Im Schatten der Hundstage

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... DENN ICH WACHE ÜBER EUCH

Grün, orange, gelb, blau, braun, blau, braun, rosa, blau, rot, gelb … Becher … schief … Becher, becherschief, orange, grün, orange, gelb, weiß, rosa, blau, gelb, gelb, orange … Becher … Scheiße, Schokolade, Meer, Blut, Käse … Becher … Näher, näher, noch näher, langsam, ganz langsam, noch langsamer, sonst sehen sie es, Miller, rot, Edwards, gelb, Watson, rosa, das passt, das passt, das passt, das passt, Watson, das passt, das passt, scheiße, das passt, Gibbons, gelb, McCarthy, weiß, jetzt gleich, noch näher, Kirkpatrick, rot, rotrotrotrotrot …

Seine rechte Hand schnellte hervor wie der Kopf einer zubeißenden Viper und riss die verschimmelte, braunfleckige Zahnbürste aus der Halterung. Meine, meine … meine-meine-meine. Der herausbrechende Haken hinterließ ein zersplittertes Loch im Holz des Regalbretts, und der sporfleckige Turm aus ineinandergesteckten Kunststoffbechern polterte zu Boden. Spielzeug, Spielzeug, Apfelsine, Wiese, Käse, Schnee. Langsam verebbte das Plastikgeklingel der uralten Zahnbürsten. Der Lärm versiegte. Sie hingen wieder gerade. Alles begrabende Stille. Nichts, absolut nichts, kein Ton, kein Luftzug war zu hören.

Gerade, gelb, gerade, Johnson, gerade, dachte er, und dann starrte er minutenlang die rote Bürste in seiner Faust an. Er tippte mit dem Fuß an die auf dem Boden liegenden Becher. Sie rollten langsam in einem Halbkreis davon. Das leise, hohle Geräusch glich einem nicht enden wollenden Donner. Er sah einen Moment von der Zahnbürste auf und folgte den Plastikbechern mit den Augen. Dann bückte er sich, nahm den verdreckten kleinen Turm hoch, pulte sich den obersten Becher mit den Fingernägeln heraus und steckte ihn in die Tasche seines Kittels. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, wippte bei jedem Schritt leicht mit dem Oberkörper nach vorn und zurück und verließ den Raum. Er schaute nach links und rechts den Gang hinunter und entschied sich für die rechte Seite.

„Gute Nacht!“, deklamierte er laut, nahm einen kurzen Anlauf und sprang über die beiden verschlissenen Matratzen, die vor ihm auf dem Boden lagen. Grünes Licht floss aus der nächsten Türe und ergoss sich auf den schartigen Holzfußboden des Flurs. Er blieb stehen und schloss die Augen. Das Bein gehoben! Hand an die Hosennaht! Reeechts um! Mit militärischer Steifheit machte sein Körper eine hölzerne Drehung, und dann betrat er den Waschraum.

Zerrissene Dachpappe, Holzbretter, verbogene Rohrstücke und zerbröselter Schutt bedeckten den Boden. Hinter den beiden Fenstern an der Stirnseite des Zimmers standen alte Buchen und hatten ihre Zweige von außen an die Rahmen gelegt, als wollten sie anklopfen. Jeweils fünfzig gleich große Holzquadrate ohne den kleinsten Rest von sie ausfüllendem Glas siebten das hereinfallende Sonnenlicht. Er machte eine zweite Drehung und stieg wie ein aufgezogener Spielzeugsoldat über einen morschen Holzbalken. Durch die Löcher in der Decke fielen Efeuranken, krallten sich an die dort oben an der Wand verlaufenden Rohrleitungen und wuchsen die zerplatzten Fliesen herunter. Er öffnete umständlich seine Hose und pinkelte in das an der Wand hängende Pissoir. Leise prasselte der Urin auf die braun verwelkten Blätter. Edward, gelb, Gibbons, gelb, sagte er leise vor sich hin. Scheiße, braun. Er kicherte. Scheiße, braun. Er zog den Reißverschluss hoch und dreht sich um. Unter seinen Füßen knirschten Sand und zerkrümeltes Laub. Er studierte die vier gleich großen, schmalen Türen an der Gegenseite. Alle standen offen. Hinter dreien verlief ein schmaler Gang. Schwarzer, modernder Stauraum. Hinter der vierten Tür hingen zwei Regalbretter auf denen, ineinander verkeilt, verrostete Bettfedern lagen. Er fingerte eine der größeren Federn frei, drehte sie langsam hin und her und schob dann vorsichtig seinen linken Arm hindurch.

