Asian Princess

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3

Michael Kühnle stieg, wie an jedem Morgen, die Windungen der Silvanerstraße hinauf. Er passierte den Neubau der Winzergenossenschaft, legte am Aussichtspunkt unterhalb der Guldenburg eine erste Verschnaufpause ein und stieß einen schrillen Pfiff aus. Diabolo unterbrach daraufhin die Verfolgung einer aufgenommenen Fährte, hob den Kopf, stellte die Ohren auf und fand den Blick seines Herrchens. Dann trabte der Schäferhund den oberen Teil des Weges zurück.

„Sodele, do kumscht her un hogscht di hi.“

Die Kirchturmuhr von Sankt Michael zeigte kurz vor halb acht. Hund und Herrchen blickten einträchtig von der Anhöhe über das verschlafene Rebheim an der badischen Weinstraße. Die beiden schienen die sonntägliche Ruhe zu genießen.

„Was wolle mir denn heut Middach Feines esse? Mir hädde do noch zwee Brotwörscht un Kadoffelpannekuche“, schlug der alleinstehende Kühnle vor, als sie wenig später die Abkürzung zum Madonnenberg hinaufkletterten. Diabolo war folgsam bei Fuß geblieben und warf seinem Herrchen immer wieder einen kurzen Seitenblick zu.

„Alla hopp, dann spring mol widda!“

Michael Kühnle war viele Jahrzehnte Hauptmeister der Schutzpolizei gewesen. Als ihm nach etlichen Bandscheibenvorfällen ein Teil seines Rückgrats versteift wurde, hatte man ihm bis zu seiner Pensionierung die Leitung der Heidelberger Polizeihundestaffel übertragen. Diabolo, der sich im besten Hundealter befand, hatte ihn schließlich in den Ruhestand begleiten dürfen und Kühnle wollte den Tatendrang seines ehemaligen Diensthundes nicht durch seine eigene eingeschränkte Beweglichkeit lähmen. Und so überquerten die beiden Frühaufsteher in unterschiedlichem Tempo die mit Morgentau bedeckten Streuobstwiesen und erreichten den Höhenweg des Madonnenbergs. Ihr Ziel waren die Weingärten der südöstlichen Hanglage, über die bereits die Strahlen der aufgehenden Sonne strichen. Kühnle liebte die Jahreszeit, wenn der Sommer sich verabschiedete und der Herbst heranschlich. In wenigen Tagen würde die Hauptlese des Spätburgunders beginnen. Je näher sie den Weingärten kamen, desto deutlicher stieg ihm der fruchtig-säuerliche Duft der violettblauen Trauben in die Nase. Auch Diabolo hob die Nase und verharrte einen Moment. Dann sah Kühnle seinen Hund in einer Rebzeile verschwinden. Ein heller Pfiff durchschnitt die Stille. Ein weiterer folgte.

„Diabolo!“

Kühnle war es gewohnt, dass sein Hund, seit dieser keine dienstlichen Pflichten mehr zu erfüllen hatte, seine Freiheiten durchaus eigenwillig nutzte. Was den gutmütigen Pensionär üblicherweise nicht weiter besorgte, war mit Beginn der Weinlese eine andere Sache. Wenn sich in den Weingärten Vogelschwärme und andere Erntediebe über die Trauben hermachten, wurde der eine oder andere Winzer schon nervös. Da wurde nicht lange gefackelt und gelegentlich sogar scharf geschossen.

