Asian Princess

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13

Claudia Bächle-Malvert klopfte mit ihrem Kugelschreiber mahnend auf die Tischplatte. „Können wir anfangen?“

Es war Dienstagabend. Mittlerweile waren bald sechzig Stunden seit dem Rebheimer Leichenfund vergangen. Den Beamten sah man ihre Erschöpfung an. Das Dezernat für Kapitalverbrechen war seit Monaten unterbesetzt. Zwei Kollegen hielten sich in Griechenland zur Unterstützung bei der Registrierung von Flüchtlingen auf, zwei weitere hatten sich krankgemeldet und eine Kommissarin war in Elternzeit. Claudia hatte die Sekretärin gebeten, Thermoskannen mit extra starkem Kaffee zu befüllen und einen Schwung Energieriegel zu organisieren.

„Also, Leute! Was haben wir bisher ermittelt? Was können wir daraus folgern? Welche Informationen wollen wir morgen auf der Pressekonferenz der Öffentlichkeit mitteilen?“, begann sie und rückte den Notizblock vor sich zurecht.

Der stellvertretende Dezernatsleiter Malte Brettschneider legte die Hände in den Nacken und streckte seinen langen Oberkörper über die Rückenlehne. Die Kommissare Erol Tekzö und Larissa Koslowski hielten sich nachdenklich an ihren Kaffeebechern fest.

„Ach, fast hätte ich es vergessen. Ich möchte, sofern ihr euch noch nicht bekannt gemacht habt, Marco Klingenberger vorstellen. Er ist kommissarischer Leiter des Polizeipostens in Rebheim und wird uns bei den Ermittlungen vor Ort unterstützen, und …“, Claudia ließ ihren Blick durch die müde Runde kreisen, „… ich habe entschieden, dass Marco bis auf Weiteres die Pressearbeit unserer Sonderkommission übernimmt. Ihr könnt euch denken, dass in der nächsten Zeit auf diesem Gebiet einiges auf uns zukommen wird.“

Marco war, wie die anderen auch, in Zivil erschienen. Er trug eine sportliche Lederjacke, unter der ein mintgrünes Poloshirt zum Vorschein kam, war offenbar noch hellwach und schenkte der Gruppe ein strahlendes Lächeln.

„Marco, mein Name ist Claudia“, wandte sich die Chefin an den Neuen. „Wir duzen uns intern. Im Außendienst, bei Vernehmungen und vor allem im Umgang mit der Presse verwenden wir untereinander das Sie.“

Marco nickte, und als er die Hände vor sich auf die Tischplatte legte, wirkte er wie ein routinierter Fernsehnachrichtensprecher.

„Na, dann wäre die Kuh auch vom Eis“, kommentierte Erol, den viele für einen Türken hielten, obwohl er in Budapest geboren war und schon seit Jahrzehnten die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Er ignorierte Claudias strengen Blick, die ihn gerade fragen wollte, wen oder was er wohl mit der Kuh gemeint haben könnte, und begann seinen Bericht.

„Eine entblößte männliche Leiche wurde am Sonntagmorgen gegen sieben Uhr fünfzig auf dem Rebheimer Madonnenberg gefunden. Der Leichnam wurde vom pensionierten Polizeihauptmeister Kühnle während des Spazierganges mit seinem Hund entdeckt. Um kurz nach acht traf ein Streifenwagen des Polizeipostens Rebheim an der Fundstelle ein.“

„Seit wann habt ihr Sonntag eure Dienststelle besetzt? Die Meldung hätte doch an den Kriminaldauerdienst gehen müssen“, unterbrach Larissa und sah Marco neugierig an.

„Das ist das Schöne am Landleben. Da sind die Wege kurz“, antwortete Marco mit einem Augenzwinkern. „Michael Kühnle und ich sind gute Bekannte. Er hat tatsächlich zuerst meine private Mobilnummer gewählt, weil er wollte, dass der Fundort ohne Verzögerung abgesperrt wird. Ich war schon wach – wir haben seit einem Vierteljahr Nachwuchs, da sind die Nächte nicht allzu lang – und bin unmittelbar nach dem Anruf auf den Madonnenberg gefahren. Herr Kühnle hat selbstverständlich sofort nach dem Telefonat mit mir Meldung an den KD gemacht.“

„Als wenn der Kriminaldauerdienst eine langsame Truppe wäre“, murrte Erol.

