Bildungsethik (E-Book)

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Bieri schlägt einen kämpferischen Ton an. Die «innere Lebensregie» müsse dem Leben abgerungen werden, sei «Kampf gegen die innere Monotonie, gegen Starrheit des Erlebens und Wollens. Die beste Chance, den Kampf zu gewinnen, liegt in der Selbsterkenntnis.» Trägt also die Selbsterkenntnis ihren Sinn nicht in sich selbst, ist nur Mittel zum Zweck, für die Selbstbehauptung des Ich? Bieris starkes Ich erhält sich selbst. Dass Beziehungen das Ich konstituieren, dass es nur so stark sein kann wie die Beziehungen, die es tragen, bleibt ausserhalb seines spätliberalen Horizonts. Auch in der inneren Erfahrung reflektiert Bieri das Verhältnis von Gestalten und Empfangen ungenau. «Sich selbst zu erkennen, ist auch eine Form, über sich selbst zu bestimmen.» Das stimmt, fordert aber das Geständnis, dass das starke Ich hier doch vor allem hört, passiv, empfangend, erst dann gestaltet. Bei Bieri kann es klingen, als sei die Freiheit Produkt menschlichen Herstellens. Eines seine Bücher heisst

Das Handwerk der Freiheit

.

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Das gilt auch für sein Bekenntnis zum eigenen Ton. «Ich würde gern in einer Kultur leben, in der Selbstbestimmung ernst genommen würde. Zwar gelten Handeln aus Gründen und Freiheit der Entscheidung als hohe Güter. Doch kritischer Abstand zu sich selbst; das Ausbilden differenzierter Selbstbilder und der schwierige, nie abgeschlossene Prozess ihrer Fortschreibung und Revision; wachsende Selbsterkenntnis; die Aneignung des eigenen Denkens, Fühlens und Erinnerns; das wache Durchschauen und Abwehren von Manipulation, wie unauffällig auch immer; die Suche nach der eigenen Stimme: All das ist nicht so gegenwärtig und selbstverständlich, wie es sein sollte. Zu laut ist die Rhetorik von Erfolg und Misserfolg, von Sieg und Niederlage, von Wettbewerb und Ranglisten. Die Kultur, wie ich sie mir wünschte, wäre eine leisere Kultur, eine Kultur der Stille, in der die Dinge so eingerichtet wären, dass jedem geholfen würde, zu seiner eigenen Stimme zu finden. Nichts würde mehr zählen als das; alles andere müsste warten.»

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«Manchmal wollen wir uns von einer Gegenwart einfach überwältigen lassen – ohne Kontrolle und ohne Worte. Doch als befreiend können wir das nur erleben, weil es im Hintergrund das erzählerische Netzwerk eines Selbstbilds gibt, das der Gegenwart Bedeutung und Gewicht gibt. Unverstandene Gegenwart wird als bedrohlich und entfremdend empfunden. Gegenwart, die etwas mit uns selbst zu tun hat, ist verstandene, artikulierbare Gegenwart.»

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 Also neben dem aktiven Hervorbringen wohl ein Hören, wenn auch etwas im Nebel. Aber sicher kein Loslassen, das die Selbstkontrolle gefährden würde. Das Gespräch mit Eckhart kommt darauf zurück.



Mathematische Halbbildung.

 Zahlreiche Mathematikdidaktiker kritisieren, PISA ziele nicht auf Kritikfähigkeit, sondern auf kritikloses Glauben:

alles

 sei mathematisch modellierbar; mathematische Techniken brächten

immer

 ein richtiges Resultat; Zahlen zeigten, wie die Welt

sei

.

Wolfram Meyerhöfer

 zeigt breit und im Detail, wie PISA-Aufgaben regelmässig statt Durchdenken des Problems forderten: «Finde heraus, was die Tester hören wollen. Orientiere dich am Mittelmaß», sonst koste es Zeit und Punkte. «Nur was testbar ist, tauschbar in Punkt(e), zählt». Mechanische Stoffaneignung ohne authentische Auseinandersetzung: Adornos

Halbbildung.

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Diese Aufgaben sollten Lehrerin und Schüler «klar machen, dass Bildungsstandards keinen Widerspruch dulden.» Anders als Klassenarbeiten sind Tests in Aufbau und Bewertung von Schülerin und Lehrperson nicht kritisierbar: «Herrschaftsinstrument(e), und da das Testen das einzig Neue an den Bildungsstandards ist, sind (sie) offenbar aus Herrschaftsinteresse motiviert». Standardisierte Messkonstrukte löschten Individualität, Unabgeschlossenheit, Prozesshaftigkeit, Emotionalität, Autonomie und Authentizität aus dem Bildungsbegriff: eine «Unmündigkeitslogik». Untragbar, «strebte man Ich-Stärke und nicht Demut bei den Lernenden an».

