Signaturen der Erinnerung

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1.3.1 Konditionen des Bewahrens

Der Kulturphilosoph Roberto Calasso beschreibt in seinem Buch Der Untergang von Kasch das Verhältnis zwischen Natur und Kultur über die Notwendigkeit des Auswählens und Bewahrens als Akt der Kulturstiftung:

„Der Überschuß ist das Mehr der Natur im Verhältnis zur Kultur. Er ist jener Teil der Natur, den die Kultur zu verspielen, zu verbrauchen, zu zerstören und zu weihen genötigt ist. Im Umgang mit diesem Überschuß zeichnet jede Kultur ein Bild der eigenen Physiognomie. Das Gesetz neigt zur Monotonie, seine Variationen sind kläglich, wenn man sie mit der üppigen Vielfalt der Formen vergleicht. Und die Formen bilden den Fächer der Opferspielmöglichkeiten. Das Opfer ist unserer Physiologie eingeschrieben: Jede Ordnung – ob biologischer oder sozialer Art – beruht auf einer Aussonderung, auf einem gewissen Quantum verbrannter Energie, denn die Ordnung muß kleiner sein als das Ordnende. Die einzige Ordnung ohne sichtbare Aussonderung wäre eine, die dem pflanzlichen Stoffwechsel gliche. Das wäre eine Kultur, die Bestand hätte, ohne sich auf einen Unterschied zu gründen, also ohne sich überhaupt auf etwas zu gründen: eine Kultur, die vom Rascheln eines Baumes nicht zu unterscheiden wäre“ (Calasso, 2002, 180).

Besagte Tätigkeit lässt sich aber auch als Archivstiftung lesen, in der die Natürlichkeit des Materials (das Ordnende bzw. das zu Ordnende) und das Archiv als System (die Ordnung) miteinander verschaltet werden. In der zitierten Passage sind das Verspielen, das Verbrauchen und das Zerstören besonders auffällige Schlagworte; Calasso denkt an dieser Stelle seines bemerkenswerten Werkes von der Position des Opfers und der Opferung her. Dieser Prozess der (Auf-)Opferung, der immer häufiger auch eher wirtschaftlich denn kulturell gedacht wird, beeinflusst mit seiner Beschleunigung die „Dauer des Erbes“ (Derrida, 2005, 41) durchaus auch ungünstig. Wesentlicher und auch positiver für vorliegende Ausführungen ist das von ihm ebenfalls beschworene Weihen, also eine im Sinne Heideggers sinn- und kunststiftende Funktion des Bewahrens, die im Wechselverhältnis zur Beschaffenheit des zu bewahrenden Gutes steht: Auch das Material gibt die Konditionen des Bewahrens vor (Heidegger, 1963, 56–58).

1.3.2 Erinnerungsdiskurs und Archivsystem

Erinnerungsdiskurs und Archivsystem – das sind die beiden Gesichter eines janusköpfigen Kindes der Moderne, die uns im besten und vielfältigsten Sinne des Wortes als Depots unterschiedlicher, doch miteinander verknüpfter Wirkungsweisen entgegentreten. Basierend auf antiken Quellen hat die Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung zwar eine lange Tradition, doch wesentliche Veränderungen kamen hier – ebenso wie die aus ihrem wirtschaftlichen oder juristischen Primärumfeld herausgelösten Archive – erst im frühen 20. Jahrhundert. Bedingt durch zeitgeschichtliche Zäsuren und die Entwicklungen auf dem Feld der Technik sind diese beiden Bereiche wieder verstärkt in den Blickpunkt unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen gerückt – geprägt nicht nur von konstruktiven Auseinandersetzungen, sondern auch von oft schwierigen, doch dringend notwendigen Diskussionen um wissenschaftsgeschichtliche Aspekte der wesentlich weniger erfreulichen Art: Vergessen, Verdrängung, Verzerrung.

Der Wunsch nach einer Verlebendigung des Bewahrten und einer konstruktiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in unserer (Diskurs-)Gegenwart, die auf eine angenommene Zukunft hinarbeitet, durchaus unterstützenswert:

„Der Wunsch von Individuen oder Gemeinschaften, sich eine andere Vergangenheit zu geben oder Teile der eigenen Vergangenheit neu zu entdecken und zu bewerten, macht aber auch auf eine andere Möglichkeit der Archive im Umgang mit Vergangenheit aufmerksam, nämlich jene, die Teile des kollektiven Gedächtnisses, über die sie verfügen, neu anzuordnen und in einen neuen Sinnzusammenhang einzufügen“ (Auer, 2000, 62).