„Das war schon okay. Marco hat die Fundstelle professionell gesichert und die Aussage vom ehemaligen Kollegen Kühnle noch vor Ort aufgenommen. Besser hätten wir das auch nicht machen können“, verteidigte Claudia ihren neuen Mitarbeiter.

„Kann ich jetzt weitermachen? Oder möchte ein anderer übernehmen?“

„Natürlich, Hauptprotokollführer Erol! Wir sind alle hundemüde und wollen uns zur Abwechslung auch einmal ein paar Stunden zu Hause bei unseren Lieben blicken lassen“, entspannte Malte die Situation.

„Eine gute Idee, obwohl bei mir zu Hause nur ein leerer Kühlschrank wartet“, gab Erol zurück und fuhr mit seiner Zusammenfassung fort. „Die Spurensicherung hat am Fundort nicht einen Hinweis entdeckt, der uns weiterhelfen könnte. Keine Reifeneindrücke von einem Fahrzeug, keine Fußspuren, außer denen von Kühnle und seinem Hund, keine Textilteilchen, Zigarettenreste oder etwas anderes Verwertbares, rein gar nichts. Die Leiche muss aus der Luft über dem Weinberg abgeworfen worden sein.“

„Das hätte man vermutlich bemerkt“, warf Larissa ein.

„Was hat die Untersuchung in der Rechtsmedizin ergeben?“, fragte Malte.

„Die Leiche ist umgehend ins Institut für Rechtsmedizin nach Heidelberg gebracht worden. Der diensthabende Mediziner hat unsere Einlieferung auf die Prioritätenliste gesetzt. Hier ist der vorläufige Bericht, kam vor zwei Stunden per Fax.“ Erol hob ein Blatt in die Höhe. „Die erste Erkenntnis lautet: Der Mann ist nicht eines natürlichen Todes gestorben! Wer hätte das gedacht?“

Auf dem Tisch lagen vergrößerte Fotos, die am Sonntagmorgen direkt an der Fundstelle aufgenommen worden waren. Dazu warf Erol nun einen weiteren Packen mit Aufnahmen der Gerichtsmedizin. „Das Merkwürdige ist, dass nicht die Verletzungen zum Tod des Mannes geführt haben.“

„Wie bitte?“, fragte Larissa. „Allein der abgeschnittene Penis hat doch zu einem Blutverlust geführt, der tödlich gewesen sein muss.“

„Richtig. Einen derartigen Verlust überlebt kein Mann“, bestätigte Erol, „aber das Opfer war bereits tot, als man ihm die Verletzungen zugefügt hat. Wir haben die Einschüsse im Gesichtsbereich übersehen.“

„Warum wurde das Gesicht des Opfers so verwüstet, wenn der Mann schon tot war?“, wollte Marco wissen, der die Fotografien eingehend betrachtete.

„Keine Ahnung. Vielleicht war’s ein Psychopath“, antwortete Erol. „Die Gerichtsmediziner gehen jedenfalls davon aus, dass der Mann vor den Misshandlungen erschossen wurde. Drei Kugeln Kaliber fünf Komma sechs sind über der Nasenwurzel und durch das Jochbein in den Schädel eingedrungen. Zwei Geschosse steckten im Großhirn. Das dritte hat sich im Kleinhirn aufgepilzt.“

„Aufgepilzt?“ Marco blickte Erol an.

„Bei einer Kleinkaliberpatrone handelt es sich nicht um ein Vollmantelgeschoss, wie es bei größeren Kalibern üblich ist. Kleinkaliberkugeln haben eine geringere Durchschlagskraft und ihre Ummantelung ist deutlich weicher. Tritt das Geschoss nicht aus dem Körper aus, weil die inneren Gewebewiderstände es sozusagen ausbremsen, kann die Ummantelung aufreißen, was dann ‚Aufpilzen‘ genannt wird.“

Marco nickte.