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 Kritischer Nachvollzug von Daten sei unmöglich, weil die statistischen Methoden nicht im Detail veröffentlicht, sondern frech als

state of the art

 behauptet würden, um Kritik peinlich wirken zu lassen. Die empirische Bildungsforschung überzeuge nicht durch Erkenntnisse, sondern die Macht ihrer Auftraggeber, die «empirisch fundiertes Steuerungswissen» von ihr erwarteten –, als gäbe es isoliertes Steuerungswissen, ohne sich auf Verhältnisse einzulassen! PISA sei keine Wissenschaft, sondern eine Auftragsarbeit, um Macht auszuüben.

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Das Gegenteil mathematischer Bildung –, die Chancen und Grenzen des mathematischen Blicks im Verhältnis zu anderen Blickweisen zu bewerten wisse! Zahlen seien keine Argumente, sondern erst die Reflexion, die den Umgang mit ihnen als sinnvoll zeige. Standards erklärten «nur noch das Testbare zu Bildung, während mathematische Bildung heisst zu erkennen, dass nichts Testbares Bildung erfassen kann.» Mathematik lebe von der Faszination ihrer ganz eigenen Welt, nicht von ihrer Anwendung. Ohne Verstehen, so

Thomas Jahnke

, komme «auch empirische Forschung nicht aus, da Daten von sich aus nicht reden». Sonst ergebe sich nur Banales und Fragwürdiges. PISA, mathematisch voll «versteckter Ungereimtheiten, unsauberer Argumentationen, gewagter Interpretationen und offensichtlicher Missbräuche» verkörpere «dreisten Positivismus, der fröhlich seine Begriffe in die Welt setzt». Welche die Deutschen dann für wahr hielten.

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Gerade aus dem Fach, auf das es sich am stärksten zu stützen behauptet, erfährt PISA scharfe und schlüssige Kritik. Doch bewegt diese nichts. Das Konsortium nehme Kritik sofort persönlich, als kränkend und vernichtend, nicht als wissenschaftliche Solidarität. Wenn es überhaupt auf Kritik antworte, dann schroff zurückweisend, stets den Empirismus als unhinterfragbar voraussetzend. Es suche «nicht den Dialog; Kritik wird auch nach zehn Jahren weder aufgenommen noch zitiert im Gegensatz zur seriellen Zitation eigener Schriften. Hier wird ein Auftrag von ans Anonyme grenzenden Autorenkollektiven abgearbeitet.»

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Kritische Analyse und Recherche.

 Eine umfassende Kritik der Reformen vertritt

Jochen Krautz

, Kunstpädagoge und Latinist. Der Mensch komme unfertig zur Welt und sei auf sichere Beziehungen angewiesen. Nur in ihnen ereigne sich Bildung. Zentral sei dabei die Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit. Nur Menschen könnten die Aufmerksamkeit gemeinsam auf ein Drittes richten und sich dabei der Gegenseitigkeit bewusst sein. Dem trage das pädagogische Dreieck Rechnung: Schüler und Lehrerin blickten gemeinsam auf den Stoff; die Schüler nicht vereinzelt, sondern als Gruppe. Bildung gebe es nur als Selbstbildung. «Man kann nicht gebildet werden.» Die Lehrerin führe, indem sie Forderungen stelle und helfe, sie zu bewältigen. Drittens der Stoff, gegliedert in Schulfächer, die Weltzugänge repräsentierten. Die Orientierung an Kompetenzen zersetze dieses Dreieck: absichtlich, strategisch geplant. Der Stoff werde vom inneren Ziel des Lernens auf ein Mittel verkürzt, Kompetenzen zu entwickeln: Er werde gleichgültig. Die Neugier finde kein Gegenüber, so dass äusserlich motiviert werden müsse. Bei den Schülern könne «keine geordnete und geklärte Vorstellung von den Sachgebieten entstehen. Fachliches Wissen und Können wird verhindert.»

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 Das Lernen verliere innere Richtung und Zusammenhang. Es werde sinnlos. Es entstehe nicht jene zusammenhängende Welt, derer die Entwicklung zur eigenständigen Person zwingend bedürfe. So entwurzle man Menschen.