„Diabolo! Kumsch jetzt odder kumsch net?“

Endlich hatte auch Kühnle die steil ansteigende Rebzeile erreicht, in die sein Hund gewitscht war. Als er sich an Diabolo herangearbeitet hatte, sah er dessen Hinterteil hin und her schwingen und Hinterläufe, die sich in den feuchten Erdboden gruben. Diabolo schien in der nicht einsehbaren benachbarten Rebreihe mit etwas beschäftigt zu sein, das seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit beanspruchte. Kühnle schob das Blattwerk der Reben beiseite. Ein Schreck durchfuhr den ehemaligen Polizisten. Sein Blick fiel auf einen unbekleideten menschlichen Körper. Kühnle hatte in seinem Leben schon so manchen Toten gesehen, aber noch niemals zuvor in ein derartig entstelltes Gesicht geschaut. Tief klaffende Schnitte zogen sich von den Ohren und dem Kinn über die Nasenwurzel bis hinauf zum Haaransatz. Geronnenes Blut hatte das Antlitz in eine dunkelrote Krater- und Krustenlandschaft verwandelt, die teilweise noch von Raureif überzogen war und jede Menschenähnlichkeit verloren hatte. Das Schlimmste waren jedoch die Augenhöhlen. Man hatte dem Toten die Augäpfel herausgerissen und die Reste faseriger Nervenverbindungen und Muskelstränge hingen gespenstig aus den leeren Schädelöffnungen heraus.

Kühnle schaute sich um. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Natürlich wusste er, wie ärgerlich es für die Kollegen der Kriminalpolizei war, wenn am Fundort einer Leiche die Aktivitäten der Entdecker möglicherweise aufschlussreiche ältere Spuren verwischten. Trotzdem konnte er seiner professionellen Neugier nicht widerstehen. Der Boden des Weinberges war rutschig und steil. Michael Kühnle suchte Halt an einem der Drahtspaliere, an denen die Rebtriebe aufgeheftet waren, und sah noch einmal durch das Blattgewirr. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Der schlanke, mittelgroße nackte Körper lag auf dem Rücken. Kühnle sah schmale Schultern und eine unbehaarte Brust. Als sein Blick hinab zum Geschlecht der männlichen Leiche wanderte, verspürte er einen Brechreiz. Der Penis fehlte. Nur ein blutverkrusteter Stumpf war übrig geblieben. Hatte man den Mann hier im Weinberg abgeschlachtet? War er möglicherweise bei lebendigem Leib verblutet? Kühnle wendete sich ab, zog das Mobiltelefon aus der Jacke und wählte die Nummer der Polizei.

4

William hatte sich für ein Restaurant am Jachthafen entschieden und gegrillte Riesengambas und Tom-Kha-Gai, eine mild-scharfe Kokossuppe mit Hühnerfleischeinlage, bestellt, als sein Mobiltelefon vibrierte. Er erkannte die Nummer von Penelopes Büro in Bangkok. Es war acht Uhr abends und eine Dreimannkapelle spielte den Uraltschlager „Dancing in the Dark“, wobei der schwergewichtige thailändische Sänger die Stimme Frank Sinatras verblüffend originalgetreu imitierte. William stöpselte die Ohrhörer ein und zog sich an die Bar zurück, wo der Geräuschpegel ein wenig geringer zu sein schien.

„Hallo, Penelope. Kannst du mich hören …?“

„Ja. Ich höre dich. Und ich höre Frank Sinatra. Amüsierst du dich gut?“

„Kann nicht klagen! Prima Wetter. Gutes Essen. Eiskalte Cola und ein dicker, brauner Frankie Boy singt Songs aus der Heimat.“ William versuchte seine Freude über Penelopes Anruf einigermaßen zu verbergen. „Wir sehen uns doch nächste Woche?“

„Klar! Der Termin steht. Aber ich muss vorher mit dir reden. Es ist dringend.“

Penelope wirkte konzentriert und geschäftsmäßig. William erinnerte sich, dass die Juristin gerne Beruf und Freizeit auseinanderhielt.

„In Ordnung. Ich hoffe, es stört unser Gespräch nicht zu sehr, wenn der Koh-Samui-Frankie inzwischen weitersingt. Also: Ich höre!“

„William, ich freue mich echt auf unser Wiedersehen in ein paar Tagen. Entschuldige bitte, dass ich dich in deinem Urlaub belästige, aber einer unserer Klienten hat ein Problem. Ich möchte dich um etwas bitten.“

„Mach’s nicht so spannend. Wie kann ich helfen?“

William war in entspannter Urlaubsstimmung, auf ihn wartete ein leckeres Abendessen, der Rückflug nach New York war gebucht und sein Hilfsangebot leichtfertig dahingesagt. Egal, dachte er bei sich, wenn Penelopes Anliegen eine telefonische Beratung überschritt, konnte er sich immer noch mit seinen Verpflichtungen in Amerika entschuldigen.