„Leider kann der Zeitpunkt des Todes vorerst nicht eindeutig bestimmt werden. Möglicherweise könnte eine Obduktion für mehr Klarheit sorgen. Es wird vermutet, dass der Tod zwischen zwölf und achtundvierzig Stunden vor der Entdeckung der Leiche eingetreten ist.“

„Was soll das heißen?“, unterbrach Larissa, die auf ihrem Notizblock die Zahlen Zwölf und Achtundvierzig mit einer breiten Linie verband.

„Das bedeutet, dass der Mann irgendwann zwischen Freitagmorgen und Samstagabend getötet wurde. Tut mir leid, exakter geht’s vorerst nicht“, entschuldigte sich Erol.

„Wir beantragen morgen eine Obduktion. Gibt es Hinweise zur Identität und dem Alter des Opfers?“, mischte sich Malte ein, der wusste, wie kompliziert es war, den Todeszeitpunkt festzustellen, wenn man eine Leiche fand, die vielleicht schon seit vielen Stunden bei Bodenfrost unbekleidet im Freien gelegen hatte.

„Nichts Genaues weiß man nicht!“ Erol hob die Schultern. „Immerhin wurde unser erster Eindruck bestätigt, dass es sich um einen Asiaten handelt. Anhand des röntgenologischen Kieferbefundes wird sein Alter auf Mitte zwanzig bis Mitte dreißig geschätzt. Und hier steht …“, Erol schaute auf den Berichtsbogen, „… das Opfer gehört zur südmongoliden Ethnie und weist eine sinide Typisierung auf.“

„Bitte übersetzen!“, forderte Claudia, die geometrische Figuren auf ihren Schreibblock malte.

„Ich kann’s nicht übersetzen, hab’s aber gegoogelt. Die Charakteristika der siniden Typisierung sind unter anderem ein schlanker, mittelgroßer Körperwuchs, hervortretende Jochbeine, eine flache Nasenwurzel, gelblich braune Hautfärbung …“

„Erol! Mach’s kurz! Wo kommt der Mann her?“, drängte Claudia.

„Die Physiognomie des Opfers besitzt Merkmale, die für Menschen typisch sind, die aus dem mittleren und nordwestlichen China stammen oder deren genetische Vorfahren aus dieser Region …“

„Ein Chinese! Das hat uns gerade noch gefehlt!“, unterbrach Malte.

„Sorry, dass ich keine erfreulichere Nachricht habe. Menschen dieser Art leben auf der ganzen Welt verstreut: In den USA und Kanada leben etliche Millionen, in Südostasien und in Australien gibt es große chinesische Communities, in Singapur sind siebzig Prozent der Bevölkerung Chinesen. In Deutschland lebt eine Viertel Million, darunter mehrere Tausend Studenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Gastdozenten alleine an den Universitäten in Heidelberg und Mannheim.“

„Na ja, auch wenn das Alter noch passen könnte, ein Student wird das Opfer nicht gewesen sein“, wehrte Claudia ab.

„Vielleicht ein Doktorand?“, warf Malte ein.

Seine Vorgesetzte schüttelte den Kopf. „Morgen wird in allen Hochschulen nachgefragt, ob Chinesen vermisst werden. Larissa, übernimm du das. Mach in den Sekretariaten ordentlich Druck. Am Nachmittag will ich Ergebnisse sehen.“

 

„Ich möchte mich nicht einmischen, ich bin kein Kriminalbeamter.“ Marco hatte sich während Erols Vortag emsig Notizen gemacht. „Helfen uns vielleicht die Tätowierungen weiter?“

„Kann man noch nicht sagen. Auch das werden wir prüfen“, antwortete Erol, zog aus einem Stapel eine großformatige Farbfotografie vom Rücken der Leiche heraus und hob sie in die Höhe. Sofort ins Auge fiel ein sprungbereiter Tiger, der grimmig die Zähne fletschte und von acht gleichschenkligen Dreiecken und asiatischen Schriftzeichen umkreist war. Das aufwendige Arrangement beanspruchte fast die gesamte Fläche von den Schulterblättern bis hinunter zum Steiß. Daneben gab es noch kleinere, ornamentartige Tätowierungen im Nacken und auf den Armen des Opfers.