Gladiator Kirkpatrick! Bereit in den Kampf zu ziehen, schworen seine Gedanken, und er umfasste die Feder und drehte sie sich über den Ärmel des Kittels.

Er ging den Flur entlang, vorbei an den endlosen beiden Reihen von Türen und leeren Zimmern und zeigte jedes Mal mit einem seiner Zeigefinger nach links oder rechts.

„Smith, du alter Stecher. Alles klar?“ Links. „Robinson, trink endlich deine Milch. Miller, hör auf zu wichsen, deine Birne ist schon ganz rot.“ Rechts.

Wieder musste er kichern. Rot wie deine Zahnbürste, dachte er. Wieder rechts. „Donovan, schmink dir das lächerliche Grinsen vom Gesicht. Zu dir komme ich gleich noch. Keine Chance zu fliehen.“ Das Echo seiner Stimme wehte wie Nebel hinter ihm her und kroch in den Muff der toten Zimmer.

Abrupt blieb er stehen, um dann langsam ein paar Schritte rückwärts zu machen. Die Farbe klebte in winzigen bunten Fetzen an der Wand. Das dorthin gemalte Bild war kaum noch zu erkennen. Wie aufgeplatzte und verkrustete Blattern klammerte sich der eingefärbte Putz an die Steine. Der Heiligenschein war nahezu völlig verblasst. Von dem Lamm am unteren Rand war nur noch der Kopf zu sehen, und die beiden kleinen Jungen, die dort auf einer angedeuteten Wiese knieten und diesen übergroßen Heiland anstarrten waren von Rissen und Löchern überzogen. In ein rosa wallendes Gewand gehüllt und die Arme zur Seite gestreckt stierte dieser Jesus in den Flur und grinste ein weibisches Lächeln.

„Watson“, brüllte er, „Watson, du schwule Sau! Für eine Schwuchtel wie dich gibt es gleich wieder die kalte Dusche …“

Er schrie die Sätze einfach vor sich in den Gang und marschierte weiter.

„Dieses warme Geschmiere ist abartig, hörst du! Widerlich! Warum schneidest du ihn dir nicht einfach ab? Oder soll das jemand anderes für dich machen?! Scheiße, vergiss es. Den Spaß gönn ich dir nicht! Vergiss es einfach!“

Am Ende des Flures ließ er sich auf einen grün bezogenen Bürostuhl fallen, rollte ein paar Meter über zerbrochene Glassplitter den Gang entlang und begann dann die leeren Lichthalterungen an der Decke zu studieren. Ganz schön hell, die Neonröhrchen, dachte er, schnitt eine Grimasse und ließ seine Augen über die Stromkabel fließen, bis er den Kopf tief in den Nacken legen musste. Langsam drückten seine Füße den Bürostuhl in die Mitte des Ganges. Die Halterung genau über seinem Kopf war an einer Seite aus der Decke gebrochen und zeigte wie ein entbeinter Blechfinger auf seine Brust, als wolle sie im nächsten Moment herabstürzen und ihn aufspießen.

Er hob den Zeigefinger und tippte sich mindestens zwanzig Mal auf sein Brustbein.

„Ich – ich – ich, ihr dümmlichen Weißkittel, ich bin hier der Chef“, flüsterte er. „Ihr seid bloß so porentief verblödet, dass ihr es noch nicht gemerkt habt.“

Er grinste die verrostete Halterung an.

„Euch Dampfquasslern wird schon noch der Kronleuchter aufgehen. Denn ich“, und er machte genüsslich eine Pause, „ich, Thomas Randolf Kirkpatrick habe – die – Schlüssel!“

Er stemmte sich aus dem Stuhl, trat ihn wütend zur Seite, wo er zwei Sekunden später krachend und scheppernd an der Wand entlang kratzte, drehte sich um und öffnete dann mit geschlossenen Augen die hinter ihm liegende Gittertüre.

Links herum und dann rechts durch die nächste vergitterte Tür. Station 5. Heruntergefallene Deckenplatten, wieder nur offene Türen und in regelmäßigen Abständen von Wand zu Wand laufende, dunkle Schlagschatten. Zebrastreifen, fuhr es ihm in den Kopf. Vorfahrt für Direktor Kirkpatrick, und zwei-, oder dreimal versuchte er nur auf die dunklen Schatten zu treten. Am Ende, vor dem letzten Türenpaar, hing ein verbogener Ventilator an der Wand. Er blieb kurz stehen, starrte die krummen Rotorblätter an und blies einen Lufthauch in die Richtung, als wolle er eine Kerze ausblasen. Dann hob er einen Zeigefinger, als schien er sich selber ermahnen zu wollen und verließ auch diesen Gang.

