Der letzte Prozess

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Fabian Hellers Pensionszimmer bot einen tollen Ausblick über das Almetal und die alte Mühle, die direkt am Fluss lag. »Fantastisch«, lobte er und dreht sich zu seiner Vermieterin um, die erwartungsvoll in der Tür stehen geblieben war.

»Toilette und Bad finden Sie auf dem Flur«, erklärte Gerda Grote. Sie hatte die achtzig Jahre sicher schon überschritten und war auf der Treppe schwer hinter Heller her geschnauft. »Aber die haben Sie ganz für sich, Sie sind momentan mein einziger Gast.«

Heller nickte freundlich und folgte der alten Dame im Schnecken­tempo wieder die Treppe hinunter.

Er verließ das Haus und schlenderte die Straße hinauf zurück zum Kreismuseum. Der Eintritt war frei. Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren empfing ihn und fragte ihn nach seiner Postleitzahl, die er in eine Liste am Computer eintrug, während seine jüngere Kollegin Prospekte sortierte und auf der Theke zurechtrückte.

Heller stellte sich vor und fragte nach einem möglichst schnellen Überblick über die Nazigeschichte des Dorfes. »Eine Zusammenfassung in zehn Minuten würde mir reichen.«

»Dr. Elling«, stellte sich der Mann vor. »Ich bin Historiker und helfe Ihnen gerne, wenn ich kann.« Er umrundete den Tresen und baute sich vor Heller auf. »Eine Zusammenfassung, sagen Sie? Tja, da bietet sich natürlich unsere Ausstellung an. Aber die schaffen Sie nicht in zehn Minuten. Als zweite Möglichkeit kann ich Ihnen unseren Katalog anbieten. Den können Sie durchblättern.«

Heller hatte keine Lust darauf, Museumsräume zu durchwandern und Exponate zu studieren, und so entschied er sich für Letzteres. Dr. Elling führte ihn achselzuckend in die angrenzende Bibliothek und legte ihm den Katalog vor. Der entpuppte sich allerdings als ein großformatiges und mehrere hundert Seiten dickes Buch mit dem Titel Endzeitkämpfer.

Dr. Elling grinste, als er Hellers Seufzen vernahm. »Wie gesagt, wenn Sie Hilfe brauchen – jederzeit gerne.« Er drehte sich um und verließ die Bibliothek.

Heller setzte sich an einen der Tische und machte sich an die Lektüre. Das Buch war eine Abhandlung über die Geschichte der Wewelsburg, bildete die gesamten Museumsexponate ab und zeigte alle Dokumente und Informationstexte der Ausstellungstafeln. Wenigstens ersparte sich Heller damit tatsächlich den Weg durch die Stockwerke und Räume. Er blätterte über die frühe Geschichte hinweg und landete schließlich in dem Kapitel über das Dritte Reich und die Übernahme der Burg durch die SS. Heller beugte sich vor und begann mit der Lektüre.

Stefan Lenz laborierte noch leicht an seinem Kater herum, als er die Dauerausstellung im Kreismuseum betrat. Dem Drang, sich einfach seinem Zustand zu ergeben und ziellos durch den Tag zu schlendern, war er nicht gefolgt. Schließlich musste er am Montag informiert im Büro auftauchen, sonst würde er von Anfang an bei seinen Kollegen als Drücke­berger dastehen, der nur seine Leute für sich arbeiten ließ. Und wo, wenn nicht im Museum, konnte er in destillierter Form einen Überblick über den historischen Grund bekommen, auf dem er ermittelte?

Als er das Gebäude betrat, wunderte er sich über die kühl-moderne Empfangshalle, denn angesichts der rustikalen Bruchsteinfassade des Hauses hatte er etwas anderes erwartet. Hinter einer breiten Theke warteten ein Mann und eine junge Frau auf Besucher. Er steuerte direkt auf sie zu und zückte seinen Dienstausweis. »Stefan Lenz, Kripo Paderborn. Ich ermittele in dem Mordfall, der sich direkt hier vor Ihrer Tür zugetragen hat.«

Die beiden nickten synchron und machten betretene Gesichter.