Diese Arbeitsweise war besonders für Aby Warburg, der neben Maurice Halbwachs als einer der wichtigsten Vertreter des uns heute vertrauten Erinnerungsdiskurses gelten kann, von Bedeutung. Während der Soziologe Halbwachs in seinen Schriften zum Erinnerungsdiskurs die soziale Bedingtheit des kollektiven Gedächtnisses in das Zentrum seiner Überlegungen stellte, vertrat der Kunsthistoriker Warburg die Auffassung einer auf Symbolen basierten Kultur, deren daran angeschlossenes kollektives Gedächtnis je nach Zeit und Ort aktualisiert und verändert werden würde. In seiner induktiven, vom Material diktierten Herangehensweise kann Warburgs Ansatz als postmodernes Vorzeichen eines – im homonymen Sinne – überaus modernen Vertreters gelten, auf den auch noch neueste erinnerungsspezifische Theorien rekurrieren. Besonders deutlich wird dabei die Methode einer fächerübergreifenden Herangehensweise, die sowohl Halbwachs als auch Warburgs Methoden kennzeichnet und auch das Verhältnis von Erinnerungsdiskurs und Archivsystem ganz deutlich mitbestimmt:

„Gedächtnis und Depot verweisen aufeinander, so wie Erinnerung und Exponieren aufeinander verweisen. Das aber heißt, daß Akte des aktiven Erinnerns in Form des Exponierens und des Aktivierens von gespeichertem und magaziniertem Material eines aktuellen Rahmens […] bedürfen. Mit der Rahmung erfolgt eine Redimensionierung von Relikten der Vergangenheit aus der Sicht und der Interessenskonstellation einer jeweiligen Gegenwart: Erst das Exponieren macht aus dem Zeugs den Zeugen, erst in der Auf- und Gegenüberstellung wird der Zeuge aussagefähig, erst im Kreuzverhör der Ex-, Juxta- und Kontraposition wird der Zeuge zur Auskunft veranlasst“ (Korff, 2000, 45).

Das Archiv steht für eine geordnete Sammlung, die, abseits ihrer stark auf den wirtschaftlichen Bereich fokussierten Ausrichtung, in den letzten Jahrzehnten immer häufiger in konstruktiver Verbindung zu den Bereichen des Museums und der Bibliothek gedacht und konzipiert wird. Dies liegt neben der Praktikabilität der Verknüpfung wohl zu einem Gutteil auch daran, dass diese Institutionsformen zumeist ebenfalls interne Archive ausbildeten, um heterogene Teilbestände adäquat aufarbeiten und verwalten zu können. Abseits der klassischen Sammlungsinhalte, wie etwa dem Medium Buch (für die Bibliothek) oder dem mehr oder minder singulären Objekt (für das Museum), fanden etwa Nachlässe oder nicht-publiziertes Material ihren Weg in diese Institutionen. Die Herausforderung der Datenerfassung, der Bewahrung und sachgerechten Aufarbeitung verlangte und verlangt nach einem archivalischen Zugang innerhalb erwähnter sammlungsspezifischer Strukturen. Die Bewahrung der Bestände kann dabei als die wohl dringlichste Aufgabe verstanden werden:

„Ungeachtet aller Zufälle und Wechselfälle der Überlieferung bleibt das Bewahren natürlich konstitutives Element und wesentlichste Funktion der Archive. Darin besteht ihr wichtigster Beitrag zur Bewahrung von Gedächtnis, daß sie Vergangenes erhalten und Vergessenes neu ans Licht bringen“ (Auer, 2000, 61).

Dieser wissenschaftlich unterfütterte Vorgang der Rückgewinnung des Vergessenen, Vergangenen und auch Verdrängten kann nur im Sinne einer Balance zwischen Bewahren und Zugänglichmachen der Bestände – so ihre Beschaffenheit dies zulässt – gedacht und gelebt werden.