Er durchquerte die angrenzende Halle ohne nach links und rechts zu schauen. In der Mitte stand ein großer, verrotteter, halbrunder Holztresen. Im Vorbeigehen schlug er mit einer Hand auf die Ablage. Eine Staubwolke stieg in die faden Lichtkegel des durch die vernagelten Fenster scheinenden Lichts, und ein Teil des Tresens sackte zerbrechend nach unten. Er hielt kurz inne.

„Sie müssen Mason sein. Schwester Mason! Wir kennen uns noch nicht. Nein, ihr Gesicht ist mir fremd. Aber das wird sich ändern, da bin ich mir ganz sicher. Glauben Sie mir! Ich kenne hier jeden.“

Er schaute einen Augenblick ins Leere und spürte, dass er etwas Falsches, Unsinniges, Unlogisches gesagt hatte. Wütend schlug er ein zweites Mal auf das Holz, und wieder begann dicker Staub in das Zimmer aufzusteigen.

„Ein Saustall ist das hier!“, brüllte er. „Ein Drecksloch! Haben Sie keine Augen im Kopf? Es kümmert mich einen Scheißdreck, ob das bei Ihnen zuhause genauso aussieht. Hier wird Ordnung einkehren, verstehen Sie? Sorgen Sie dafür, dass das Chaos verschwindet, oder …“ Aber dann verstummte sein Geschrei abrupt und er schien vergessen zu haben, wie er den Satz zu Ende bringen wollte.

Station 4. Türen, abbröckelnde Farbe, alte Stühle, Dreck. Station 3. Türen, abbröckelnde Farbe, noch mehr Schmutz und in einer Ecke aufgetürmte alte Sitzkissen. Die Schatten waren dunkler geworden. Die Konturen begannen zu verblassen. Er musste sich beeilen.

Die Türe war aus Stahl und trug einen großen Spion in der Mitte. Station 1+2 stand auf dem aufgeschraubten Metallschild. Er öffnete sie vorsichtig und betrat den nächsten Gang. Wenige Schritte entfernt bildeten zwei aufeinander folgende Gittertüren eine Art Schleuse. Er blieb stehen. Keine Türen! Nur Rollgitter! Ja, ja, hauchte er leise. Mit dicken, schweren Eisenstangen! Und kleinen Öffnungen für den Fraß, der euch zusteht! Langsam machte er einen Schritt nach vorne, vorbei an dem Metallpaneel mit den beschrifteten Hebeln.

 

So, und jetzt passt gut auf, ihr Hurensöhne. Ihr werdet schön in Euren Käfigen bleiben. Ihr werdet euch nicht bewegen, nicht atmen und das Maul halten. Und wenn auch nur einer einen Schritt zu viel macht, dann passiert genau das, wovor ihr jetzt schon die Hosen voll habt. Habt ihr das verstanden, ihr Scheißkerle? Habt ihr das verstanden? Und dann begann er zu laufen, schneller und immer schneller, den Gang entlang, über zwei verbeulte Putzeimer springend, dem dämmerlichtdurchfluteten Fenster am anderen Ende entgegen. Als er dort ankam stützte er sich einen Moment keuchend auf seine Knie und lauschte seinem rasselnden Atem. Er drehte sich um, grinste breit und hielt den ausgestreckten Mittelfinger seiner linken Hand in Richtung Gang.

Die beiden Treppen, die nach unten führten nahm er, indem er sich auf den Handlauf setzte und sich auf den geraden Strecken hinabrutschen ließ.

Die Tunnel waren nahezu stockdunkel. Eine Hand voll mit grünem Schimmel überzogene Oberlichter spendeten gerade so viel Licht, dass er sich entlang der an der Decke verlaufenden dicken Rohre und Versorgungsleitungen orientieren konnte. Schaltkästen, Schilder, Pfeile an den Wänden und tote Lampen. Ganze Areale mit Zaunwänden eingefasst. Auf die Wände gemalte, weiß grundierte Hinweise. Bethlehemhalle. Laboratorium A, Verwaltung 3b, Station 5+10, Westgarten, Hauptküche. Er nahm die erste Tür auf der rechten Seite und kramte im Halbdunkel durch einen der bis unter die Decke gestapelten Kartons. Kabelreste, Steckdosen, Drahtrollen. Aber er wusste, dass er das, was er suchte finden würde. Er hatte sie vor langer Zeit entdeckt, und sie waren noch da. Blind durchwühlte er den klammen Karton, und dann zog er zufrieden zwei alte Batterien hervor. Er griff in die Tasche seines Kittels und legte die beiden Batterien in die Taschenlampe. Der Lichtkegel war blassgelb und schwach.