»Dr. Elling, Historiker«, stellte sich der Mann vor. »Das ist Marion Hagen, sie leistet ihr Freiwilliges Soziales Jahr bei uns ab.«

Die junge Frau reichte Lenz die Hand über die Theke. Sie hatte dunkle, glatte, lange Haare und einen Pony, der Lenz an die siebziger Jahre erinnerte. So eine Frisur hatte seine erste Freundin in der Schule gehabt.

Während er noch in die Betrachtung Marion Hagens vertieft war, die sich nun etwas unangenehm berührt wegdrehte und sich den Broschüren auf der Theke zuwandte, fragte der Historiker: »Wie können wir Ihnen denn helfen?«

»Dr. Elling, sagten Sie?« Irgendetwas klingelte da bei Lenz. Dann fiel es ihm wieder ein: »Sie haben die Leiche gefunden.«

Der Mann nickte.

»Können wir irgendwo in Ruhe sprechen?«

»Kommen Sie«, antwortete Dr. Elling und ging voraus. »Wir gehen in einen unserer Seminarräume. Da werden wir nicht gestört.«

Sie liefen durch ein Treppenhaus in den ersten Stock und passierten dort einen Vortragsraum. In dem anschließenden Gang blieb Dr. Elling vor einer Tür stehen und schloss sie auf. »So. Hier haben wir Ruhe.«

Er ließ Lenz vorbei und deutete auf die Stuhlreihe vor den in U-Form ausgerichteten Tischen. Lenz zog sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. Als auch Dr. Elling saß, forderte der Hauptkommissar ihn auf, noch einmal zu schildern, wie er den Toten aufgefunden hatte.

»Was soll ich da groß erzählen?« Der Historiker machte ein Gesicht, als wehre er sich innerlich gegen die Erinnerung. »Ich parke immer direkt vor dem Museum, drüben an der Burgmauer. Gestern Morgen war ich früher hier als sonst. Ich leite momentan einen Workshop im SS-Schießstand. Das ist so ein Projekt für Schulklassen, wissen Sie? Na ja, und da musste ich noch Material zusammensuchen. Das ist eine sehr wichtige Sache, müssen Sie wissen. Die Schüler lernen da …«

Musste er gar nicht wissen, fand Lenz. »Sie kamen also mit ihrem Wagen angefahren«, unterbrach er den Redefluss des Historikers. »Und dann?«

»Na ja, da lag der Tote mitten auf dem Kopfsteinpflaster. Es war ja noch dunkel und ich habe ihn im letzten Moment gesehen. Gar nicht auszudenken, wenn ich ihn auch noch überfahren hätte.« Dr. Elling schüttelte sich wie unter einem frostigen Schauer.

Lenz nickte und stellte sich vor, was dann wohl noch von der Leiche übriggeblieben wäre. »Haben Sie irgendjemanden gesehen? Ich meine, war da außer Ihnen und dem Toten noch jemand?«

»Nein. Es war dunkel, wie gesagt. Und ich stand zunächst auch unter Schock. Es hat schon etwas gedauert, bis ich in der Lage war, die Polizei anzurufen.«

Lenz erkannte, dass von der Aussage des Historikers zum Leichenfund wohl keine Erkenntnisse zu erwarten waren, und wechselte das Thema. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich bei dem Opfer um den ehemaligen Wachmann Anton Kottmann aus dem Konzentrationslager Niederhagen handelt. Deshalb hoffe ich, dass Sie mir mit Informationen weiterhelfen können.«

Dr. Elling nickte erstaunt. »Anton Kottmann also? Das ist ja ein Ding. Über den haben wir einiges in unserem Archiv.«

»Und Sie können mir da Auskunft geben?«

»Dazu gehen wir am besten runter in die Ausstellung.« Dr. Elling sprang auf und lief wieder voran in Richtung Treppen­haus, ohne sich weiter zu vergewissern, dass Lenz ihm auch tatsächlich folgte.

