Bildungsethik (E-Book)

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2.1Ton und Ackerboden: Antike Suche nach einer Form für den Menschen

Es beginnt in Griechenland. Weich sei der Mensch, so weich, dass er der Form, der Gestalt, des Ideals bedürfe. Er genüge sich nicht, müsse suchen über sich hinaus, für was er leben solle. Die Suche nach Sinn öffnet für fordernde Ideale. Für sie ist das Ich zu enormer Selbstdisziplin bereit, selbst zur Gewalt gegen sich selbst. Die Gegenbewegung gab es auch: Die Epikureer rieten zu unbeschwertem, zurückgezogenem Selbstgenuss. Auch ihre Haltung lebt vom Thema der hohen Ideale, nur in ablehnender Art. Ein Anfang, im Morgenlicht.

Um 700 v. Chr. zeigt Homer Ideale durch Erzählen – von Mythen, zugleich Vergangenheit und Gegenwart. An Helden, hinter denen die Gegenwart weit zurückbleibt, sollen die Heutigen sich aufrichten. In der Ilias verkörpert Nestor den erzieherischen Anspruch.

Dem Erzählen setzen die Philosophen das Denken entgegen. Wer sich, so Platon (427–347), Genuss und Leidenschaften hingibt, gewinnt keine Selbstbeherrschung und versinkt im Chaos. Man darf Gefühlen, auch der Sehnsucht nach Heldentum, nicht die Führung überlassen. Sondern soll kritisch über Ideale nachdenken und sich für die wahren entscheiden: also philosophieren. Um sich zu entscheiden, Gerechtigkeit höher zu schätzen als Genuss, braucht die Jugend Erziehung. Platon war der erste, der ihr eine Institution gab: die Akademie, die in Lehre, Dialog und Fest die Jugend systematisch an die Hand nahm.

Plattein bezeichnete handwerkliches Formen und Gestalten. Platon überträgt es auf die Erziehung.58 Bildsam, euplaston, ist die junge Seele, wie Ton. Sie sehnt sich, zur reinen Schau der Ideen aufzusteigen. Aber sie kennt das Ziel noch nicht. Sie wartet darauf, ihre Form zu empfangen. Darum erzählen Mütter Kindern Mythen. Und darum sollen Erzieher führen. Der Zögling ist, wie der Ton für den Künstler, Objekt der Kunst des Erziehers.

Ein guter Zögling zeichnet sich durch Auffassung und Zuhören aus. «Er geht den Aufgaben nach, die er hat, doch neben allem hält er sich stets an die Philosophie und an die tägliche Lebensweise, die am meisten seine Lernfähigkeit, sein Gedächtnis und sein Vermögen, bei nüchterner Besinnung zu denken, fördert.»59 Die beste Art voranzukommen – merke jeder an sich selbst! Ein pluralistisches, dezentrales Element, das der Verschiedenheit der Menschen Rechnung trägt. Im Blick auf den Weg. Im Blick auf sein Ziel aber spielt ein Entfalten der individuellen Eigenart, die dem Erzieher unbekannt wäre, keine Rolle. Platon denkt idealistisch. Und autoritär.

Das ist gefährlich. Diese Sicht des menschlichen Werdens macht den alten, gebildeten Mann überstark; Platon sähe ihn gern an der Macht. Dass die Jugend Führung mit Sex vergalt, schien damals angemessen. Wer wie Platon am Anfang einer kulturellen Entwicklung steht, kann nicht alle Fallstricke überschauen. An die heutige Rezeption richtet sich ein höherer Anspruch. Die Wirkungsgeschichte der platonischen Erziehung zeigt Schwierigkeiten, sich aus der Missbrauchstradition zu lösen: in einer Kirche, die ihren Glauben häufig als Gefüge idealer Wahr- und Schönheiten missversteht, oder im «pädagogischen Eros» der Odenwaldschule und mancher Reformpädagogen.60