Er musste sich beeilen.

Er durchquerte zwei Lagerräume, von denen er wusste, dass dort alte Reifen und Maschinenteile im Dunkeln lagen. Als er vor der Stahltür stand begann er zu lächeln, holte tief Luft und legte eine Handfläche auf das kalte Metall. Dann streifte er sich das Band mit dem Schlüsselbund über den Kopf und suchte ein paar Sekunden lang durch die mit Schildchen gekennzeichneten Schlüssel, bis er den richtigen gefunden hatte.

T.-R. Kirkpatrick. Sie sind der einzige intelligente, fürsorgende und verantwortungsbewusste Mensch in dieser beschissenen Stadt, dachte er. Quietschend öffnete sich die Stahltür und der Geruch von Plastik, Holz und Kartonagen schlug ihm entgegen. Er trat leise hinter das unmittelbar vor der Türe stehende Regal in die Halle und duckte sich hinter die nächste mannshohe Holzkiste.

Vorsichtig, immer ganz vorsichtig. Herr Kirkpatrick ist schlau. Schlauer als alle anderen. So ist es gewesen, und so wird es bleiben. Und komm ja nicht auf den Gedanken, jetzt hier hereinzuschneien. Sonst müsste ich dir wehtun. Schrecklich wehtun, alter Mann! Oh, ja! Ich weiß, dass du manchmal hier herein kommst. Immerhin musst du ja all die schönen Sachen hier für mich verstauen. Du bist ein guter Mann. Dort draußen. Dort draußen bist du ein guter Mann.

Er schlich sich zwischen Wand und gestapelten Kisten entlang und kroch zu einem am Rand stehenden mannshohen Palettenstapel.

Ich habe dich gesehen. Ja, ich kenne dich. Oben, vom Flurfenster aus sehe ich dir manchmal zu. Wenn du hinter dem Schornstein hervorkommst und deinen Anhänger oder dieses komische Gabeldingsbums in die Halle fährst. Wenn du all diese schönen Geschenke bringst. Nein, natürlich siehst du mich nicht. Du weißt das ja nicht. Kannst es nicht wissen. Denn ich bin scheißclever!

Er griff sich einen herumliegenden, leeren Karton und begann zielstrebig an der Folie der eingeschweißten Paletten herumzureißen.

Leckeres Wasser! Glitzernde Wasserflaschen! Dann drehte er sich um und huschte kriechend zu einer Reihe aufeinandergestellter Kartons. Er nestelte am Klebeband herum, riss es ab und öffnete die Kiste. Ihr idiotischen Kochlöffelhalter, seht ihr das? Seht ihr das! Der ausgefuchste Kirkpatrick ist gleich wieder bei euch in der Küche und präsentiert den Menüplan der kommenden Woche.

Er nahm die Dosen heraus und stapelte sie in den leeren Karton. Nudelsuppe mit Hühnerfleisch, Gulasch in Tomatensauce, Rinderbrühe mit Einlagen …

Wetzt die Löffel und räumt eure Drecksküche auf. Ich komme! Er setzte die Dosen auf die Wasserflaschen, hob einmal kurz den Karton an und prüfte, ob er auch nicht zu schwer würde. Dann schlug er die vier Deckel ineinander, wuchtete die Kiste auf seine Schulter und kroch zurück. Er schloss die Stahltür von innen ab und ruhte sich einen Moment auf dem Karton aus. Er zog die Taschenlampe aus dem Kittel und drückte auf den Knopf. Einen Augenblick lang strahlte das Birnchen in gelbem Licht, und dann erlosch es. Für den Weg zurück würde er sie kaum brauchen.