Es ging drei Stockwerke abwärts. Unten angekommen, befanden sie sich in einem Raum, an dessen Wänden großformatige Pano­ramatafeln mit Fotos von der Burg und einem Zeitstrahl mit den wichtigsten historischen Daten des Gemäuers angebracht waren. Die Zeitspanne erstreckte sich auf die Jahre des Dritten Reiches, in denen die Wewelsburg eine besondere Rolle gespielt hatte.

»Die SS hat bereits 1933 in Ostwestfalen nach einer Burg gesucht, die zum Schulungszentrum ausgebaut werden sollte.« Dr. Elling deutete auf die Bilder an der Wand.

»Warum ausgerechnet Ostwestfalen?«, wunderte sich Lenz. »Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, aber das ist nun wirklich nicht der Nabel der Welt, oder?«

»Tja, da irren Sie sich – jedenfalls nach Ansicht Himmlers.« Der Historiker hob mit einem ironischen Grinsen den rechten Zeigefinger. »Wir befinden uns hier im angeblichen Kernland Germaniens, in dem Arminius die Römer besiegt hat. Himmler hat gezielt im Umfeld des Hermanns-Denkmals und der mystischen Externsteine nach einer Burg gesucht.«

»Germanien, soso.«

»Genau. Der Germanenkult spielte für die Nazis eine große Rolle.« Dr. Elling war ganz in seinem Element. »In der Burg sollten SS-Offiziere ideologisch geschult werden und sie sollte als Treffpunkt der SS-Führer dienen. Bis heute ranken sich abenteuerliche Deutungen um die wirklichen Pläne Himmlers. Im Zentrum steht immer der Nordturm mit dem Obergruppenführer-Saal und der Gruft.« Er deutete auf einen großformatigen Riss vom Aufbau des Turmes. »Himmlers Architekt Hermann Bartels hat ihn auf die Wewelsburg aufmerksam gemacht. Vor allem die außergewöhnliche Dreiecksform und die Lage auf einem Bergsporn haben ihn fasziniert. Für die symbolische Summe von einer Reichsmark hat die SS die Burg von der Stadt Büren gepachtet.«

»Das ist ja geschenkt«, warf Lenz ironisch ein.

»Wie man’s nimmt. Das Gemäuer war damals ziemlich verfallen, der Nordturm war eingestürzt. Himmler hat sich verpflichtet, alles wiederaufzubauen.« Dr. Elling deutete auf ein Foto, das Lenz schon aus Anton Kottmanns Album kannte. Es zeigte Männer, die an der Burgmauer arbeiteten und laut Bildunterschrift Angehörige des Freiwilligen Arbeitsdienstes waren. »Himmlers Pläne wurden im Laufe der Zeit immer gewaltiger, je weiter die Arbeiten an der Burg voranschritten, und sind ein gutes Beispiel für den Größenwahn, der damals herrschte. Anfangs wollte er das ganze Dorf zu einem Musterdorf der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft umbauen. Später plante sein Architekt Bar­tels sogar, große Teile des Dorfes abzureißen und die Burganlage zu einer Festung zu erweitern. Selbst der Flughafen Paderborn-Lippstadt war damals schon projektiert.«

»Wie stand die Dorfbevölkerung zu diesen Plänen?« Lenz verkniff sich ein Grinsen. »Ich meine, die Leute sind doch quasi vom bäuerlichen Dorfleben direkt ins Zentrum Germaniens katapultiert worden.«

 