„William, du hast mir erzählt, dass du einigermaßen deutsch sprichst. Deine Mutter stammt doch aus Deutschland. War es nicht so?“ William entsann sich, dass er etwas in dieser Art erwähnt hatte, als sie sich in langen nächtlichen Gesprächen ihre Vergangenheit erzählt hatten.

„Ich spreche eigentlich nur mit meiner Mutter deutsch“, schränkte William ein, „aber ich denke, ich komme dabei ganz gut zurecht.“

„Das hört sich prima an“, lobte Penelope.

„Gibt es etwas zu übersetzen oder sucht einer deiner reichen Klienten einen Reiseführer für einen Trip nach good old Germany?“

„Mein Klient sucht seine Tochter. Sie studiert in Deutschland. In Heidelberg. Deine Mutter kommt doch aus Heidelberg, wenn ich nicht alles durcheinandergebracht habe?“

William musste schmunzeln. Nur Penelopes äußere Erscheinung war asiatisch. Ihre amerikanischen Adoptiveltern hatten sie als Säugling aus einem thailändischen Waisenheim adoptiert. Sie war in Washington aufgewachsen und vom Scheitel bis zur Sohle Amerikanerin. Er hatte ihr tatsächlich erzählt, dass seine Mutter aus Heidelberg stammte. Welcher Amerikaner kannte schon das verschlafene Rebheim am Rande des südlichen Odenwaldes, in dem sie wirklich aufgewachsen war.

„Es war doch Heidelberg? Nicht wahr? William, bist du noch am Apparat?“

Penelope hatte aus dem deutschen Heidelberg ein amerikanisches Haidelbörg gemacht, was William an seinen Vater erinnerte, der diesen Namen ebenso ausgesprochen hatte. „Heidelberg. Es heißt Heidelberg“, William betonte dabei das „e“ in der letzten Silbe.

„Okay. Haidelbörg“, wiederholte Penelope und begann das Problem ihres Klienten zu erläutern. William hörte zu, sein Interesse an Penelopes Ausführungen hielt sich jedoch in Grenzen. Er war vielmehr überrascht, was die mehrmalige Erwähnung von Heidelberg, einem Ort, den er noch nie besucht und von dem er keine rechte Vorstellung hatte, in ihm auslöste. Vor seinem inneren Auge tauchte unvermittelt seine Mutter auf. Doris LaRouche, geborene Klingenberger aus Rebheim bei Heidelberg, schien sich in den Momenten, in denen Penelopes Worte an ihm vorbeirauschten, in seinem Coca-Cola-Glas zu spiegeln. Er riss sich von diesem Bild los und hörte, dass Penelopes Klient seine Tochter zu einem Studienaufenthalt nach Heidelberg geschickt hatte. Bereits seit Tagen versuchte der Vater nun vergeblich seine Tochter zu erreichen. Da der Mann ausländischen Behörden grundsätzlich misstraute und zudem Zweifel an der Effizienz der deutschen Polizei in sich trug, hatte er sich an Penelope, die Niederlassungsleiterin der Goldstein-&-Schulman-Kanzlei in Bangkok, gewendet.