Das Archiv – das gleichermaßen System der Ordnung und eigentliche Sammlung ist, die durch ein differenzschaffendes Scharnierelement administrativer, submedialer Prozesse verbunden sind – kann auf diesem Weg als Ort der intellektuellen Wertschöpfung begriffen werden, der durch seine heterogenen Bestände vor-geprägt ist. Die unterschiedlichsten Arten des Bestandes sind dabei eben nicht nur wesentliches Kennzeichen, sondern vielmehr auch eine positiv wirksame Rahmenbedingung für den Umgang mit dem jeweiligen Material und Vorgabe gewisser Grundlinien diskursiver Arbeiten und Herangehensweisen. So kann abseits von fälschlich unterstelltem Selbstzweck über eine andauernde Neubewertung nicht nur ein umfassenderes, besseres Verständnis der eigenen Disziplin und neuerer Entwicklungen, sondern auch ein kritisches Analyseinstrumentarium umfassenderer sozialer Prozesse gewonnen werden. Die konsequente Befragung der gegebenen Sammlungsbestände – was also etwa noch als Ausstellungsexponat tauglich ist oder aber eben schon Teil einer disziplinhistorischen Auseinandersetzung gilt – kann eben nicht im engen Verständnis einer als allumfassend missverstandenen Hermeneutik der endgültigen und immerwährenden Ergebnisse stattfinden. Vielmehr verlangt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Erinnerung und Archiv nach einer – im poststrukturalistischen Sinne – Kette miteinander verknüpfter Auslegungen, die auch die Geschichte des eigenen Arbeitsfeldes befruchten und vorantreiben. Trotz der mitunter kritisch zu betrachtenden Ausrichtung dieser interpretativen Verfahrensweise, ist diese doch die geeignetste, um die Veränderung des Stellenwertes des erfassten Materials in Bezug zu einer – im Sinne von Hans Robert Jauß – in narrativen Formen organisierten (Disziplin-)Geschichtsschreibung und hinsichtlich aktueller Fragestellungen aufzuzeigen: „Der wissenschaftliche Wert eines Untersuchungsgegenstandes erschließt sich erst in Bezug auf jenes Fragenfeld, auf das zu antworten es erlaubt und damit die Grenzen seiner Aussagekräftigkeit bestimmt“ (Ernst, 2002, 119). Zu berücksichtigen bleibt dahingehend auch die disziplininterne Bedeutungszuschreibung im Rahmen einer zweifachen Bewegung: Die erste dieser Bewegungen ist die Herausentwicklung des jeweiligen Artefakts aus einer der Entropie verhafteten Phase der Unordnung, des Chaos’, vielleicht sogar des Mülls (Thompson, 2003) in einen Zustand der Aufwertung. Die zweite, daran wohl zumeist anschließende Bewegung ist die einer – auch mnemotechnisch relevanten (Yates, 1990, 336ff.) – Zirkulation von Semantisierungsleistungen im Rahmen der Auseinandersetzung mit Sammlungsbeständen und Einzelobjekten, einem Diskurs im Sinne eines Oszillierens zwischen zwei Spannungspunkten: „Archivalien sind also keine Frage von Vergangenheit, sondern einer Logistik, deren Koordination quer zur Beobachterdifferenz von Gegenwart und Vergangenheit liegt – eine kybernetische Funktion von Latenz und Aktualisierung“ (Ernst, 2002, 120f.).

 

Diese intellektuell-logistische Leistung schließt auch Bedeutungsverschiebungen und (Neu-)Bewertungen mit ein: „Charakteristisch für diese Archivästhetik ist die Semantisierung einer institutionellen Organisation durch die Hermeneutik des Organismus, mithin also die Anthropomorphisierung eines Apparates durch Lebensphilosophie […]“ (Ernst, 2002, 88). Auch hinsichtlich der (metaphorischen) blinden Flecken, die sich durch die Eingebundenheit in ein System ergeben – also im weitesten Sinne eine quantenmechanische Bezüglichkeit im Sinne von Position, Beobachtung und zu verrichtender Arbeit –, kann das Erkennen dieser Position, ganz im Sinne einer weiterführenden Verbindung von Rationalität und Sammlung, zu einer Erkenntnis der Teilhabe an historischen bzw. historisierenden Prozessen führen. Dabei ist es ja durchaus erstrebenswert, die Gegenwärtigkeit dieser mnemotechnischen Archivarbeit dabei nicht aus den Augen zu verlieren, also an aktuellen Diskursen zu partizipieren und dem dringlichsten Wunsch der Archive nachzukommen: einem delirierenden Zustand zu entkommen und auf eine Ordnung zuzusteuern, die in der Lage ist, sich selbst kritisch zu befragen und der eigenen Disziplin sinnvolle Möglichkeiten der Unterstützung und der (Selbst-)Reflexion im Sinne einer metaphorischen Registratur bieten zu können. Dies gilt auch in einem umfassenden Sinne für die in den Institutionen tätigen Personen, die durch ihre Tätigkeit immer auch im Archivdiskurs mitgemeint und miteingeschrieben sind. Sie sind somit die Verantwortlichen, die mit ihrer Leistung dazu beitragen müssen, dass – ganz im Sinne des zitierten Calassos – Kultur und Blätterrauschen unterscheidbar bleibt:

„Archive stellen einen wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses dar oder vielmehr, sie enthalten die Bausteine, aus denen dieses Gedächtnis immer wieder neu zusammengesetzt und zum Leben erweckt werden kann. […] Daß Archive nur einen wenn auch wichtigen Teil des kollektiven Gedächtnisses darstellen, gilt in mehrfacher Hinsicht. Sie teilen sich diese Funktion mit anderen Institutionen, mit Bibliotheken, Museen, der lebendigen Tradition, kurz mit allem, was Erinnerung stiften und bewahren kann. Teil sind sie aber auch in einem anderen Sinne. Archive bewahren den schriftlichen Niederschlag von Geschehenem, der, wie es in einer gängigen Definition heißt, bei Personen oder Institutionen in Ausübung ihrer Funktionen erwächst“ (Auer, 2000, 57).