Platon verstand Erkennen als Erinnern an ein inneres Ziel, das immer schon trägt. Aristoteles (384–322) – auch er gründete eine Schule, den Peripatos – setzt einen anderen Akzent: Erkennen sei nicht auf ein festes, den Weisen schon bekanntes Ziel festgelegt. Er sieht Raum für Erfahrungen mit der Welt, für einen offenen Prozess. Dieses Offenstehen nennt Aristoteles Geist, «das, womit die Seele nachdenkt und vermutet». Der Geist könne alles Denkbare denken, sei aber damit nicht identisch. Bevor er denke, gleiche er vielmehr einer wächsernen «Schreibtafel, auf die noch nichts geschrieben sei», einer tabula rasa61. Durch Erkennen kann der Mensch alles Mögliche werden. Das Ich gewinnt Form durch das, was es an Welt aufnimmt.

Diese Vorstellung hat, verengt, Schule gemacht. John Locke (1632–1704) hat das Bild der unbeschriebenen Tafel zur Grundlage eines Menschenbilds gemacht, das nur äussere, sinnlich vermittelte Erkenntnis kennt. Selbstwahrnehmung und Empathie haben keinen Platz. Es ist bis heute hoch wirksam: Ein ziemlich unreflektierter Mainstream der Wissenschaft will nur objektivierbare Fakten als Grundlage akzeptieren. Als gäbe es am Menschen nicht mehr zu erkennen als seine beobachtbare Aussenseite!

Die Römer gehen handfester vor. Den Umgang mit sich selbst und mit den anderen beschreiben sie als cultus, Gartenpflege. Die Erziehung des Geistes, cultus animi, ist stete Arbeit. Nicht wie im Künstleratelier, wie im Gemüsegarten stehe es um den Menschen! Cicero (106–43) spricht, noch intensiver, von cultura animi: harte Arbeit! Nicht nur ein wenig cultus, der nicht immer Frucht bringe. Sondern umzupflügen sei wie auf dem Acker! Cicero steht eine Rodung vor Augen. Die «cultura animi reisst die Fehler und Laster mit der Wurzel heraus und bereitet den inneren Menschen zur Aufnahme der Saat, die dann zu reicher Frucht heranreift». Die Saat ist die Unterweisung, doctrina. Ohne diese Form von aussen bleibt der Mensch debilis, gelähmt. Cultura autem animi philosophia est: Philosophie ist Beackerung seiner selbst.62 Auch Cicero wirkt energisch auf die innere Welt ein, um sie dem Ideal anzugleichen.

Plotin (205–270 n. Chr.) wendet Platon ins Selbstverhältnis. Er hat Erwachsene im Blick, nicht Jugendliche. Wie Cicero verinnerlicht er die Aufgabe des Formens. «Wie du der herrlichen Schönheit ansichtig werden magst, welche eine gute Seele auszeichnet? Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an, und wenn du siehst, dass du noch nicht schön bist, so tu wie der Bildhauer, der von einer Büste, welche schön werden soll, hier etwas fortmeisselt, hier etwas ebnet, dies glättet, das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat: so meissle auch du fort was unnütz und richte was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell, und lass nicht ab, an dem Bild zu handwerken, bis dir hervorstrahlt der göttliche Glanz der Tugend, bis du die Disziplin erblickst, auf ihrem heiligreinen Sockel.»63 Der Mensch ist sich selbst, ähnlich wie bei Bieri, eine ästhetische Aufgabe, die er tätig und asketisch anpacken soll. Das Gestalten bleibt so aktiv wie bei Platon; doch statt des Erziehers nimmt das Ich sein Werden selbst an die Hand, mit dem Ziel voller Selbstkontrolle.

Die Antike sieht das Werden als Aufgabe, das Ich zu formen. Es empfängt seine Gestalt von aussen. Individuelle Eigendynamik, Empathie mit sich selbst taucht nur am Rand auf. Wohl möchte die platonische Linie zu innerem Wahrnehmen und Erkennen führen; dessen Inhalt aber, für alle gleich, ist bereits bekannt. Zu ihm führen Erziehung und Selbstdisziplin, menschliche Aktivität (efficere). Die Selbstwahrnehmung ist noch keine eigenständige Erkenntnisquelle; die Selbstannahme, das Zulassen von Ichfremden noch kein Thema.