Statt im Klassenverband zu lernen, arbeiteten die Schüler einzeln, am besten per Sichtschutz getrennt und am PC. Der Lehrer unterrichte nicht, sondern stelle Arbeitsblätter zur Verfügung, verteile ‹Lernjobs› und berate als ‹Coach›. Die Schüler trügen ihren Lernfortschritt in Kompetenzraster ein: das Modell des flexiblen Selbstunternehmers. Aber auch wenn die Schüler auswählen und Prioritäten setzen könnten: Die Aufträge erteile doch der Lehrer. Aus dem Dreieck werde, unter der Oberfläche der Scheinselbständigkeit, eine lineare Machtbeziehung, die zur Anpassung zwinge. Solche ‹Selbststeuerung› «ist nicht jene geistige Selbständigkeit, auf die Bildung zielt. Dazu bedürften die Schüler eines Lehrers und einer Klassengemeinschaft, mit denen sie gemeinsam denken und diskutieren lernen könnten. Ohne zwischenmenschliche Beziehung ist die Entwicklung von Vernunft und Moral nicht möglich. Kompetenzorientierung zielt nicht auf Selbständigkeit, sondern auf unhinterfragte Anpassung.»

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Die Reformen übertrügen die Sprache der Maschine und ihrer Steuerung auf das sich bildende Ich. Das unterlaufe dessen Freiheit und Würde. Was man Qualitätsmanagement nenne, basiere auf einem technischen Steuerungsmodell. Der Heizungstechniker stelle eine gewünschte Temperatur ein (Output-Standard), woraufhin der Kessel (der Unterricht) zu arbeiten beginne. Ein Messfühler (zentrale Prüfungen, PISA) messe die faktische Temperatur und melde das Ergebnis an die Steuerung (Zentralbehörde) zurück, die den Kessel nachsteuere. «Schule erscheint somit als Maschine, die programmiert und von aussen gesteuert werden könne. Lehrer sind in diesem System nur noch Techniker, die die Schüler nach Soll-Vorgaben steuern. Das widerspricht dem personalen Menschenbild des Grundgesetzes und unterläuft die Mündigkeit und Selbstverantwortung von Lehrern und Schülern.» Beide handelten nicht mehr selbstverantwortlich, sondern nur noch selbstgesteuert: «Sie richten ihr Handeln an den unhinterfragten Massgaben des Steuerungssystems aus.» Das Qualitätsmanagement wirke verdeckt, aber massiv normativ. Es unterdrücke die Individualität von Schüler wie Lehrperson. Aber: «Weil pädagogisches Handeln keine Technik, sondern eine menschliche Praxis ist, kann sie nicht aus Theorie eindeutig abgeleitet und nicht durch Techniken angeleitet werden.» Es sei nicht auf Selbststeuerung, sondern auf Gespräch und Beziehung zu setzen.

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Manche bildungsromantische Reformpädagogen sähen strukturiertes, lehrergeleitetes Lernen als Widerspruch zur freien Entwicklung des Kindes und wollten alle Ansprüche erleichtern. Sie hätten sich mit neoliberalen Kräften verbündet; der gemeinsame Nenner sei das «egoistische Selbst: einmal als ‹homo oeconomicus›, einmal als ‹natürliches Kind›. Beide vernachlässigen Bindung und Beziehung. Beide vereinzeln die Schüler und bringen sie in verschärfte Konkurrenz.» So dass «ausgerechnet rot-grüne Regierungen diese Modelle der Selbststeuerung mit aller Gewalt durchsetzen – mit Unterstützung der neoliberalen Akteure wie der Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise gibt es eine ideologische Konvergenz: das Interesse an Macht und Steuerung.» Das führt Krautz zu energischer politischer Analyse und Kritik. Sorgfältig und detailreich weist er nach, wie OECD, Bertelsmann & Co. mit Methoden der klassischen Propaganda die öffentliche Meinung steuern.

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 Und sie zu ruckartigen Grundsatzentscheidungen verleiten, an jeder parlamentarischen Willensbildung vorbei, durch Lobbying im Hinterzimmer.



Analyse und Kritik der Machtverhältnisse

. Die Globalisierung, so der Soziologe

Richard Münch,

 entwurzle die nationalen Bildungssysteme. Bis vor Kurzem hätten demokratische Zielsetzung, bürokratische Verwaltung und pädagogische Professionalität Schule und Universität arbeitsteilig gesteuert. Diese Steuerung durch Input werde von der Steuerung durch Output verdrängt. Nun müsse sich alles vor einem Managementwissen rechtfertigen, das globale Geltung beanspruche. Nun seien Kennziffern die Kontrollinstanz, der sich niemand entziehen könne. Die Akteure könnten nur noch über sie in Kontakt treten. Das verändere alle Beziehungen. Die Definition, Produktion und Interpretation von Kennziffern werde zum Hauptgeschäft, hinter dem Bildung verschwinde.