Das Fenster war ein grauer, durchbrochener und nachts kaum wahrnehmbarer Rahmen. Er lag auf der Matratze seines Metallbetts und stierte in die Dunkelheit, die Arme vor seiner Brust gekreuzt und dem leisen Prasseln des Regens lauschend. Wenn das Geräusch nachließ, für wenige Minuten einmal ganz aussetzte, hörte er die Tropfen irgendwo draußen, jenseits des Ganges in einem der Zimmer weiterfallen, auf ein Stück Blech oder in eine Pfütze tropfend. Er fror und begann unmerklich zu zittern. Er setzte sich auf und starrte den Karton an, der in der Zimmerecke auf dem Boden stand. Langsam verschwand das Zittern. Er verspürte keine Müdigkeit, und er verspürte keinen Hunger. Aber er musste für sie sorgen! Für alle! Für Edward, Gibbons, McCarthy und die anderen. Selbst Watson, das lauwarme Arschloch hatte Essen verdient. Sie waren nicht in der Küche gewesen. Hingen sicherlich wieder irgendwo herum und vernachlässigten ihren Dienst. Hatten die Küche wie einen Saustall hinterlassen und soffen sich jetzt in irgendeiner Ecke ihr letztes bisschen Verstand aus dem Schädel. Aber er würde nichts sagen. Er war ein gütiger Chef. Ein verständnisvoller Chef. Die Männer waren seine Freunde. Sie alle waren die Küchencrew. Die beste, die es auf diesem Scheißerdball gab. Er war für sie verantwortlich. Er, der unersetzbare Thomas Randolf Kirkpatrick. Chefkoch. Direktor. Schlüsselhalter. Und Freund. Ja – er würde schweigen. Und sie würden es ihm lohnen, ihm auf die Schulter klopfen und irgendwann mit ihm, eines fernen Tages, diese ganze verfluchte Stadt umkrempeln, säubern, auskehren und – heilen. Watson und seinesgleichen die Schwänze abschneiden. Die Teufel in ihren Käfigen verjagen und Schwester Mason lehren, auf ewige Sauberkeit zu achten.

Seine Augen weiteten sich und plötzlich begann er wieder am ganzen Körper zu zittern.

„Lissi?! Bist du es?! Lissi, du – du hier? Scheiße, großer, blinder Gott, wie bist du hier hereingekommen? Wie hast du es an Miller und den anderen vorbei geschafft? Du bist eine Frau? Eine Frau! Lissi, du bist – meine Frau! Meine liebe, gute, hübsche, zarte, schöne, schweigsame, wunderbare Lissi!“

Er beugte sich vorsichtig vor und durchbohrte die Dunkelheit mit einem ängstlich fragenden Blick.

„Du weinst? Du weinst, meine Liebe! Du darfst nicht weinen. Nein, ich erlaube nicht, dass du weinst! Warum weinst du denn …“, flüsterte er und drückte sich von der Matratze hoch. Und als die Antwort ausblieb, schrie er in das Zimmer: „Bei aller Dreifaltigkeitsscheiße, sag mir endlich, warum du weinst. Ich verbiete dir zu weinen …“

Dann kniete er sich vor den Karton und begann nervös an den Deckeln zu hantieren.

„Schau, schau hier, schau! Schau mal, ich habe etwas für dich. Schau doch!“ Er zerrte eine Dose hervor, riss hektisch am Ring des Deckels und schnitt sich am aufspringenden Metallrund in den Finger.

„Hier, nimm! Iss. Iss. Nur für dich, meine unvergleichliche Lissi. Du musst sicherlich entsetzlichen Hunger haben.“ Er hielt die Dose in die Dunkelheit und wartete. Er presste die Lippen aufeinander und knirschte mit den Zähnen.

„Du magst das nicht! Warum magst du nicht, was ich dir anbiete?“

Er nahm den Arm zurück, hielt sich die offene Dose an den Mund und ließ einen Teil des Inhalts zwischen seine Zähne fließen. Winzige Gemüsestücke und ein Rinnsal aus roter Sauce rannen über sein Kinn und tropften zu Boden.

„Du verachtest meine Geschenke, nicht wahr?“ Er musste leise sprechen. Ganz leise. Das taten kluge Leute immer.

„Das hast du von Anfang an getan. Du hast, verflucht noch mal, von Anfang an geglaubt, dass es mir gleichgültig wäre. Nicht wahr, Lissi? Aber es war mir nicht gleichgültig! Nie!“, brüllte er seine Füße an und schmetterte die halbleere Dose an die Wand. Scheppernd fiel sie zu Boden, und ein roter, klebriger Strom zerfloss auf der zerschundenen Wand.