2.2Sich entbilden, sich einbilden, überbildet werden: Meister Eckhart

Bilden ist ein deutsches Original. In keiner anderen Sprache findet das Wort eine Entsprechung, nicht einmal im Dänischen oder Schwedischen. Das Wort entwächst einem zunächst unscharfen Interesse der deutschen Sprache am Blick nach innen. Ein bedeutender Theologe und Seelsorger hat ihm Profil gegeben und das Deutsche auf Dauer geprägt. Eine Geschichte kam in Gang, verwinkelt und spannend.

Das althochdeutsche bilidôn hat zwei Bedeutungen: aktives, körperliches Gestalten – und passives Ähneln. Einerseits ist ein leimbilidari ein Töpfer. Das Werk des pildonten gotes zeigt aktives Erschaffen. Das Wort kann sich als pildunga des muotes auch auf Innerliches beziehen. Andererseits sagt thaz ir got bilidot, dass ihr Gott ähnlich seid. Imitantur, sie ahmen nach, kann mit pildint übersetzt werden. Bilidôn zeigt Tiefsinn, eine eigentümliche Schwere, einen Hang zur Introspektion. Vielleicht weil es in Germanien nicht so sonnig ist. Die Selbstreflexion wird wärmer, empathischer, psychologisch genauer: Im Gestalten nimmt das Wort zugleich ein Passives, Verfügtes, unwillkürlich Geschehendes wahr. – Mittelhochdeutsch ist bilden, bildunge, bildaere (Bilder) und bildnaere (Bildner) belegt; selten die Bedeutung des Ähnelns. In der höfischen Dichtung ist bild die schöne Erscheinung, oder bloss schöner Schein.64

Einen Fremden verstehen

Eckhart (1260–1328), ein angesehener Professor, bekleidete hohe Ämter im Dominikanerorden. Er macht bilden zu einem Grundwort der spirituellen Erfahrung. Bilden, nicht Bildung: eine lebendige Erfahrung, ein Prozess. Eckhart versucht auszudrücken, wie er sich vor Gott erlebt. Und zwar, als einer der ersten, in der Volkssprache. Die Elite spricht ja die Juristen- und Ingenieurssprache Latein, die an der Ordnung der äusseren Welt interessiert ist! Eckhart muss also Worte erst formen und erfinden, um Selbstwahrnehmungen zu beschreiben: Begreifen und einsehen; Eindruck und Einfluss; gründlich; wahrnehmen; Innigkeit, Ursprünglichkeit, Geistigkeit, Dankbarkeit, Grundlosigkeit und Unbegreiflichkeit.

Religion gilt heute als Privatsache. Das öffentliche, politische Gespräch lässt spirituelle Argumente nicht gelten. Das zeugt von der mühsamen Befreiung von der Macht der Kirche. Wie aber können dann Eckharts Texte sagen, was sie sagen wollen? Wie können sie einen Unterschied markieren zu heutigen Selbstverständlichkeiten? Eckharts Wirkung geht vom Prediger aus, nicht vom Professor. Das Wort bilden entwickeln nicht die lateinischen Vorlesungen, sondern die deutschen Predigten: Texte, die von spiritueller Erfahrung sprechen, nicht von Fakten. Innensicht und Selbstreflexion eines Dominikaners, der täglich betet und meditiert.

