Sie denn darauf? Richtig ist, dass ich vor vielen Jahren in der Schweiz, in Basel, in einer Aids-Beratungsstelle mitgearbeitet habe. Das Projekt wurde von einem dort ansässigen Pharmakonzern unterstützt.“

Rangrit schlug die nächste Seite seines Spiralblocks auf. Bertoli konnte nicht entziffern, was dort notiert war, erkannte aber ein großes Fragezeichen auf dem unteren Teil des Blattes.

„Dr. Bertoli, wenn meine Recherchen korrekt sind, wurden Sie in Italien geboren, haben in Südafrika und England studiert und in Deutschland und Südamerika gearbeitet. Sie besitzen die Schweizer Staatsangehörigkeit. Weshalb hat sich ein Weltbürger wie Sie für ein Leben in Bangkok entschieden?“

„Alles korrekt. Sie sind ein bemerkenswerter Journalist“, lobte Bertoli. „Ich bin als Tourist gekommen und war von der reinigenden Kraft tropischer Regengüsse überwältigt.“

Rangrit schaute ein wenig irritiert. „Sie sind wegen der Regenfälle geblieben?“

„Zunächst einmal ja“, bestätigte Bertoli, „aber schon bald hatte ich mich in Thailand verliebt, in seine Menschen, in deren Zuversicht und Gelassenheit. Ich war beeindruckt von ihrer kindlichen Freude an den kleinen Dingen des Lebens und ihrem Vertrauen auf eine Wiedergeburt nach dem Tod. Mit einem solchen Glauben lassen sich die Wirren des Lebens entspannter ertragen. Und ich staune immer wieder über die ungeheure Kreativität der thailändischen Küche, hinter der selbst die Kunst der Köche meiner Heimat Italien verblasst.“

„Ja, das Essen ist bei uns Thais tatsächlich eine sehr wichtige Angelegenheit.“ Rangrit blickte amüsiert zu seinem Kollegen. „Entschuldigen Sie meine direkte Frage. Sind Sie Buddhist oder Christ?“

Bertoli wiegte sein Haupt mit der ergrauten Haarpracht, die eine Spur heller erschien als sein gemütlicher Vollbart. In passender farblicher Ergänzung dazu standen die graublauen Augen, mit denen er nun den Journalisten ernst anblickte. „Sagen wir es einmal so: Ich bin ein Mensch, der liebt, der hasst, der vergisst und sich erinnert, der Gutes tut, der Unrecht begeht. Und ich hoffe, dass ich mein Leben, mit wessen Hilfe auch immer, einigermaßen im Gleichgewicht dieser Gegensätze führe.“

Rangrit nickte zustimmend.

„Ich bin überzeugt, diese Lebensphilosophie wird vielen unserer Leser gefallen. Doktor, ich denke, das genügt. Sie hatten uns noch einen Rundgang durch Ihre Einrichtung versprochen.“

„Selbstverständlich!“ Bertoli erhob sich. „Zuerst möchte ich Ihnen das historische Gebäude mit den Gemeinschaftsräumen zeigen, dann die jüngeren Anbauten mit den Gästezimmern, die sich an den Hof anschließen. Unseren chinesischen Pavillon am Kanal können wir heute leider nicht besichtigen. Wegen einer Ungezieferplage wird dort seit ein paar Tagen gründlich desinfiziert.“

Rangrit beugte sich nach vorne, um das Tonbandgerät auszuschalten, dabei rutschten ihm seine gesammelten Unterlagen von den Knien und glitten zu Boden. Eine Pressemitteilung mit einem Foto kam zum Vorschein. Die Abbildung zeigte einen Kran, der einen Sportwagen aus einem Gewässer zog. Bertoli hob den alten Zeitungsausschnitt auf.

„Gehört das auch zu Ihrer Reportage über das Baan Jai Dii?“, wollte er mit einem neugierigen Blick wissen.

„Nein, nein. Das ist eine ganz andere Geschichte.“ Der Journalist entschuldigte sich mehrmals und klaubte seine Papiere zusammen. „Sie wissen doch, eine Zeitung muss auch immer eine gewisse Portion Sex und Crime bringen. Vor ein paar Monaten wurde im Industriehafen ein schwarzer Porsche entdeckt, ohne Nummernschilder und mit entfernter Fahrgestellnummer. Im Wagen fand man Teile einer weiblichen Leiche. Allem Anschein nach eine Ausländerin, von Aalen und Muränen zerfressen. Das Mysteriöse daran ist, dass kein Mensch die Frau und den teuren Sportwagen vermisst. Auch die Polizei hat keine Anhaltspunkte. Wir nehmen uns der Sache immer mal wieder an. Vielleicht hilft uns der Zufall“, erläuterte der junge Mann.