„Kann mir jemand sagen, ob das chinesische, japanische, koreanische oder sonst welche Schriftzeichen sind?“, forderte Claudia mit leicht gereizter Stimme.

Die Runde schwieg zunächst, dann wagte sich Larissa vor. „Ich schätze, es sind chinesische Zeichen.“

„Schätzen heißt nicht wissen. Ich will wissen, welche Bedeutung die Zeichen haben und was es mit diesen Ornamenten auf sich hat. Wer klärt das bis morgen Mittag?“

„Das im Nacken ist eine Yantra-Tätowierung, da bin ich mir sicher“, gab Larissa ein wenig eingeschnappt zurück.

„Yantra-Tätowierung?“

„Das sind religiöse Ornamente, die einen Bezug zum Buddhismus haben. Solche Tattoos sollen Glück, mystische Kräfte und Schutz vor dem Bösen verleihen. Sie sind in Südostasien sehr beliebt.“

„Dein Urlaub in Thailand hat sich ja sogar beruflich gelohnt“, kommentierte Claudia. „Was können wir aus dem bisher Bekanntem schlussfolgern?“

Es war Marco, der als Erster eine Idee hatte. „Die Kleinkaliberwaffe, ein misshandeltes asiatisches Opfer, das ohne Kleidung abgelegt wurde, die Tätowierungen …“

„Das Opfer wurde abgelegt?“, unterbrach ihn Claudia und dachte dann ebenfalls laut nach: „Welcher Mörder aus Leidenschaft, Rachsucht oder Geldgier macht sich die Mühe, sein Opfer zuerst zu erschießen, dann vollständig zu entkleiden, es zu schänden und die Leiche schließlich unter Vermeidung jeglicher Spuren an eine Stelle zu verfrachten, wo sie innerhalb kürzester Zeit gefunden werden musste?“

Malte griff nach einem Energieriegel und antwortete: „Du meinst, wenn es kein Wahnsinniger war, wurde die Leiche als Warnung in den Weinberg gebracht? Eins ist klar: Wenn jemand eine Leiche tatsächlich verschwinden lassen will, wählt er ganz sicher nicht den Madonnenberg kurz vor der Weinlese.“

Marco schlug eine weitere eng beschriebene Seite seines Notizblocks um. „Euch ist ganz sicher bekannt, dass Kleinkaliberwaffen nicht nur bei Sportschützen, sondern auch bei organisierten Banden und unter Auftragskillern beliebt sind. Kleinkaliber sind bei präzisen Schussserien leichter zu kontrollieren und ihr Lärmpegel ist geringer als der größerer Kaliber.“

„Das ist uns bekannt. Trotzdem vielen Dank für den Hinweis“, unterbrach Claudia den Schutzpolizisten im mittleren Dienst, der daraufhin das Thema wechselte.

„Frau Kriminalrätin, Sie sollten mir noch konkrete Vorgaben für die morgige Pressekonferenz geben. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich ein wenig aufgeregt bin. Ich habe so etwas noch nie gemacht.“

Claudia nickte und sah, wie erledigt ihre Mannschaft war. „So, Leute, ihr geht jetzt nach Hause. Ich bereite mit Marco noch kurz die Pressekonferenz vor.“

Als die Truppe den Raum verlassen hatte, beruhigte Claudia ihren neuen Mitarbeiter. „Schon vergessen? Mein Name ist Claudia. Natürlich bist du bei der Pressekonferenz nicht alleine. Wir schaffen das!“

14

„Klingen… Autsch! So ein Mist!“

William hatte den Lautsprecher seines Smartphones eingeschaltet, aus dem nun ein klirrendes Geräusch drang. Ein Gegenstand musste auf einen harten Untergrund gefallen und dort zerbrochen sein.