 

„Ich glaube, das ist keine große Sache. Das Mädchen ist Mitte zwanzig. Vermutlich genießt sie noch einmal in vollen Zügen ihre Freiheit, weit weg vom strengen Vater und mit großem Abstand zu den Aufgaben, die sie bei ihrer Rückkehr nach Bangkok erwarten. Mein Klient ist sehr einflussreich. Vermutlich würde in einer ähnlichen Situation in Thailand ein Anruf von ihm genügen, und die Royal Thai Police würde alles stehen und liegen lassen und sich mit Mann und Maus auf die Suche nach seiner Tochter konzentrieren“, mutmaßte Penelope. „Also, wenn du Lust auf einen gut bezahlten Abstecher in die alte Heimat deiner Mom hast …“

„Was sind das für Aufgaben, die auf das Mädchen in Bangkok warten? Wo ist der Haken an der Sache?“ In Williams Gehirnwindungen trieben erneut die drei Silben Hei-del-berg ihr Unwesen.

„Du fragst nach dem Haken? In der Tat gibt es da so etwas wie einen Haken: Mein Klient ist bereits Mitte achtzig und wenn er einmal nicht mehr lebt, wird seine Tochter das reichste Mädchen Thailands sein. Der Vater hat Sorge, dass seinem Kind etwas zugestoßen sein könnte. Der Mann ist mächtig. Natürlich hat er nicht nur Freunde. Es gibt Konkurrenten, die ihm das Leben schwer machen wollen.“

William blieb schweigsam. Vielleicht ein wenig zu lange.

„Hallo? William, bist du noch da?“

„Ja, ich bin noch da.“

Er nickte der netten Kellnerin zu, die ihm mit Gesten verständlich machte, dass sie sein Essen in der Küche warmgestellt hatte. „Ehrlich gesagt passt ein solcher Auftrag überhaupt nicht in mein Programm. Ich bin Anfang kommender Woche wieder in New York und habe dort einiges zu tun. Andererseits …“, William zögerte, „Deutschland, Heidelberg … das hört sich interessant an. Gib mir eine Nacht zum Überlegen. Ich melde mich morgen Vormittag bei dir.“

5

Claudia Bächle-Malvert, die Leiterin des Dezernats für Kapitaldelikte, und ihr Stellvertreter Malte Brettschneider waren aus Heidelberg, dem ausgelagerten Standort ihrer Abteilung, im Mannheimer Polizeipräsidium erschienen und betraten einen Konferenzraum, in dem noch die feuchtklamme Luft der vergangenen Nacht hing. Obwohl es tagsüber noch überwiegend freundlich und sonnig war, wurde es in den Nächten schon empfindlich kühl und der erste Nachtfrost schien nicht mehr fern.

Die Kriminalrätin zögerte, ihren Mantel und die Mütze abzulegen. Der Hausmeister hatte erst vor wenigen Minuten die angekippten Fenster geschlossen und die Heizkörper aufgedreht. Immerhin standen schon zwei Thermoskannen Kaffee, Pappbecher und mehrere Schalen mit Gebäck auf dem Besprechungstisch. Auch die Pressemappen lagen in ausreichender Menge bereit. Claudia schenkte sich einen Kaffee ein, der tiefschwarz dampfte und nur kleine Schlucke zuließ. Dann erst schälte sie sich aus ihrem Loden- und Strick-Outfit und ihre üppigen weiblichen Rundungen kamen deutlicher zum Vorschein.

„Scheißherbst. Tut meinem Bein gar nicht gut“, beschwerte sie sich, fuhr sich mit den Fingern durch ihre brünette Kurzhaarfrisur und frischte mit einem Fettstift den Schutz ihrer zu dieser Jahreszeit stets zu trockenen Lippen auf.