 

Der geneigten Leserin sei darum vorgeschlagen, sich für einige Seiten auf die Sprache Eckharts einzulassen. Probeweise und in selbstkritischer Absicht. Jedes Bewusstsein weist blinde Flecken auf, vermutlich auch das spätliberale. Nicht auszuschliessen, dass die blinde Identifikation mit dem Funktionieren ein Problem der innersten Haltung – die man Spiritualität nennen kann – darstellen könnte. Es könnte sein, dass ein Mensch sich in der kalten Aussenperspektive wahrnehmen will, weil er es in seiner Geschichte, seinen Zuständen und Verwundungen nicht aushält. Es könnte sein, dass sich jemand durch Herstellen und Kontrollieren Sinn erschaffen möchte, dessen Spur er sonst nicht mehr findet. – Sollten die beiden folgenden Abschnitte der Leserin zu religiös sein, blättere sie weiter zum Ertrag. Es kommt auf den Blick in den Spiegel an, auf Selbstreflexion, nicht auf Vollständigkeit.

Spiritualität von Frauen für Frauen

Zwischen 1313 und 1324 ist Eckhart Vikar des Generals für besondere Aufgaben. Wahrscheinlich soll er den Orden durch den heissen Konflikt um die Beginen steuern. Wer sind diese Beginen? In den aufstrebenden Städten des 13. Jahrhunderts entstehen neue Lebensformen. Auf einmal ist nichts mehr, wie es immer gewesen war: Auf dem Land bestimmte die Geburt, wer einer war, was er wurde und wem er zu gehorchen hatte. In der Stadt aber organisieren sich Freie. Handwerker schliessen sich zu Zünften zusammen und wählen ihren Zunftmeister, der Einsitz im Rat hat, nur auf Zeit. Es entstehen Universitäten, an denen die Philosophie der Theologie eigenständig gegenübertritt: Das Wissen löst sich aus der Macht der Kirche. Neue spirituelle Formen begeistern und entfalten ungeheure Anziehung. Nicht mehr in Abteien auf dem Land, sondern in der Stadt! Franziskaner und Dominikaner, beide anfangs des 13. Jahrhunderts entstanden, sind nicht nur als Einzelne arm in reichen Abteien, sondern betteln für ihren Lebensunterhalt. Die Oberen werden, nach dem Vorbild der Zünfte, auf Zeit gewählt und treten dann wieder zurück ins Glied.

In diesem spriessenden Raum finden Frauen zusammen, arm und reich, adlig oder nicht, oft gebildet, um in kleinen Gemeinschaften ein spirituelles Leben zu führen. Sie zählen zu Hunderttausenden; in Strassburg und Köln sind sie je etwa zu Tausend.65 Das ist auch in Köln, mit über 30 000 Einwohnern eine der grössten Städte, eine bedeutende Gruppe. Hier entsteht eine eigenwillige, weibliche Spiritualität: bildlich, achtsam für innere Zustände, mehr an innerer Verwandlung als an abstrakter Wahrheit interessiert.

Beginen leben ehelos und einfach, meist von Handarbeiten und Krankenpflege. Und selbstbestimmt! Sie gehören keinem Orden an. Ohne Gelübde, sie können auch für begrenzte Zeit Begine sein. Sie wählen ihre Meisterin selbst, auf Zeit. Darüber keine Hierarchie, auch keine päpstliche Anerkennung, wie Franziskaner und Dominikaner sie haben. Sie unterstehen niemand. Sie lesen die Bibel, eigenständig, in der Volkssprache.

Den Pfarrern und Bischöfen gefällt diese Autonomie gar nicht. Und auch nicht ihre Spiritualität, die auf unheimliche Weise anders ist, die man gar nicht recht versteht und die so viele anzieht! Synoden in Trier und Mainz, die erste schon 1227, beschuldigen die Beginen des Irrglaubens. Seit 1307 verfolgt die Inquisition sie, etliche werden als Ketzerinnen verbrannt, 1310 auch Marguerite von Porete, eine führende Schriftstellerin. 1312 verurteilt das Konzil von Vienne auf Betreiben der deutschen Bischöfe die Beginen als Sekte. Die Schlinge zieht sich zu.

Aber wohin mit diesen Hunderttausenden von Frauen? 1319 öffnet Papst Johannes XXII. eine Tür: Wenn Beginen in die dritten Orden der Franziskaner oder Dominikaner eintreten, also eine nichtklösterliche Form der Zugehörigkeit wählen, sollen sie Gnade finden. Dem folgen viele.