„Hallo, mit wem spreche ich? Hallo! Wer sind Sie?“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang genervt. William war überrascht. Er hatte nicht erwartet, dass die vierstellige Telefonnummer tatsächlich zu einer Verbindung führen würde. Er erinnerte sich an seine amerikanische Großmutter, die jedermann Grandma Quaggy nannte. Sie war ebenfalls unter einer vierstelligen Telefonnummer erreichbar gewesen und hatte auf einer kleinen Farm inmitten der Sumpflandschaft westlich von New Orleans gelebt, wo es furchterregende Schlingpflanzen und zu jeder Jahreszeit Milliarden hinterlistiger Stechmücken gab. Aber ihr Jambalaya-Eintopf war eine Sensation: Statt Schinken ihrer stachligen Hausschweine verwendete die alte Lady als Suppeneinlage frische Ananas und das Brustfleisch von Flugkormoranen, die sie mit einer Schrotflinte vom Himmel pflückte. Aber all das lag eine halbe Ewigkeit zurück. Grandma Quaggy hatte längst das Zeitliche gesegnet.

„Hallo! Verdammt noch mal, warum melden Sie sich nicht?“

Sollte das wirklich die Stimme der Nichte seiner Mutter sein? Dann wurde die Verbindung beendet und William wurde aus dem Louisiana der Vergangenheit wieder in die deutsche Gegenwart katapultiert. Er hatte sich seinen Begrüßungssatz auf Deutsch vorerst umsonst zusammengestellt.

Der Vorname seiner Cousine war Frauke, dessen hartes „r“ und kantiges „k“ für Williams Geschmack nicht übermäßig weiblich anmuteten. Frauke lebte in Rebheim und war, wollte er den Aufzeichnungen seiner Mutter glauben, ein Jahr jünger als er. Das war aber auch schon alles, was William über diese Frau wusste. Seine Mutter hatte sich stets bemüht, ihm ihre deutsche Heimat und die dort zurückgelassene Familie näherzubringen. Aber William hatte damals weder an der deutschen Verwandtschaft noch an seiner Mutter Interesse gezeigt. Der einzige Mensch, der für den heranwachsenden Billy zählte, war sein Vater gewesen, der heldenhafte, im Dschungel von Kambodscha verschollene FBI-Agent Vincent LaRouche.

Doris Klingenberger hatte, nachdem sie dem damals einundzwanzigjährigen Vincent nach Amerika gefolgt war, nicht ein einziges Mal ihre kurpfälzische Heimat wiedergesehen. Ihr Leben kreiste nach dem Verschwinden ihres Ehemanns zunächst um den kleinen William und den Alkohol, später um Jesus Christus und die Herstellung opulenter alkoholfreier Torten. Ihre deutsche Familie war offenbar auch mit sich selbst beschäftigt und so bestand von beiden Seiten kein nachhaltiges Bedürfnis an einer Aufrechterhaltung der Verbindungen; vergilbte Fotos und verklärte Erinnerungen mussten ausreichen.

Inzwischen waren mehr als vierzig Jahre vergangen. Nur von einer einzigen Person hatte Doris eine Telefonnummer ausgegraben. Es war die ihrer Nichte Frauke. William gab sich einen Ruck und tippte nach der Ortsvorwahl die vierstellige Nummer erneut in das Display seines Smartphones.

Nach dem Telefonat mit Frauke blieb William noch ein paar Minuten nachdenklich in seinem Sessel sitzen. Hatte er Fraukes Nummer in Wahrheit seiner Mutter zuliebe gewählt? William schüttelte den Kopf. Welch ein blödsinniger Gedanke. Frauke hatte seinen zweiten Anruf mit freundlicher Stimme angenommen, sprach ein passables Englisch und man hatte sich zu einem gemeinsamen Abendessen in Rebheim verabredet. Warum auch nicht, sie waren schließlich verwandt. Womöglich könnte ihm seine Cousine sogar Informationen über den mysteriösen Leichenfund auf dem Madonnenberg liefern?

15

Suwannee öffnete die Augen. Wie lange hatte sie geschlafen? Ihre Gesichtshaut brannte unter den Klebebändern, die Kniegelenke fühlten sich wie eingefroren an, obwohl der Mann die Beinfesseln gelockert hatte. Das Schlimmste waren die scharfen Kanten der Kabelbinder, die in ihre Haut schnitten. Ihre Kehle war staubtrocken und die Zunge schien sich in einen trägen Klumpen verwandelt zu haben.