„Aber ich werde dir sagen, was du jetzt machen wirst. Ich werde es dir sagen! Du wirst essen, und du wirst trinken. Du wirst aufhören zu weinen, und du wirst lächeln! Und alles, weil ich es dir sage. Es wird keine Widerrede geben, keine einzige, meine geliebte, zerbrechliche, engelhafte Lissi! Denn, wenn doch, dann, dann, dann …“ Er ballte die Fäuste so heftig zusammen, dass sie schmerzten, dass die Haut über den Knöcheln weiß zu schimmern begann. Und immer und immer und immer wieder schlug er sie sich gegen die Schläfen.

Er zog die Stirn in Falten und verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen.

„Du bist undankbar, mein Mädchen! Sehr, sehr undankbar! Aber – aber – aber ich werde dir wieder einmal verzeihen. Denn meine Güte kennt keinerlei Grenzen. Du kannst immer zu mir kommen, wenn du es willst. Jederzeit. Mir deine Sorgen erzählen. Dein Tommy ist dir nicht böse. Niemals. Wie könnte er? Er bleibt dein Beschützer. Deiner und der aller anderen. Er weiß, wie man mit all den Arschgeigen hier umzugehen hat, und er wird euch alle in ein besseres Leben führen.“

Er machte eine lange Pause und lauschte nachdenklich dem Regen, der wieder eingesetzt hatte.

„Aber jetzt geh! Er möchte Pläne schmieden. Dein Tommy möchte große Plane schmieden!“

Eine halbe Stunde saß er im Dunkeln und schwieg. Dann stand er auf und folgte dem Tropfen und Plätschern des irgendwo durch das Dach fallenden Regens. Als er den Raum gefunden hatte, aus dem die Geräusche kamen kramte er den Plastikbecher aus seiner Kitteltasche und hielt ihn in den Faden aus hereinregnenden Tropfen. Er trank einen Schluck, und dann putzte er sich die Zähne.

Das Fiepsen der Ratte weckte ihn. Sie saß in einer Ecke des Raumes und putzte sich lautlos. Er quälte sich von der Matratze hoch und überlegte einen Moment, ob er eine der Dosen nach ihr werfen sollte. Aber das Tier war durch seine Bewegung längst aufgeschreckt wie ein Pfeil durch die Türe verschwunden. Er hatte noch immer keinen Hunger, aber er leerte den Rest der auf dem Fensterbrett stehenden Wasserflasche in seinen Plastikbecher und trank ihn in einem Zug aus.

Die Sonne schien durch das Fenster und warf ein verzogenes Schattenkreuz auf den Boden. Er stand auf und ging aus dem Zimmer. Dann schlenderte er gedankenverloren durch sieben Stationen, hob in der fünften einen alten, verschossenen Lederkoffer von den Dielen auf und stellte ihn zwei Stationen weiter wieder auf den Flurboden. Er betrat wahllos eines der angrenzenden Zimmer, schaute eine Weile aus dem Fenster und musterte dann den offenen Schrank hinter ihm aus dem eine Unmenge alter Turnschuhe quollen. Er wählte ein rotes Paar, probierte es an und ließ seine alten Schuhe einfach im Zimmer zurück. Dann ging er den Flur bis zum Ende und stieg die Treppe in den nächsten Stock hinauf. An der Flügeltüre, die in die Turnhalle führte lehnte ein Schild: Bitte nur mit Turnschuhen betreten!

Weiß Kirkpatrick doch, dachte er und deutete im Weitergehen mit beiden Zeigefingern auf seine neuen rote Schuhe. Aber die anderen nicht! Dämlich wie sie sind! Geht schon in Ordnung. Eins und zwei und drei und eins, nuschelte er laut vor sich hin und betrat das erstbeste Zimmer an dem er vorbei kam. Eine Weile stand er unschlüssig in der Mitte des Raumes und betrachtete sich im Spiegel an der Wand. Dann zog er lustlos eine der Schubladen auf, durchwühlte den Haufen unterschiedlicher Kämme und Bürsten, nahm eine Bürste heraus und fing an sich die Haare zu kämmen. Als ihm das zu langweilig wurde, warf er die Bürste zurück in die Schublade und drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken vor ihm auf. Der Knopf machte ein kurzes schabendes Geräusch und ließ sich dann nicht mehr bewegen. Scheißladen!, dachte er und ging wieder nach draußen. Dann schaute er ins Patientencafé, blieb aber nur unter der Türe stehen und ließ den Blick durch den menschenleeren Saal streifen. Die Reihe festgeschraubter Hocker vor dem Tresen. Heruntergeregneter Putz, zwei Schiefertafeln links und rechts des Fensters und der halb herausgerissene Sicherungskasten an der Wand. Habt ihr heute Nacht wieder alles leer gesoffen, ihr tumben Alkoholiker. Und wo liegt ihr jetzt schnarchend herum? Er machte einen kleinen Satz auf den Flurläufer in der Mitte des Ganges und hörte auf seine Schritte. Tip – tap – tip – tap. Gute Schuhe, bestätigte er sich. Leise Schuhe. Dann lief er die Stufen hinauf auf die schmale Empore und drückte die doppelflügelige Holztür auf.