»Oh ja, das stimmt.« Dr. Elling nickte heftig und schien den ironischen Unterton gar nicht herausgehört zu haben. »Der Kreis Paderborn im Allgemeinen und Wewelsburg ganz besonders waren durch die Landwirtschaft geprägt und erzkatholisch. Die Menschen waren alles andere als begeistert vom Auftauchen der SS. Um die Dorfbevölkerung einzubeziehen, ließ Bartels ein Dorfgemeinschaftshaus errichten. Das war Anfang 1937. Heute ist darin das Restaurant Ottens Hof untergebracht.« Dr. Elling wies auf das Foto eines schmucken Fachwerkhauses mit hochgezogenem Holzgiebel. »Da müssen Sie mal hingehen. Das ist zwar mehrfach abgebrannt, aber immer wieder im alten Stil neu aufgebaut worden. Sehr beeindruckend! Das Haus sollte zum Mittelpunkt des Dorflebens werden und dafür sorgen, dass eine nationalsozialistische Volksgemeinschaft wie im Nazi-Bilderbuch entstand.« Zum ersten Mal grinste der Historiker. »Hat aber nicht funktioniert. Die Wewelsburger haben sich von der SS ferngehalten, soweit sie das konnten. Vor allem die Dorfjugend war sauer auf die schicken Offiziere in ihren schwarzen Uniformen, weil die ihnen die hübschen Dorfmädchen streitig machten.«

Lenz lachte. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Bei Schützenfesten soll es mitunter hoch hergegangen sein und bei Karnevalsfeiern auch«, erzählte Dr. Elling, ebenfalls lachend. Er freute sich sichtlich, einen so interessierten Zuhörer zu haben. »1937 sind sogar ein paar Wewelsburger nach ihrem Protest gegen den Burghauptmann von Knobelsdorff und die SS für ein paar Monate ins Gefängnis gegangen, später aber freigelassen und sogar rehabilitiert worden.« Dr. Elling grinste leicht, wurde aber sofort wieder ernst. »Als 1938 der Reichsarbeitsdienst abgezogen wurde, ließ Himmler ein Konzentrationslager am Ortsrand bauen. Anfangs war es ein Außenlager von Sachsenhausen bei Oranienburg, später wurde es Buchenwald in Weimar zugeordnet. Von da an haben Häftlinge die Arbeiten an der Burg ausgeführt. Von 1939 bis 1945 waren hier etwa 3900 Häftlinge unterbracht. Mehr als 2000 waren sowjetische Kriegsgefangene, die übrigen kamen aus Polen oder waren Zeugen Jehovas, die im Dritten Reich ja auch verfolgt wurden. 1285 Menschen sind hier in Wewelsburg nachweislich umgekommen, die meisten wegen der unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber auch einige durch Exekutionen und Misshandlungen. Heute sprechen wir in dem Zusammenhang von ›Vernichtung durch Arbeit‹. Das hier ist ein Foto vom Lager.« Sein Zeigefinger tippte auf ein Bild mit Stacheldrahtzäunen und Holzhütten auf einer Wiese vor einem Waldstück.

Lenz fand, dass das Konzentrationslager ohne die dazugehörige Geschichte gar nicht so bedrohlich aussah. Er trat einen Schritt näher heran und betrachtete die Bilder, die dieser Zeitspanne zugeordnet waren: Häftlinge im Steinbruch; die Wachmannschaft mit Gewehren zum Appell in Reih und Glied angetreten; die eingerüstete Burg; ein Riss der Pläne von Hermann Bartels, auf denen die gewaltige, in mehreren Ringen verlaufende Wehranlage eingezeichnet war, mit der dreieckigen Wewelsburg als Speerspitze in der Mitte. Der gesamte Bereich des Dorfes war in die Planungen einbezogen.

»Gab es denn dann wenigstens offenen Widerstand der Dorfbewohner?«, erkundigte sich Lenz. »Ich meine, ein Konzentrationslager dürfte sich ja nicht mit dem Katholizismus vertragen haben.«