Suwannee rollte sich zur Seite und zog, so gut es ihr möglich war, die Wolldecke über ihren Körper. Glücklicherweise hatte der Mann den Heizlüfter eingeschaltet. Die trockene, warme Luft tat gut und verdrängte immerhin ein wenig den muffigen Kellergeruch in ihrer direkten Umgebung.

Suwannee versuchte sich auf ihre Atmung und den Herzschlag zu konzentrieren. Sie erinnerte sich an den Park des Golden Heaven Palace, der schlossähnlichen Residenz der Pisuphan-Familie im vornehmen Seebad Hua Hin, zwei Autostunden südlich von Bangkok gelegen. Dort verbrachte die Familie, begleitet von Freunden und Verwandten, regelmäßig die heiße Jahreszeit, wenn im April und Mai die Temperaturen in Bangkok auf unerträglich schwüle vierzig Grad kletterten. Suwannee sah den Jadeteich, der sich wie verwunschen inmitten üppiger Dschungelvegetation versteckte. Wie oft hatte sie dort mit ihrem Vater gesessen und mit ihm das Spiel der Tigerlotus-Blüten beobachtet. Suwannees Atem ging ruhig, die Schmerzen ließen allmählich nach. Ihr Vater hatte ganz sicher ihre Befreiung bereits in die Wege geleitet und Pokwang, sein bester Mann für knifflige Situationen, war schon auf der Suche nach ihr. Hatte Pokwang die deutsche Polizei informiert oder Verstärkung aus Bangkok angefordert? Wieder zog es Suwannee zum Jadeteich. Der Tigerlotus faszinierte sie immer wieder von Neuem, wenn sich seine unschuldig weißen Blütenblätter bei Sonnenuntergang öffneten, nachdem sie tagsüber fest verschlossen geblieben waren.

Suwannee schreckte auf. Eine Hand berührte ihre Schulter. Die grässliche Merkel-Maske war zurückgekehrt und grinste sie an.

„Hallo“, kam es blechern aus dem Akustikverzerrer. „Gut geschlafen, meine Prinzessin?“

Suwannee musste über ihre Erinnerungen eingenickt sein. Der Mann zog ihr das Klebeband vom Mund, entfernte die Fußfesseln und schnitt auch die Kabelbinder an den Handgelenken auf. Suwannee konnte sich das erste Mal seit ihrer Gefangennahme wieder einigermaßen ungehindert bewegen.

„Ich schlage vor, du machst dich jetzt ein wenig frisch. Dann isst du etwas. Du musst wieder in Form kommen, wir haben viel zu besprechen.“

Suwannee sah, dass der Mann einen Korb mit Lebensmitteln mitgebracht hatte, dann blickte sie zu der Duschkabine in der gegenüberliegenden Ecke ihres Gefängnisses.

„Ich habe Durst.“

„Natürlich.“ Der Mann zog eine Flasche aus dem Korb und entfernte den Verschluss. „Du magst doch stilles Wasser? Alle Frauen mögen stilles Wasser.“

Suwannee nahm die Flasche und schüttete die Hälfte des Inhalts ohne Abzusetzen in ihre ausgedörrte Kehle.

„Also abgemacht: Du nimmst eine Dusche und machst dich hübsch. Du kannst essen, wenn ich wieder zurück bin, und wir überlegen, wie es weitergeht. Ich gebe dir zwanzig Minuten.“

Suwannee zwang sich in ihre zerknitterten und verschwitzten Kleider. Trotz der Dusche ekelte sie sich in ihrer seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gewechselten Unterwäsche. Auch ihre Bluse und der Pullover rochen unangenehm. Sie war gerade wieder in ihre Stiefel geschlüpft, als sich die Tür öffnete und der Mann hereintrat.

„Na, geht’s jetzt besser?“

Suwannee antwortete nicht. Sie kauerte sich auf die Matratze und massierte ihre geschundenen Handgelenke.

„Kabelbinder sind praktisch, aber nicht angenehm. Tut mir leid.“ Der Mann zog eine Tube mit einer Wundsalbe aus seiner Kitteltasche und reichte sie Suwannee. Dann schob er den Korb in ihre Nähe.

„Du musst etwas essen.“

„Wie stellen Sie sich unsere sogenannte Partnerschaft vor?“ Suwannee war über den geschäftsmäßigen Klang ihrer Stimme überrascht.