 

Die Reihen der dunkelblau gepolsterten, durchnummerierten Sitze drehten ihm ihre Rücken zu. Er folgte den flachen mit Teppichboden ausgelegten Stufen hinunter und lehnte sich an das Geländer der Empore. Es roch nach uraltem Stoff, Glimmstengelqualm und Schweiß.

Unten im Parkett lagen leere Flaschen und zerdrückte Zigarettenschachteln zwischen den Sitzen. Auf der Bühne war der rote, mit Mustern verzierte flache Brokatvorhang halb heruntergelassen und verdeckte den dahinter liegenden schweren Samtvorhang. Mens sana in corpore sano stand zwischen den Mustern. Blablablablablablabla …, spie er in den Saal, schüttelte seinen Kopf und hämmerte auf die Brüstung. An der Ecke zur Bühne lehnte eine Leiter an der Empore. Er stieg über das Geländer, die Leiter hinab und setzte sich im Parkett in die erste Reihe. Eine Weile saß er schweigend da und fuhr sich unentwegt über sein gebürstetes Haar. Dann stand er auf, ging die schmale Holztreppe hinauf auf die Bühne, zog seinen dreckigen Kittel aus, breitete ihn vor sich aus und stellte demonstrativ und theatralisch einen Fuß darauf.

„Freunde“, rief er und ließ das Wort durch den Saal rollen. „Die Zeit ist nah, dass sich alles ändern wird. Und ich werde es sein, der euch diese Veränderung schenkt. Ich werde es sein, dem ihr ein Freudenfeuer entzünden werdet, den ihr auf den Schild hebt, um ihn durch dieses verfluchte Labyrinth zu tragen. Singend, schreiend, klatschend, johlend, saufend. Ich, Thomas Randolf Kirkpatrick, euer Freund und Beschützer, euer Licht im Dunkeln, euer Halt, wenn ihr stolpert, der Engel an eurer Seite, euer Trost in der Nacht. Der Motor eures Lebens. Die Sonne eurer Tage. Ihr ewigen Wichser.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Haltet einfach einmal das Maul. Wer von uns würde denn aufstehen und sagen wollen, dass irgendeiner neben ihm kein Wichser wäre. Also hört mir einfach zu! Die Zeit ist nicht mehr weit. Eine andere Zeit. Ohne schleimigen Fraß. Ohne bunte Pillen. Ohne glasklare Gläser voller glasklarem Gift. Ohne verwanzte Betten. Ohne eiskaltes Wasser. Ohne stinkende Scheißhäuser. Ohne Schreie. Ohne Schmerzen. Ohne Folterzangen. Ohne Albträume, ohne … ohne …“ Er rang nach Worten, wedelte theatralisch mit den Armen und stierte schweigend in die erste Reihe.

„Denn ich – euer Freund und Wegweiser, euer Vater, euer … Gott! Ich wache über euch. Ich habe es immer getan und werde es immer tun. Verzagt nicht. Fürchtet euch nicht. Weinet nicht. Glaubt nur. Glaubt an das, was ich sage. Glaubt an mich.

Ich sage euch was, Higgins, der alte Bücherfresser und Klugscheißer hat mir einmal etwas erzählt. Ich habe nicht mehr die geringste Ahnung was es war, das der alte Arsch mir ins Ohr gequatscht hat. Aber es klang gut. Es klang verdammt gut. Groß. Der Mann hieß Caligula. Higgins hat niemals einen Namen vergessen. In seinem ganzen Leben hat Higgins keinen Namen vergessen. Ihr wisst das doch selber! Also glaubt mir gefälligst, ihr Schwachköpfe, was ich euch hier erzähle. Caligula hieß der Mann. Und er war Kaiser. Verfluchter Kaiser im verfluchten, steinalten Rom.“

Er schlug sich mehrmals mit der flachen Hand auf die Brust und begann zu husten.

„Scheiß drauf, was er gesagt hat. Als Higgins es mir erzählt hat, klang es großartig. Ahh … ich wusste, dass ich es nicht vergessen würde. Niemals auch nur einen Tag: Trefft sie so, dass sie das Sterben fühlen!