»Eher nein.« Dr. Elling schaukelte zweideutig den Kopf. »Der Pastor Tusch hat zwar gerne gegen die SS gepredigt, aber ernsthaften Widerstand hat keiner geleistet. Einige haben ja sogar von den Arbeiten und dem Lager profitiert. Der örtliche Zimmermann zum Beispiel hat das Fachwerkgerüst für das Dorfgemeinschaftshaus gebaut und sogar die Holzwangen der Sitzbänke mit Totenkopfornamenten verziert. Andere Handwerker haben Arbeiten im Lager ausgeführt.« Einen Moment wurde der Historiker sehr nachdenklich. »Wissen Sie«, fuhr er dann fort, »ich frage mich manchmal, was wohl der Bezirksschornsteinfegermeister so alles mitbekommen hat. Schließlich mussten auch die Öfen im Lager gereinigt werden. Immerhin gab es ein Krematorium und da sind Leichen verbrannt worden. Na, und die Dorfbewohner haben alle gesehen, wie die Häftlings-Trecks durch das Dorf zum Steinbruch gezogen sind und wie abends die Toten zurückgeschafft wurden.«

Dr. Elling blickte in die Ferne, als zögen dort gerade die langen Reihen abgemagerter Männer in gestreifter Häftlingskleidung vorbei, bepackt mit Spitzhacken und Schaufeln, Leiterwagen hinter sich herziehend, auf denen die Leichen lagen, deren Arme und Beine herabhingen.

»Schon 1943 mussten die Arbeiten an der Burg eingestellt werden«, fuhr er fort, »weil der Krieg in Russland anders verlief, als sich die Nazis das gedacht hatten. Das KZ wurde aufgelöst, die Häftlinge auf andere Konzentrationslager verteilt. Nur ein Restarbeitskommando von 42 Männern blieb übrig. Aus dem Arbeitslager wurde ein Umsiedlungslager für sogenannte ›Volksdeutsche‹ aus Süd-Ost-Europa und ein Wehrertüchtigungslager für die HJ. Nach dem Endsieg sollte das Projekt allerdings fortgeführt werden, deshalb plante Bartels auch unbeeindruckt weiter. Kurz vor dem Eintreffen der amerikanischen Soldaten am 2. April 1945 ließ Himmler die Burg schließlich sprengen.« Ein Foto zeigte die Ruine und die letzten überlebenden Häftlinge, die von den amerikanischen Soldaten befreit worden waren. »Übriggeblieben ist die ehemalige Kommandantur, in der sich heute dieses Museum befindet.«

»Von dem Konzentrationslager ist nichts mehr zu sehen?«, fragte Lenz nach.

»Der Appellplatz, das Torhaus und die Küchenbaracke«, bekam er zur Antwort. »Das Torhaus ist allerdings kaum noch zu erkennen. Es wurde kurz nach dem Krieg zum Wohnhaus umgebaut. Den Appellplatz konnten wir jedoch erhalten. Dort ist heute das Mahnmal angelegt. Mit der Errichtung einer Gedenkstätte und eines Museums haben sich die Wewelsburger übrigens sehr schwergetan.« Der Historiker lächelte süffisant. »Mehrere Anläufe sind gescheitert, zum Teil am Widerstand der CDU und ihrer Mehrheit im Kreistag. Schließlich wurde eine Plakette an der Burg angebracht, aber die ist kurz darauf wieder verschwunden – sie ist einfach gestohlen worden, können Sie sich so etwas vorstellen?« Er schüttelte ernst den Kopf. »Als wir in der Anfangszeit unserer Museumsarbeit hier unsere ersten Führungen durch das Dorf veranstaltet haben, haben viele Dorfbewohner sich dagegen gewehrt, indem sie zum Beispiel ihre Radios mit voller Lautstärke aufgedreht haben. Oder sie haben die Motoren ihrer Autos und Motorräder so laut aufheulen lassen, dass wir unsere Vorträge abbrechen mussten.«

»Erstaunlich, wie viel Widerstand dann doch möglich ist«, warf Lenz ironisch ein. »Zumindest wenn er nicht gefährlich ist.«

»Ja ja, Zivilcourage ist nicht jedermanns Sache.« Dr. Elling nickte. »Das Mahnmal, so wie es heute ist, verdanken wir einer Gruppe junger Menschen und einem Verein, die sich dafür lange Zeit starkgemacht haben. Ohne deren Hartnäckigkeit würde in Wewelsburg heute nichts mehr auf die Existenz des Konzentrationslagers hinweisen. Reicht Ihnen das als Grundinformation?«