„So gefällst du mir. Da spricht die zukünftige Herrscherin über ein Milliardenimperium.“

„Was sind Ihre Forderungen?“ Suwannee strich sich ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht. Dabei fiel ihr Blick auf den Inhalt des Korbes. Dort gab es Obst, Naturjogurt, eine Packung Kräcker, Bio-Müsliriegel, Schweizer Schokolade, weitere Plastikflaschen mit stillem Wasser und kleine Glasflaschen mit verschiedenen Fruchtsäften. Der Mann hatte sogar an Papierservietten gedacht.

Ein merkwürdiger Kerl, überlegte Suwannee und erinnerte sich an die Situation, als er sie mit der flachen Hand geschlagen hatte. Dieser Mann spielte den harten Burschen, war aber weit davon entfernt, einer zu sein. Suwannee kannte sich mit harten Jungs aus. Einige von ihnen arbeiteten für ihren Vater. Es waren Profis mit eiskalten Herzen wie Pokwang, der einer Gefangenen niemals eine Creme für die Behandlung von Hautverletzungen angeboten hätte.

„Du solltest mal die Weintrauben probieren. Frische Ernte aus der Region, garantiert ungespritzt. So etwas bekommt selbst eine asiatische Prinzessin nicht alle Tage.“

 

Suwannee griff nach einer Weintraube. Was sollte das hier werden? Ein unterirdisches Picknick? Schon jetzt tat ihr der Mann leid. Wenn man ihn aufgespürt hatte, würde er den Tag, an dem er geboren wurde, verfluchen. Sie erinnerte sich an einen Fall, als vor Jahren in Bangkok der zwölfjährige Sohn eines Geschäftsfreundes ihres Vaters verschleppt wurde. Die Familie entschied damals, auf den Einsatz der Polizei zu verzichten und ganz auf den eigenen Sicherheitsdienst zu vertrauen. Nach achtundvierzig Stunden war der Junge wieder frei und die fünf Entführer, allesamt Mitglieder einer kambodschanischen Gangsterbande, lagen erschossen und mit ausgestochenen Augen vor dem Hauptquartier der Royal Thai Police in Bangkok.

„Ich würde jetzt gerne hören, was Sie mit mir vorhaben.“

„Okay. Wie es die Prinzessin wünscht!“ Der Mann beugte sich ihr entgegen. „Dann hör mir jetzt gut zu: Der Preis für dein Leben beträgt dreißig Millionen. Die Hälfte in Euro, die andere Hälfte in US-Dollar. Und ich will alles in bar. Gebrauchte, kleine Scheine. Hast du verstanden?“

Suwannee musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen. „In bar? In welcher Welt leben Sie? Soll das Geld von Bangkok mit einem Lastwagen auf dem Landweg transportiert werden? Wissen Sie, welchen Platzbedarf und welches Gewicht dreißig Millionen in kleinen Scheinen haben?“

„Weiß ich“, behauptete der Mann. „Deine Aufgabe ist es, deinem Vater klarzumachen, dass er zu bezahlen und sich an meine Anweisungen zu halten hat, wenn er seine Tochter lebend wiedersehen will.“

Suwannee war mittlerweile überzeugt, dass sie in die Hände eines versponnenen Amateurs geraten war. Und selbst wenn ihr Entführer Helfer haben sollte, waren sie vermutlich ähnlich beschränkt und keine Herausforderung für Pokwang und seine Männer.

„Okay, was habe ich zu tun?“, fragte sie höflich. Sie wollte gute Miene zum lächerlichen Spiel machen und damit Zeit gewinnen. Pokwang wartete vermutlich nur auf Unterstützung aus Bangkok, um sie aus diesem Keller zu befreien.

„Ich komme bald zurück. Dann besprechen wir die Details. Schade, dass du nichts gegessen hast. Ich muss dir jetzt die Fesseln und den Knebel wieder anlegen. Sorry, aber du solltest zukünftig befolgen, was ich dir rate. Ich wiederhole es gerne noch einmal: Wir spielen keine Spielchen. Darauf kannst du dich verlassen!“

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