Man stelle sich die Spannungen vor! Unter den Beginen, in den Orden, mit den Bischöfen. Fragen der Macht. Fragen nach der Art, von Gott zu reden. Die Freiheit, die Bibel zu lesen … Auf den Dominikanern lastet eine schwere Aufgabe; Clemens IV. hat sie 1267 genötigt, alle süddeutschen Frauenklöster zu überwachen. Eine grosse seelsorgliche Verantwortung; zugleich müssen sie streng vermeiden, mit unter den Verdacht der Irrlehre zu geraten. Missgunst gibt es genug.

Um das Gespräch mit diesen gebildeten, an inneren Zuständen interessierten Frauen zu führen, ist Eckharts Sprache sehr geeignet. Sie entsteht nicht erst jetzt; ihre wichtigsten Züge zeigt sie bereits um 1295 in der rede der unterscheidunge. Eckharts Predigten zeugen von intensiver Auseinandersetzung mit den Beginen, auch mit Marguerite.66 Beide finden Gott in der Innerlichkeit; beiden geht dem Einswerden mit Gott eine Vernichtung voraus. Der Mensch findet Boden in einer inneren Kraft, in einem Jetzt, so dass er kein worthaftes Wozu mehr braucht. Auffällig auch die vielen erotischen Worte in Eckharts Predigten: nackt und bloss; ein Kuss von Mund zu Mund; minnen, entblössen und gebären. «Alle Lust des Vaters und sein Kosen und sein Anlachen gilt allein dem Sohn. Er hat so grosse Lust im Sohne, dass er sonst nichts bedarf, als seinen Sohn zu gebären.» Seine Vorstellung vom Menschen erklärt Eckhart fast nur an Frauen, am Verhältnis von Jungfrau und Weib, an Maria, an Maria und Martha, an Elisabeth von Thüringen.67 Es gibt auch Unterschiede. Eckhart stellt die tätige Liebe über die kontemplative; er liest Tradition und Wissenschaft viel breiter.

Eckhart begegnet eine eigenständige Spiritualität, eine lebendige Frage, an der er als Seelsorger und Theologe nicht vorbeigehen kann. Erfahrungen von Liebe und Einheit, die weit über das hinausgehen, was aus Alltag und klösterlicher Tradition bekannt ist. Starke erotische Zustände. Wie ist das zu verstehen? Übersteigerte Sehnsucht? Verlust des Masses? Weibliche Unvernunft? Also Deckel drauf, nicht darüber reden, in Alltagsarbeit ersticken? Das genügt Eckhart nicht. Er hört den Frauen zu, sucht sie ernst zu nehmen. Und er hat seine eigene Erfahrung. Aber er darf den Stimmungen auch nicht unkritisch folgen. Er steht vor der Aufgabe, die Geister zu scheiden: alles prüfen, das Gute behalten (1 Thess 5,21).

Nach got gebildet

Schon der Anschein einer Irrlehre war gefährlich; eine Verurteilung wegen Ketzerei zog schwerste Folgen nach sich. Aber Eckhart findet in diesen Erfahrungen ein tiefes, echtes Empfinden der Gegenwart Gottes. Er versucht also, sie aus der Bibel zu begründen, aus Gen 1,26 f.: got hat uns gemacht ein bilde sîn selbes.68 Das ist unstrittig. Nach got gebildet heisst, im ersten althochdeutschen Sinn, dass der Mensch von Gott geschaffen ist, wie aus Ton (Gen 2,7), als Ergebnis gezielten Herstellens.