»Ja, vielen Dank«, beeilte sich Lenz, bevor Dr. Elling in seinem reichen Wissensfundus kramte und endlos weitererzählte. »Genau so habe ich mir das gewünscht.« Er nickte dem Historiker zu. »Was können Sie mir nun über Anton Kottmann sagen?«

»Kommen Sie!«

Lenz folgte Dr. Elling in den nächsten Raum, in dem graue viereckige Säulen mit Schaukästen und Schubladen Informationen über die SS-Angehörigen enthielten, die in der Burg und im Lager eingesetzt gewesen waren.

»So, hier finden Sie alles über Anton Kottmann.« Dr. Elling zog eine Schublade auf und deutete auf das Ausweisfoto, das Lenz schon kannte und das hier vergrößert abgedruckt war. »In den Schubladen haben wir alle Informationen gesammelt, die wir über ihn zusammentragen konnten. – Brauchen Sie mich noch, oder kann ich wieder nach oben gehen und meine Kollegin unterstützen?«

»Ich komme schon klar«, antwortete Lenz etwas überrascht. »Wenn ich Fragen habe, melde ich mich.«

Dr. Elling nickte und entschwand in seinem üblichen Sturmschritt durch den vorherigen Raum in Richtung Treppe. Lenz blickte sich um und seufzte. Auf so viele Informationen hatte er überhaupt keine Lust – schon gar nicht am Samstag. Aber es nützte ja nichts, er hatte hier und jetzt eine Chance, sich auf den Kenntnisstand zu bringen, den er für den Fall benötigte. Außerdem musste er zugeben, dass ihn der Bericht eben tatsächlich fasziniert hatte. Bisher hatte er immer gedacht, die Konzentrationslager seien weit weg gewesen, die Vernichtungslager sogar in Polen. Dass hier in Ostwestfalen, quasi vor der Haustür des Ruhrgebietes, ein Vernichtungsprogramm mit Hilfe von Arbeit im Steinbruch durchgeführt worden war, hatte er nicht gewusst. Und er musste widerwillig zugeben, dass ihn die Aura des Dorfes, das ihm bis vor Kurzem noch völlig unbekannt gewesen war, allmählich in ihren Bann zog. Also wandte er sich den Schubladen zu, um die Lebensgeschichte eines der Täter, Anton Kottmann, zu ergründen.

Fabian Heller konnte kaum glauben, was er da im Ausstellungskatalog gelesen hatte. Paderborn war Bischofssitz, der ganze Kreis schwarz wie die Nacht. Und ausgerechnet hier, wo das christliche C noch heute so großgeschrieben wurde, dass die CDU theoretisch auch einen schwarzen Besenstiel zur Wahl stellen konnte, ohne ihre Mehrheit zu gefährden, hatten die Nazis mit ihrer eigenen Polit-Pseudo-Religion ihr ideologisches Zentrum errichten wollen.

Er schob den dicken Wälzer zur Seite und ging zu einem der Regale, in denen weitere Literatur über das Dritte Reich angeboten wurde. Zwischen Biografien über Adolf Eichmann und andere Nazigrößen und Publikationen über Rassenforschung und Germanenkult stieß er auf ein dünnes Heftchen aus der Schriftenreihe der Forschungsstelle Wewelsburg: Frauen in der SS. Heller zog es heraus und blätterte locker durch die wenigen Seiten. An einem Foto blieb er hängen. Es zeigte SS-Männer in ihren schwarzen Uniformen und junge Frauen in hellen Sommerkleidern. Sie standen nebeneinander an der niedrigen Mauer vor dem Burgtor und lachten in die Kamera. Ohne Kenntnis der Geschehnisse im Dritten Reich hätte man sie für harmlose Pärchen auf einem Sonntagsausflug halten können.