„Es ist bald Winter, dann geht’s dir wieder besser“, versuchte Malte seine Chefin aufzumuntern. In Kürze war die traditionelle Statistik-Pressekonferenz angesetzt, auf der die Anzahl der unterschiedlichen Delikte und Verbrechen des Vorjahres sowie deren Aufklärungsquoten der Öffentlichkeit präsentiert wurden. Auch wenn noch kein einziger Journalist erschienen war, hörte Claudia schon jetzt die süffisanten Fragen, weshalb die Ergebnisse für den mittlerweile weit zurückliegenden Berichtszeitraum mit einer derartigen Verspätung bekannt gegeben wurden. Sollte sie das übliche Lamento der Überlastung des öffentlichen Dienstes anstimmen, was diesmal in der Tat mehr als berechtigt war? Mitarbeiter sämtlicher Polizeidienststellen waren seit Monaten in die Registrierung der Flüchtlingsströme aus dem mittleren Osten und aus Afrika eingebunden. Zehntausende von Überstunden hatten sich aufgetürmt. Zunehmend meldeten sich Kollegen wegen Erschöpfung dienstunfähig, selbst Polizeidirektor Kachelmann hatte es erwischt. Mit kaum hörbarer Stimme hatte der Behördenchef Claudia zu nachtschlafender Zeit mitgeteilt, dass er selbst unmöglich die Pressekonferenz leiten könne und sie sich, in ihrer Funktion als seine zweite Stellvertreterin, stattdessen mit den Medienvertretern herumschlagen dürfe.

Claudia fühlte sich ausgelaugt. Sie plagten Phantomschmerzen, gegen die es kaum wirksame Medikamente gab, und die Prothese hatte ihren Unterschenkelstumpf wundgescheuert. An ihrem ursprünglich freien Wochenende war sie am Sonntagmorgen in den kleinen Ort Rebheim geeilt, wo eine Leiche gefunden worden war. Es war das erste vollendete Kapitalverbrechen des laufenden Jahres im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion Mannheim. Die Spurensicherung vor Ort, die Zusammenstellung einer Sonderkommision, die Auswertung der ersten Erkenntnisse und die Kontaktaufnahme zur Gerichtsmedizin – das alles hatte sich bis weit in die Nacht zum Montag hingezogen und nur drei unruhige Stunden Schlaf ermöglicht.

„Wir gehen folgendermaßen vor.“ Claudia wandte sich müde an ihren Kollegen. „Du erläuterst die Statistik der Kapitalverbrechen. Hier gibt es immerhin Erfreuliches zu vermelden. Bei den Wohnungseinbrüchen, den Verkehrsdelikten und den Sexualstraftaten fassen wir uns kurz und verweisen auf die Pressemappe. Bei Detailfragen sollen sich die Herrschaften an Kachelmanns Büro wenden. Ich denke, in einer halben Stunde haben wir die Meute wieder aus dem Saal.“

„Was ist, wenn der Rebheimer Mord ein Thema wird?“ Malte hatte am Sonntag den Pokalsieg der Fußballmannschaft seines Sohnes gefeiert und war erst in den Abendstunden zur Sonderkommission, der man den Namen „SK Madonnenberg“ gegeben hatte, gestoßen.

„Du meine Güte! Die Leiche wurde doch gerade erst entdeckt. Da gibt’s noch nichts zu berichten.“

„Die Meldung kam heute früh schon im Radio. Der Moderator hat’s dramatisch gemacht: ‚Bestialischer Mord im Weinberg.‘“

„Woher wissen die, dass es ein Mord und der Tatort ein Weinberg war?“, fragte Claudia verärgert. „Sei’s drum! Sie haben erfahren, dass es eine Leiche gibt, und spekulieren nun herum, obwohl sie keine Ahnung haben. Wenn’s denn sein muss! Du hältst dich in dieser Sache zurück und lässt mich reden.“

Claudia wollte eigentlich noch anfügen, dass sie gerade heute große Lust verspürte, den Medienleuten einmal ihre Meinung zu deren vorschnellen und unverantwortlichen Vermutungen vorzutragen, als sich die Tür öffnete und ein Polizeibeamter in Uniform eintrat.

„Kriminalrätin Bächle-Malvert? Entschuldigen Sie meine Verspätung. Mein Name ist Klingenberger. Sie hatten mich für acht Uhr bestellt.“

„Ah, Sie sind also Polizeimeister Klingenberger, der Leiter des Polizeipostens von Rebheim. Guten Morgen.“

„Kommissarischer Leiter, Frau Kriminalrätin. Ich habe die Leitung des Postens bis auf Weiteres vertretungsweise übernommen. Eine Entscheidung über die Nachfolge von Polizeihauptmeister Lorenz ist noch nicht gefallen“, korrigierte der Beamte. Claudia reichte ihm die Hand und musterte den jungen Polizisten.