Viel wichtiger ist Eckhart der zweite Sinn: Da gibt es lebendige Ähnlichkeit! Im Ich spiegelt sich das Geheimnis, aus dem es stammt: wo das eine, da auch das andere. Ein beständiger Prozess, dynamisch, wirkend. Eine Gegenwart, in der das Ich stehen kann. Nach got gebildet bedeutet eine verwandelnde Beziehung, nicht nur eine objektive Wahrheit. «Das Fünklein der Seele, das geschaffen ist von Gott und ein Licht ist von oben her eingedrückt, ist ein Bild der göttlichen Natur, das allwegs dem widerstreitet, das nicht göttlich ist.» Eckhart stützt sich auf Paulus (2Kor 3,18): «Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn.» Wo ein Mensch authentisch da ist, enthüllt, ist er wie ein Bildschirm, auf dem sich Gott abbildet. Von dieser innersten Selbstwahrnehmung soll das Ich sich durchdringen lassen. Eckhart übersetzt: «Wenn wir mit entblösstem Antlitz anschauen den Glanz und die Klarheit Gottes, so werden wir widergebildet und eingebildet in das Bild Gottes.» Oder freier: «Eine Kraft ist in der Seele, die hat nichts gemein mit irgendwelchen Dingen; denn nichts ist in dieser Kraft als Gott allein: der leuchtet unverdeckt in diese Kraft.»69

Diese lebendige Beziehung empfängt das Ich, passiv, vor allem Wollen und Denken. Es nimmt sie wahr, so es leise und achtsam ist. Und kann lernen, in ihr zu stehen. Für sie findet Eckhart Bilder und Begriffe: lieht (Licht), vünkelîn (Fünklein) und bürgelîn, verstendikeit und vernünfticheit. Hier liegt ein Missverständnis nahe. Vernünfticheit meint nicht, was Vernunft seit Descartes besagt, nämlich folgerndes Denken. Diese ratio hält Eckhart für zweitrangig. Vernünfticheit, intellectus, bezeichnet die achtsame Selbstwahrnehmung. Âne mittel, an der sinnlichen, greifbaren Erfahrung vorbei, im Unterschied zur Wahrnehmung der Aussenwelt. Vor den Worten auch, die immer schon einen Abstand voraussetzen und darum die ursprüngliche Erfahrung von Einsseins nicht fassen. «Wie ein Bild seinen Meister lobt, der ihm eingeprägt hat die ganze Kunst, die er in seinem Herzen birgt, und der das Bild sich ganz gleich gemacht hat. Diese Gleichheit des Bildes lobt seinen Meister wortlos. Was man mit Worten zu loben vermag, ist etwas Geringwertiges.»70

Nun mag einer sagen: So etwas erfahre ich nicht! Damit kann ich nichts anfangen. Dem antwortet Eckhart: «Der Mensch, von inwendigen Dingen nichts gewöhnt, weiss nicht, was Gott ist. Wie ein Mann, der Wein im Keller hat, aber nichts davon getrunken hätte, der weiss nicht, dass er gut ist.» Oder kurz: «Weshalb merkst du nichts? Weil Du nicht daheim bist!»71

Dies Bildsein schliesst die Selbstwahrnehmung als Ganze ein. Darum muss Eckhart nicht jeden Zustand, nicht jedes Gefühl prüfen, ob es rechtgläubig sei. Das Bildsein begründet ein umfassendes Ja zur beginischen Innerlichkeit. Zugleich mässigt er sie, indem er Leidenschaft und Sehnsucht (irascibilis, die Zürnerin) und das sinnliche Begehren (concupiscibilis) der vernünfticheit unterordnet, auch hier mit Paulus: Mit Gott eins wird das Ich nicht in Heftigkeit, Leidenschaft oder Verzückung. Sondern im Spiegel der Stille, wahrnehmend. Gibt sich das Ich dieser Gegenwart hin, «der einfaltigen Kraft, in der man Gott erkennt, dann heisst die Seele ein Licht. Und auch Gott ist ein Licht; und wenn das göttliche Licht sich in die Seele giesst, so wird die Seele mit Gott vereint wie ein Licht mit dem Lichte.» Von hier aus klärt und ordnet sich alles: «Wohin die Seele mit ihren Sinnen und Kräften nicht kommen kann, da trägt der Glaube sie hin.»72