Die Männer waren vielleicht zwanzig Jahre alt oder knapp darüber. In ihren Uniformen und mit den strahlenden Augen unter den schicken Schirmmützen wirkten sie vertrauen­erweckend. Da störte nicht einmal der Totenkopf. Ihr Charme nahm die jungen Frauen sichtlich gefangen, die stolz an ihren Armen hingen und sie anlächelten. Diese glücklichen jungen Leute hatten ihr ganzes Leben noch vor sich und wollten es offenbar genießen.

Der Begleittext zu den Fotos verriet Heller, dass es sich bei den SS-Männern um Angehörige der Burgmannschaft handelte und bei den jungen Frauen um sogenannte ›Burgmaiden‹ und um Sekretärinnen der Lagerverwaltung. Schlagartig wurde ihm klar, dass die hier abgelichtete Idylle die Kehrseite des Schreckens war, den das Konzentrationslager für die Häftlinge bedeutet hatte. Zwei miteinander nicht zu vereinbarende Parallelwelten. Für die Bediensteten war die Organisation des mörderischen Treibens ein Job gewesen, neben dem es auch eine unbeschwerte Freizeitgestaltung gab. Aber wie konnten sie fröhlich und glücklich sein und zugleich mit ihrer Arbeit einen Beitrag zu so viel Leid und Elend und sogar zum Tod so vieler Menschen leisten? Als nun auch noch das Bild Reinhold Hannings vor seinem geistigen Auge auftauchte, lief ihm ein Schauer über den Rücken.

Und dann erkannte Heller plötzlich, was ihn schon die ganze Zeit über an den Bildern unbewusst ganz besonders irritiert hatte: Die lächelnden Mädchen hatten allesamt blonde Haare, die zu langen Zöpfen geflochten waren – Zöpfe wie die, die er in Seidenpapier gewickelt im Haus seiner Mutter gefunden hatte.

»Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?« Dr. Elling stand plötzlich neben dem Journalisten und lächelte ihn offen an.

Heller nickte automatisch. »Ja, danke.«

»Unglaublich, nicht wahr?« Der Historiker deutete auf die Fotos, die Heller immer noch vor sich liegen hatte. »Eine teuflische Idylle.«

»Das trifft es ganz genau«, antwortete Heller. »Teuflische Idylle. Wie gehen Sie als Historiker damit um? Kriegen Sie das irgendwie zusammen?«

Dr. Elling hob und senkte die Schultern. »Im Grunde ist das die Frage, die alle Historiker immer aufs Neue fasziniert und die man wohl nie zufriedenstellend beantworten kann. Wie können Menschen, die einerseits liebevolle Familien­väter und Mütter waren, gleichzeitig so grausame Dinge mit anderen Menschen anstellen? In den Vernichtungslagern ja sogar mit Frauen und Kindern, wie sie sie selbst zu Hause hatten!« Er schüttelte leicht den Kopf, als spüre er dem Unfassbaren nach. »Ich glaube, an der Frage werden wir noch lange herumkauen.«

 

*

Wewelsburg, den 23. Januar 1940

Mein liebes Muttileinchen!

Ich hoffe, es geht Euch allen gut. Mir geht es hervorragend. Mein Leben hier in Wewelsburg gestaltet sich allmählich recht angenehm. Sonntags sind wir zwei Führer nun immer zum Kaffee bei den Burgmaiden eingeladen. Da gibt es frisches Gebäck und richtigen Bohnenkaffee. Die Mädels begrüßen uns mit großem Hallo und sind so voller Leben! Sie handarbeiten den ganzen Nachmittag und singen Lieder, bis es uns dann um 6 Uhr wieder auseinandertreibt. Für uns Mannsleute ist das immer ein besonders schöner Nachmittag und sind wir ganz geblendet von der Jugend. Nach dem Abendessen so gegen halb 10 gehe ich dann immer gleich ins Bett und schlafe den Schlaf des Gerechten.

An diesem Sonntag aber wollten mich die Verbrecher nicht schlafen lassen, denn trotz der eisigen Kälte hat sich doch wieder ein Fluchtversuch ereignet.