„Wie alt sind Sie?“

„Sechsundzwanzig.“

„Herr Klingenberger, Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Absperrung des Tatortes und das Protokoll der Aussage des ehemaligen Kollegen Kühnle, der die Leiche entdeckt hat, waren vorbildlich“, lobte Claudia und fuhr fort: „Ich möchte Sie bitten, dass Sie an der Pressekonferenz teilnehmen. Es könnte sein, dass die Rebheimer Leiche schon jetzt ein Thema für die Medien ist. Vielleicht ist es nötig, mit ein paar objektiven Information den wilden Spekulationen …“

„Es kam heute früh schon im Radio“, unterbrach Klingenberger. „Ich verstehe nicht, warum die Medien nicht begreifen, dass sie mit dieser Art der Berichterstattung die Arbeit der Polizei nicht einfacher machen.“

„Da haben Sie verdammt noch mal recht“, stimmte Claudia zu und setzte zu einem schrägen Vergleich an: „Diese Pressegeier stürzen sich auf jedes ungelegte Ei, in dem sie eine Sensation vermuten.“

„Eine Leiche ist schon ein wenig mehr als ein ungelegtes Ei“, korrigierte Malte seine Chefin, als endlich die ersten Journalisten mit zehn Minuten Verspätung den Raum betraten.

„Meine Dame, meine Herren. Bitte nehmen Sie Platz und bedienen Sie sich. Das Polizeipräsidium scheut keine Kosten und Mühen und spendiert Ihnen zur Feier des Tages echten Bohnenkaffee und Selbstgebackenes“, begrüßte Claudia ihre Gäste, unter denen sie nur ein weibliches Wesen entdeckte. Die junge Frau mit neugierigen Augen und blonden Zöpfen wurde von einem Mann etwa gleichen Alters begleitet, der eine Kamera auf der Schulter trug. Claudia war überrascht. Das erste Mal seit Einführung der öffentlichen Bekanntgabe der Kriminalstatistik beehrte eine Abordnung des privaten Fernsehsenders Badenia-TV die Veranstaltung.

Als alle ihre Plätze gefunden hatten und die Pressemappen verteilt waren, begann Hauptkommissar Malte Brettschneider mit seinem Vortrag. In einer monotonen, einschläfernden Stimmlage verwies er auf den erfreulichen Rückgang der Gewaltkriminalität und hob die beruhigende Entwicklung im Bereich der Kapitalverbrechen hervor. Im Vorjahr hatte es in den Landkreisen zwischen Rhein und Neckar und in den Großstädten Mannheim und Heidelberg, einem Gebiet in dem immerhin eine Million Menschen beheimatet waren, lediglich zwei vollendete Tötungsdelikte und fünf Fälle von versuchtem Mord gegeben. Die Aufklärungsquote betrug einhundert Prozent. Die Täter saßen bereits hinter Schloss und Riegel.

„Die Bürger der Rhein-Neckar-Region können sich sicher fühlen und stolz auf ihre Polizei sein.“ Malte beendete seinen Vortrag und blickte zufrieden in den Kreis der Zuhörer. Statt eines dankbaren Beifalls erntete er eher gelangweilte Blicke. In Claudia keimte der Verdacht, dass es nicht der Pulverkaffee und die Discounter-Kekse, sondern ein ganz anderes Interesse war, das die erstaunlich umfangreiche Herde ins Polizeipräsidium getrieben hatte.