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Die Outputsteuerung werde von einem globalen Komplex inszeniert und beherrscht. «Die Bildung wird den nationalen Eliten (Lehrerverbänden, Politikern, Ministerialbeamten) von einer transnationalen Koalition von Forschern, Managern und Unternehmensberatern aus der Hand gerissen.» Ihnen müssten sich die lokalen Autoritäten unterwerfen, um als legitime, rational handelnde Akteure zu gelten. Die

OECD

 veranstalteten PISA, koordinierten und lobbyierten.

Konzerne

 wie Pearson gestalteten den PISA-Test und verkauften weltweit die Lehrmittel, die auf ihn vorbereiteten.

Bildungsökonomen

 wie Eric Hanushek formulierten die Ideologie: PISA-Erfolg garantiere Wirtschaftswachstum, individuelle Lehrerleistung den Schulerfolg. Kleine Klassen seien nutzlos, Schulen zu privatisieren.

McKinsey, BCG & Co

 legten Regierungen Ideologie und Lehrmittel nahe. Alle verdienten prächtig; McKinsey beziffere den globalen Bildungsmarkt auf acht Billionen. Der Komplex habe die Macht an sich gerissen, zu definieren, was vernünftig sei: eine Autorität, die niemand zur Rechenschaft ziehen könne.

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Statt auf seine gewachsenen Ziele müsse das Bildungswesen nun darauf vorbereiten, sich auf dem Markt zu behaupten, im Dienst «der Produktion von Humankapital, das Rendite erwirtschaften soll». Wissenschaft werde nicht um ihrer selbst willen betrieben, sondern als Ressource, «monetäres und symbolisches Kapital zu akkumulieren». Misstrauen sei das Steuerungsprinzip, durch umfassende Rechenschaftspflicht, zu erfüllende Zahlen und stete externe Kontrolle. «Die Litanei von ‹Wettbewerb›, ‹Transparenz› und ‹Qualitätsmanagement› wird vom Sparkassendirektor bis zum Schulrektor und Universitätspräsidenten mit einer Selbstverständlichkeit heruntergebetet, dass sich niemand mehr eine andere Welt vorstellen kann.»

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Der Pionierfall USA zeige einen vernichtenden Leistungsausweis. Laut einem Bericht der

American Evaluation Association

 2006 hätten sich 20 Jahre ausgiebiges Testen von Schulergebnissen gar nicht bewährt. Es fördere

Teaching to the test

, ohne Lehren und Lernen zu verbessern. Es habe weder die Qualität der Schulen, noch die Gerechtigkeit zwischen Rassen und Klassen verbessert, noch moralische, soziale oder ökonomische Vorteile hervorgebracht. Zum gleichen Urteil komme eine nationale Kommission, die diese Steuerung 2002–2011 zu bewerten hatte. Der Wettbewerb um Testwerte, so Münch, steigere weder die Leistung, noch reduziere er die Kluft zwischen arm und reich. Er belohne subalterne Konformität und ersticke Pädagogik, eigenständiges Denken, Kreativität und Innovation. Vergleichsstudien über Fehlleistungen von Schulen, für die sie gar nicht verantwortlich gemacht werden könnten, erzeugten Misstrauen, wo es auf Vertrauen ankomme. Das ruiniere die amerikanische Pädagogik: Das zentralisierte

Teaching to the test

 habe mit dem explorativen und experimentellen Lernen Deweys nichts mehr gemein.

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Management der Universität statt Selbstverwaltung bringe zwar mehr Flexibilität. Doch «wird die flächendeckende Kontrolle der Professoren durch Zielvereinbarungen und Kennziffern stupide Punktejäger an die Stelle kreativer, innerer Berufung und Begeisterung folgenden Forscher und Lehrer setzen und den Erkenntnisfortschritt erheblich bremsen». Die globale Durchsetzung des Marktparadigmas, nicht Leistungssteigerungen erklärten diesen akademischen Kapitalismus. Normativer Druck einer demokratisch nicht legitimierten Macht, nicht sachliche Überlegenheit.