„Dann drücke ich Ihnen die Daumen!“, gab Jürg Bertoli aufmunternd zurück und schritt durch die Empfangshalle des Altenheims. Rangrit bemerkte dabei, dass der Hausherr beim Gehen sein rechtes Bein nachzog. Aufgeregt stürmte eine junge Pflegerin auf den Direktor des Altenheims zu. „Khun Jürg! Khun Jürg! Surang ist schon wieder verschwunden. In dieser Woche ist das nun schon das dritte Mal.“

„Entschuldigen Sie, meine Herren. Es handelt sich selbstverständlich nicht um einen Gast unserer Einrichtung. Es geht um ein gelegentlich verwirrtes Mitglied unseres Küchenpersonals“, erläuterte Bertoli den Journalisten, dann wandte er sich wieder seiner Angestellten zu. „Surang wird in Wittipongs Kneipe am Kanal sein. Ihr wisst doch, dass sie bei Vollmond nur Ruhe findet, wenn sie am Wasser sitzt und Karten legt. Holt sie ab und richtet dem Gauner aus, wenn er Surang noch einmal Alkohol gibt, bringe ich ihn um.“

Bertoli zwinkerte den beiden Reportern zu. „Das sind unsere kleinen Alltagsprobleme. In der Regel nichts Dramatisches. Alles mit Geduld und Verständnis lösbar.“

6

Kurz nachdem Jonathan gegangen war, verließ auch William sein Apartment und trat auf die Park Avenue hinaus. Der Frühnebel hatte sich verzogen und die Vormittagssonne stand halbhoch am wolkenlosen Himmel über Hoboken. Ein scharfer Ostwind pfiff William entgegen. Es roch bereits nach Winter, und er zog den Kragen seines Mantels enger. Mit zügigem Schritt erreichte er die nach Frank Sinatra, dem berühmtesten Sohn Hobokens, benannte Parkanlage am Hudson River und suchte sich ein sonniges Plätzchen im Windschatten einer stattlichen Roteiche, unweit der Uferlinie. Silberne Schaumkrönchen tanzten auf den bewegten Fluten und steife Windböen trugen den salzigen Atlantikgeruch aus der Lower Bay heran.

William hatte sich während seiner Ausbildung an der FBI-Akademie leidenschaftlich für die Psychologievorlesungen interessiert. Damals war ihm bewusst geworden, dass ihm als kleiner Junge nur zwei Wege geblieben waren, um den Verlust seines Vaters wenigstens einigermaßen zu verwinden. Der erste Pfad versprach dem verunsicherten Billy seelischen Trost über eine lebenslange Wut auf den Mann, der ihn im Stich gelassen und einer unberechenbaren, alkoholsüchtigen Mutter ausgeliefert hatte. Die zweite Möglichkeit bot ihm die Aussöhnung in Form einer unwirklichen Überhöhung seines verschwundenen Vaters an: Vincent LaRouche als die ewig junge Lichtgestalt ohne Fehl und Tadel. Weil sich alle Welt offenbar auf die zweite Variante eingeschworen hatte, schloss sich auch der kleine Billy dieser Betrachtungsweise an. Sein Vater war von nun an Superagent Vincent LaRouche, der jede Frage beantworten, jedes Problem lösen konnte und der die Ideale Amerikas auch unter den widrigsten Umständen an den finstersten Ecken der Welt verteidigte. Je klarer William in späteren Jahren dieses Trugbild durchschaute, desto größer wurde die Sehnsucht nach einem authentischen Vater, einem Menschen aus Fleisch und Blut.

Williams Blick strich über die Skyline von Manhattan, die scheinbar zum Greifen nahe vor ihm lag: das Empire State Building, ohne das New York nicht New York wäre, die verdichtete Hochhausarchitektur von Midtown und Lower Manhattan und schließlich das One World Trade Center im Financial District, die neue Ikone der Mutter aller Metropolen. Das verschraubt-eigenwillige, höchste Gebäude Amerikas, errichtet auf Ground Zero, war New Yorks Antwort auf die Tragödie des 11. Septembers 2001 – die dunkelste Stunde in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Nur wenige Wochen nach diesem Ereignis hatte sich William für den FBI-Auslandsdienst verpflichtet.

William hatte Jonathan schon eine Weile entdeckt und beobachtete nun, wie der Afroamerikaner den Kragen seines hellbraunen Kaschmirmantels aufschlug und an der Uferpromenade einen Schwarm wilder Stockenten fütterte. William zündete sich eine Lucky Strike an und blies den würzigen Tabakqualm in die kalte Spätherbstluft. Als Jonathan seinen Futtervorrat verteilt hatte, blickte er auf und steuerte langsam auf William zu.

„Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?“, begann Jonathan, als er neben William in der Mittagssonne Platz genommen hatte.

„Wie lautet der Auftrag, für den ihr meine Hilfe braucht und für den du extra von Washington gekommen bist?“ William ließ die die kaum halb aufgerauchte Zigarette auf den Kiesboden fallen und trat die Glut aus.

„Du willst nicht für das FBI arbeiten. Kein Problem, du arbeitest für mich. Keine einfache Sache, aber du bist der richtige Mann dafür.“

„Mein Gott, Jonathan, ich bin seit drei Jahren aus dem Geschäft. Ich liefere Ehemänner ans Messer. Jämmerliche Gestalten, die ihre Frauen mit anderen Frauen betrügen, die wiederum auch ihre Männer hintergehen. Ich fange entlaufene Pudel und Kanarienvögel ein. Schau mich an, ich bin alt und dick geworden.“

Jonathan spürte die Unruhe in William, der mit fahrigen Bewegungen eine weitere Zigarette aus der Packung fingerte. Doch das Nikotin, das er mit kurzen Zügen inhalierte, trug nicht zur Beruhigung bei. William wusste, wie nervös und verunsichert er auf Jonathan wirken musste.

 

„Du wirst Amerika allerdings für eine gewisse Zeit verlassen müssen. Das wäre die Kröte, die du schlucken müsstest“, blieb Jonathan unbeirrt.

„Vergiss es! Ich habe damals meinen Dienst beim FBI quittiert, weil ich das Krötenschlucken satthatte. Keine Kröten mehr. Niemals!“, unterbrach William und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Der Einsatz findet in Bangkok statt. Je schneller du fertig bist, desto schneller bist du wieder zu Hause.“

„Thailand! Bangkok! Ausgerechnet! Sorry, das geht gar nicht.“

„Du hast dich in den letzten Jahren sehr verändert. Ganz offensichtlich ist einiges in deinem Leben in Unordnung. Du hast mir nie erzählt, warum du das FBI verlassen hast. Schade. Ich wäre allerdings ein wenig beruhigter, wenn ich wüsste, dass du einen Menschen hast, dem du dein Herz ausschütten kannst.“

William schwieg beharrlich und verfolgte mit seinem Blick einen Jogger, der seine Runden drehte und auch an ihrer Parkbank vorbeikeuchte. Er hatte das FBI vor drei Jahren verlassen, weil er gehofft hatte, mit diesem Schritt seine Seele retten zu können. Aber was war seither mit ihm geschehen? Warum hatte er noch immer keine Ruhe gefunden? Warum konnte er noch immer nicht über die Erlebnisse während seines letzten FBI-Einsatzes in Thailand sprechen? Nicht einmal mit Jonathan. Sollte er tatsächlich nach Südostasien zurückkehren, wo er damals in die Abgründe seiner Seele geblickt hatte? William schloss die Augen in der Hoffnung, eine Antwort zu finden. Wie hätte sein Dad dieses Gefühlschaos aufgelöst? Kaum hatte sich William diese Frage gestellt, sah er vor seinem inneren Auge seinen Vater mit wehendem blonden Haarschopf. Auch Special Agent Vincent LaRouche schien ratlos zu sein. Glücklicherweise schob sich nun ein anderes virtuelles Bild über das der väterlichen Ikone. Ein dunkelhäutiger Mann wandte sich ihm zu. Es war Jonathan. Der Alte drückte ihn an seine Brust und versprach mit einer tiefen Bassstimme: „Mein Junge, du kannst dich auf mich verlassen. Ich bin immer für dich da.“ Es war die Abschiedsszene, als sich Jonathan vor vielen Jahren von seinem kleinen Billy-Boy verabschiedet hatte und am nächsten Tag Lake View und New Orleans für immer den Rücken kehrte.

Als William die Augen wieder öffnete, war Jonathan verschwunden. Im ersten Moment spürte er eine Art Erleichterung. Jon war wortlos gegangen. William schämte sich. Dieser Mann hatte ihm Halt und Orientierung gegeben und sich, solange er denken konnte, um ihn gesorgt. Nun war Jon mit einer Bitte an ihn herangetreten und hatte dafür eine kalte Absage erhalten.

Selbst wenn das kindliche Idealbild, das er von seinem Vater in sich trug, nur in Bruchteilen der Realität entsprach, Special Agent Vincent LaRouche hätte seinen Kameraden und Freund nicht im Stich gelassen. Niemals!

William rauchte eine weitere Lucky Strike. Dann zog er sein Mobiltelefon aus der Manteltasche. Seine Finger flogen über die Tastatur: „Jon, ich nehme den Auftrag an, was immer es auch sein mag. William.“

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