Ich wurde um kurz vor 3 Uhr von Gewehrschüssen geweckt. Ganze Salven aus der Maschinenpistole wurden da abgefeuert, denn es waren zwei Häftlinge über das Tor entkommen. Nach acht Minuten nahmen wir mit zwanzig Mann die Verfolgung auf, was nicht schwer war, denn die Spuren waren im tiefen Schnee gut zu erkennen. Die Verfolgung ging über freies Feld, durch einen Wald und dann die Bahnlinie entlang.

Als nach einigen Kilometern die Spuren auseinanderliefen, teilte ich die Gruppe. Auf dem Bahnhof lief die Spur dann ins Leere. Also ging ich mit meinen Leuten ins Dorf und weckte die gesamte Bevölkerung auf. Die zweite Gruppe, die auch die Spur verloren hatte, fand sich ebenfalls im Dorfe ein. In Dreiergruppen alarmierten wir die Dorfbewohner, bis nach zwei Stunden die Wehrmacht zu uns stieß.

Nun durchsuchten wir alle Häuser, Gehöfte und Scheunen. Inzwischen war es längst hell geworden. Bald waren 100 Mann Wehrmacht im Einsatz und weitere riegelten alle Straßen im weiten Umkreis ab. Als nach drei Stunden noch keine Spur von den Flüchtigen zu finden war, ließ ich meine Männer ausruhen und sich auftauen und alarmierte die Burg über den Vorfall.

Man schickte uns Lastwagen, so daß ich mit meinen Männern gegen 18 Uhr wieder in Wewelsburg eintraf.

Am nächsten Morgen bekamen wir einen Telefonanruf aus dem Dorf, in dem wir zuletzt gesucht hatten. Dort war eingebrochen worden. Die Einbrecher hatten männliche Kleidungsstücke und Nahrungsmittel gestohlen. Das konnten nur die beiden Flüchtigen gewesen sein.

Gegen neun Uhr kam dann endlich die Nachricht, daß die Wehrmachtssoldaten unsere beiden Galgenvögel festgenommen hatten, einen allerdings mit einem Bauchschuß, weil er sich zur Wehr gesetzt hatte. Unser Kommandoführer fuhr hin, um die beiden Männer abzuholen. Er ließ sich von dem Unverletzten den Fluchtweg erklären. Der war dumm genug, die erste Chance für einen weiteren Fluchtversuch zu nutzen. Aber wir sind gut geschult an unseren Pistolen und so schoß unser Kommandoführer zweimal und da war der Traum von der Freiheit auch schon zu Ende.

Ich war sehr erleichtert, als ich die Nachricht bekam, das kannst Du Dir ja denken, mein Mütterchen. Aber die Sache hatte ein Nachspiel. Der Obersturmführer aus Oranienburg kam persönlich, um uns einzeln zu verhören und ein Protokoll anzulegen, wie es denn möglich sein kann, aus einem deutschen KZ zu entfliehen. Auch der Kommandoführer mußte noch einmal ran: Er mußte dem Obersturmführer den Tatort zeigen und die Fluchtwege erläutern. Ich hoffe, daß die Sache nun für uns ausgestanden ist. Mein Gott, was hätten die beiden Verbrecher da draußen anrichten können, wenn wir sie nicht erwischt hätten!

Aber ein Gutes hat so eine Sache dann ja doch, denn unsere anderen Häftlinge wissen nun, wo sie dran sind, und mucken nicht mehr auf. Wollen wir hoffen, daß im Frühling nicht erneut ihr Wandertrieb erwacht und sie nach Chancen für eine Flucht Ausschau halten. Das wird ihnen dann aber übel bekommen, das kann ich Dir versprechen! Ich habe für jeden Ausbrecher eine Kugel auf Nummer Sicher und die wird ihr Ziel nicht verfehlen!

So, nun werde ich den Schlaf nachholen, den mir die Galgenvögel geraubt haben.

Ich drücke und küsse Dich und die Kinder!

Dein Vati

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