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Die Legitimität des Vorgehens, die schweren methodischen Probleme von PISA und Bologna würden gar nicht diskutiert. PISA messe nicht Leistungsunterschiede zwischen Ländern, sondern konstruiere sie, indem der legitime Pluralismus der Bildungssysteme und -ziele einheitlichen, ökonomischen Massstäben unterworfen werde! Das Shanghai-Ranking der 500 «besten» Universitäten messe Sichtbarkeit, nicht Qualität. Blosser Umtrieb steigere erstere, letztere nicht. Und die Vielfalt der sozialen Formen, schon die Dynamik einer Schüler-Lehrer-Beziehung, könnten Zahlen nicht darstellen. Münch schlägt den Glauben an Ziffern mit seinen eigenen Waffen. Nicht einmal unter dem Aspekt der Nützlichkeit bewährt sich die Reduktion des werdenden Ich auf Ziffern. Die Outputsteuerung und der von ihr bewirkte massive Vertrauensschaden sind durch nichts zu rechtfertigen. Ob Münchs «Kritische Theorie mit den Mitteln empirisch-analytischer Soziologie»

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 die Bildungspolitik aufweckt?



Eigenstand wächst an Auseinandersetzung

. Dass Schüler

denken

 lernen, ist für

Jürgen Kaube

, Herausgeber der FAZ, Sinn der Schule: einen Schritt zurücktreten, nicht mitmachen, Selbständigkeit. Denken setze «Umstände, auf die man sich verlassen kann», voraus:

Wissen

 über die Welt. Angeeignetes, nicht ergoogeltes! Probleme lösen könne, wer viele ähnliche gesehen, also Sinn für wesentliche Faktoren und Irrwege habe. Denken verdanke sich «der Überwindung von Schwierigkeiten oder wenigstens den Kräften, die sich beim Versuch entwickeln, Schwierigkeiten zu überwinden». Es mache Bürger «wach, wahrnehmungsfähig, kenntnisreich».

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Zum Teil bedeute Denken Elementares zu beherrschen: Lesen, Schreiben, Mathematik und Sprachen forderten Arbeit, Ausdauer und Übung. Zum Teil – Naturwissenschaft, Religion, Geschichte – bedeute es, «bei den Sachen (zu) verweilen, damit sie etwas sagen». Der Lehrer solle «Schwierigkeiten interessant machen», wozu er in der Themenwahl frei sein müsse. Seine Autorität, zentraler Faktor des Lernens, beruhe darauf, den Sinn des Lernens zu verkörpern.

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Lernen

 setze klare

Fragen

 voraus; dann sei es «kognitiv ergiebige Freude und ein Feld voller Entdeckungen». Widersprüchliche Ziele (gleiche Chancen für alle, zugleich jedem einzelnen gerecht werden); Ökonomisierung und Digitalisierung; reformpädagogisches Denken nur vom Schüler, nicht auch von Fragen und vom Lehrer her; nivellierender Zentralismus; überfüllte Lehrpläne und Gleichgültigkeit gegenüber Autorität beschädigten das Lernen. Als wäre Multitasking das Lernziel, unterbrächen ständig fremde, offenbar wichtigere Ansprüche das Denken! So wirke die Schule nur «als Vorstufe zum Eigentlichen». Ähnlich verdecke in der Hochschulpolitik die Exzellenzinitiative widersprüchliche Ziele durch «Tabellenbewusstsein», blindes Vertrauen in Ziffern und Pläne. Alles zugleich wolle sie verwirklichen: «Schulen für die Hälfte eines Jahrgangs und Exzellenz, Massenaufstieg und Leistungsorientierung, Berufsbildung und Wissenschaft»: eine «Lebenslüge».

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Die Schule könne weder die bessere Gesellschaft noch die «Abschaffung der Unterschicht» leisten. Sinn habe die Schule nur eigenständig, als Gegenüber, nicht als Mittel der Gesellschaft. Schüler seien vor der Gegenwart zu schützen, weil sie es als Neue, Unwissende noch nicht mit ihr aufnehmen könnten. Humanistisch, mit Hegel und Arendt: Leichter als lebensweltliche ermöglichten fremde Themen unbefangene Auseinandersetzung. Mehr als Weltbezug wecke der Eindruck, eine Aufgabe sei lösbar, die Neugier. Mehr als von Ressourcen wie Geld, Zeit und Kraft, sogar als vom Unterricht hänge Lernen von der Einstellung zur Schule ab, von Kommunikationsstil und Risikowahrnehmung, bei Schülern und Eltern. Nötig sei also Erziehung von Menschen, nicht Durchschnitten; Dezentralisierung; L