Das hat Higgins gesagt. Oder dieser Wichser Caligula. Ist ja auch völlig egal. Wir werden sie treffen … Wir werden sie – nein, nein, wir werden Güte walten lassen, Güte und Nachsicht, denn wir sind aus Fleisch und Blut. Wir werden gütig und nachsichtig sein. Sie werden bereuen müssen, tief bereuen – und wir werden Watson den Schwanz abschneiden. Verdammt noch mal, das werden wir! Jawohl! Denn ich wache über euch. Seit jeher und in alle Ewigkeit.“

Er lehnte am Fenster und starrte in den herandräuenden Morgen. Gewitterwolken hingen über den verwilderten Beeten neben dem riesigen Wasserbehälter. Er hatte fast vierundzwanzig Stunden durchgeschlafen und fühlte sich noch immer gerädert und hundsmiserabel. Auf der Fensterbank lagen zwei Messer, die er sich aus der Küche mitgenommen hatte. Jetzt wanderte sein Blick auf ihre Spitzen und versuchte zu ergründen, ob sie sich zu ihm hingedreht hatten oder nicht. Aber sie lagen dort so, wie er sie dort abgelegt hatte. Stumm und blank.

Das Geräusch war ein fernes Rattern, ein dumpfes Grollen. Wie das erste kaum wahrnehmbare Heranrollen eines Bebens. Die beiden Planierraupen bogen um die Ecke des Schornsteins, kamen genau den Weg entlang, den der alte Mann immer mit seinem Anhänger herauffuhr. Der Alte wäre abgebogen, um an das entfernte Ende der Gebäudeflucht zu fahren. Um Kisten abzuladen. Geschenke abzugeben.

Die Raupen nahmen den Weg zum Haupteingang und blieben dann einfach stehen, als wüssten sie nicht weiter. Zwei Männer stiegen aus und setzten sich auf die Zähne einer der halbhoch gezogenen Schaufeln.

Er zog die Augenbrauen hoch und rückte einen Schritt vom Fenster weg.

Meine Lieben, meine Freunde – wir haben neue Besucher! Seht ihr sie? Seht ihr, wie sie ihre Stullen fressen, weil sie Angst haben, hier gäbe es nichts Anständiges zwischen die Zähne. Kommt her, ihre verblödeten Penner. Schaut sie euch an. Wenn sie wüssten, was es hier alles zwischen die Zähne gibt! Aber sagt mir, müssen sie Angst haben? Haben diese Männer irgendetwas zu befürchten? Nein, haben sie nicht! Wir werden sie empfangen wie Menschen. Denn das gehört sich so. Wir werden sie begrüßen, ihnen zeigen, dass sie willkommen sind. Ihnen den Tisch decken und die Hände reichen. Ihnen ihre Angst nehmen und sie nach ihren Träumen fragen.

Haben wir es nicht immer so gehalten? Nun kommt schon, ihr dämlichen Schweiger und Nichtsnutze. Watson, du Schwanzlutscher, sieh aus dem Fenster! Ist etwas dabei? Nein – nein – schmink es dir einfach ab! Ich werde dafür sorgen, dass diese neuen Gäste sich bei uns wohlfühlen. Es ist unsere Pflicht! Pflicht! Verdammte Pflicht!

Es war nie anders. Darf nie anders werden.

Denn ich, Thomas Randolf Kirkpatrick – wache über alles. Habt ihr das endlich verstanden, ihr Wichser? …

Anmerkung:

Im Jahr 1928 kaufte der Staat New York auf Long Island über vierhundert Hektar Land, um die größte Nervenheilanstalt der Welt zu bauen. Mitte der fünfziger Jahre lebten in den Pilgrim State Hospitals über vierzehntausend Patienten. In der Geschichte der Vereinigten Staaten spielten solch gewaltigen Heilanstalten schon immer eine große Rolle. Es waren riesige, nicht selten in viktorianischem Stil gehaltene, prunkvolle Gebäudekomplexe, die, miteinander verbunden, Ausmaße von über einem Kilometer erreichen konnten und die, meist außerhalb der Stadtgebiete liegend, zu den ranghöchsten Statussymbolen eines jeden Staates gehörten. Autarke, eigenständige Ansiedlungen mit eigenen Kraftwerken, Wasseraufbereitungsanlagen, landwirtschaftlichen Betrieben und Handwerksstätten.