„Meine verehrten Vertreter der regionalen Medien. Sollten Ihnen die Ergebnisse unserer erfolgreichen Polizeiarbeit zu öde und zu wenig schlagzeilenträchtig erscheinen, könnten Sie Ihre Kundschaft möglicherweise durch Vergleichswerte ein wenig aufmuntern: Im ähnlich großen Stuttgarter Raum wurden im selben Zeitraum dreiundzwanzig Morde und Tötungsversuche verübt.“ Endlich kratzten die ersten Stifte über die Notizblöcke und die Kriminalrätin legte nach: „Und wem das nicht genügt, dem empfehle ich, bei jeweils vergleichbaren Einwohnerzahlen, die Partymetropole Kingston auf Jamaika, hier fielen fast fünfhundert Menschen einem vollendeten Kapitalverbrechen zum Opfer. Oder wie wär’s mit dem Urlaubsparadies Acapulco mit eintausendneunundzwanzig Mordfällen, im Durchschnitt fast drei an jedem gottverdammten Tag eines Jahres. Das sind doch wahre Paradiese für Sensationsreporter. Kein Mensch hindert Sie daran, sich dorthin versetzen zu lassen.“

Kaum war die zynische Zahlenparade verklungen, meldete sich die blonde Mitarbeiterin von Badenia-TV zu Wort und ihr Begleiter schaltete seine Kamera ein. „Frau Kriminalrätin, der Vortrag über die bemerkenswerte Arbeit unserer Polizei war nett, handelt aber von längst Vergangenem. Was zählt, ist die Gegenwart.“ Ein kühles Lächeln traf Claudia.

„Was können Sie uns über den Mord auf dem Rebheimer Madonnenberg berichten? Ist es wahr, dass der Mann asiatischer Herkunft ist? Handelt es sich womöglich um einen asylsuchenden Flüchtling? Was folgern Sie aus der Tatsache, dass die Leiche splitternackt aufgefunden wurde? Könnte das Verbrechen einen fremdenfeindlichen Hintergrund haben?“

Claudia schwante Unerfreuliches. Ganz bestimmt würde der mysteriöse Leichenfund schon sehr bald auch die Bluthunde überregionaler Medien anlocken. Das provozierende Auftreten der Badenia-TV-Reporterin war ein Vorgeschmack auf das Kommende. Claudias Blick traf Polizeimeister Klingenberger, der die Pressekonferenz bis hierher konzentriert verfolgt hatte. Seine Uniform saß perfekt, immer wieder ließ er seine weißen Zahnreihen aufblitzen und trotz seiner Zurückhaltung umgab ihn eine charmante Selbstsicherheit. Alles in allem wirkte der junge Schutzpolizist eher wie ein medienerprobter, gut erzogener Fußballprofi, der jede noch so aufdringliche oder dämliche Journalistenfrage souverän wegzulächeln vermochte. Vielleicht wäre es kein schlechter Schachzug, Klingenberger, der zudem ein guter Polizist zu sein schien, vorübergehend als eine Art Pressesprecher der Sonderkommision Madonnenberg zu verwenden. Claudia war aufgefallen, wie nicht nur die forsche Fernsehreporterin den telegenen Kollegen wohlwollend taxiert hatte.

 

„Sie haben Glück, dass ich heute in guter Laune bin“, begann Claudia mürrisch. Sie wusste, wie unvorteilhaft ihr Äußeres auf Fotos oder in bewegten Bildern wirken konnte, und gab sich erst gar keine Mühe, freundlich zu erscheinen. „Wenn Sie keine Fragen zum Vortrag von Hauptkommissar Brettschneider haben, gebe ich Ihnen ein erstes Statement zum Stand der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem erwähnten Leichenfund. Nach meiner Erklärung ist die Pressekonferenz beendet. Sie gehen dann zum Frühstück in Ihre Redaktionen und wir können uns endlich wieder der Aufklärung von Verbrechen zuwenden.“

Ein aufgeregtes Murmeln ging durch die Reihen. Die schreibenden Journalisten setzten die Sprachaufnahmefunktion ihrer Mobiltelefone in Gang. Der Kameramann nahm Claudia Bächle-Malvert ins Visier, die grimmig ins Objektiv starrte und das Wenige wiederholte, was sich unter den Journalisten sowieso schon wie ein Lauffeuer verbreitet hatte.

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