1.3.3 Zum Beispiel der Filmarchive

Filmarchive waren in ihrer Urform, also während der frühen Jahre der Kinematografie, zumeist von Einzelpersonen getragen worden. Doch schon in der Prä-Kino-Zeit gibt es den Wunsch nach der dauerhaften Aufbewahrung: So fordert W. K. L. Dickinson, der Miterfinder des Kinetoskops, bereits 1894 eine Möglichkeit zur Erhaltung der von ihm projizierten vitalized pictures (Bottomore, 2002, 86). In Europa wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt auch auf den Wert der Bewegtbilder aufmerksam gemacht. So brachte die Fachzeitschrift Kinematographische Rundschau bereits im Mai 1907 den Wiederabdruck eines Artikels des Berliner Tagblatts, in dem erstmals recht ausführlich die Vorteile sogenannter „Kinematographischer Archive“ vorgestellt wurden:

„Ernst v. Bergmanns Stimme ist der Nachwelt erhalten geblieben. Wenige Wochen vor seinem Tode hat der grosse Gelehrte ein Stück aus seiner Familienchronik in ein Grammophon hineingesprochen, und man ist nun imstande, immer wieder Ernst v. Bergmanns Stimme zu hören, der der akzentuierte baltische Dialekt eine so eigenartige Färbung gab. Um wieviel interessanter und vor allem für die Wissenschaft bedeutungsvoller wäre es, wenn man eine Operation Bergmanns kinematographisch festgehalten hätte, wenn in späteren Zeiten die Studenten der Medizin noch sehen könnten, wie der Meister der Chirurgie seinen Eingriff in den kranken Körper vollzog. Es gibt bereits in mehreren Staaten phonographische Archive, in denen die Stimmen vieler Grosser für die Nachwelt aufbewahrt werden. Es soll nun hier die Anregung gegeben werden, in entsprechender Weise auch kinematographische Archive einzurichten, in denen, wie dort die Grammophonplatten, Films, auf denen wichtige und interessante Ereignisse in lebendiger Beweglichkeit festgehalten sind, aufbewahrt werden. Der Phonograph ist über das Spielzeug bereits hinausgewachsen, und auch der Kinematograph hört jetzt auf, nur ein kurioser Apparat zu sein, dessen Wirksamkeit man im Variété oder in einem eigens zu diesem Zweck eingerichteten Theater bestaunt oder belacht. Das bewegliche Lichtbild ist vielmehr bei richtiger Auswahl der Objekte imstande, viel Aufklärung in der Gegenwart zu verbreiten und ausserordentliche Belehrung in die Zukunft zu tragen. Für die Kulturgeschichte würde mit dem kinematographischen Archiv eine neue Ära anbrechen. Wie blass sind die schönsten Beschreibungen vergangener Zustände gegenüber ihrer Aufbewahrung im lebendigen Bild. Wie heute auf einer grossen Station ein Zug abgefertigt, wie die Feuerwehr arbeitet, wie die Leipzigerstrasse an einem Geschäftsnachmittag aussieht – alle diese und ähnliche Momente aus der Entwicklungsgeschichte kann man den kommenden Geschlechtern durch den Kinematographen lebendig erhalten. Solche Aufnahmen zum Beispiel in Berlin systematisch durchgeführt, könnten noch nach Jahrhunderten ein völlig klares Bild von dem gegenwärtigen Zustand der Reichshauptstadt geben und damit den Forschern unendlich wertvolles Material in die Hände liefern. Für die Wirksamkeit des kinematographischen Archivs gibt es, wenn es ernsthaft angegriffen wird, gar keine Grenzen. Und sein Nutzen liegt so klar zutage, dass die Anregung wohl nur gegeben zu werden braucht, um geeignete Kreise dafür zu interessieren“ (o.A., 1907, 3).

Weiterführende Ansätze und Ideen zur möglichen Archivierung von Filmen formulierten der in Paris beheimatete Pole Bolesław Matuszewski und sein deutscher Kollege Hermann Häfker. Beide gelten zu Recht als Pioniere auf diesem Gebiet, die auf die gesellschaftliche Notwendigkeit der Aufbewahrung filmischer Quellen aufmerksam machen wollten. War Matuszewski, der bereits 1898 sein Buch Une nouvelle source de l’histoire – création d’un dépôt cinématographie historique vorlegte, noch mehr darauf bedacht, Film als historisch wertvolle Quelle zu etablieren, formulierte Häfker in seiner 1915 erschienenen Schrift Das Kino und die Gebildeten bereits mögliche Aufgaben und Probleme noch einzurichtender Archive und Depots. Seine klar formulierten Strategien waren vor allem Konzepte der Bewahrung, die, gemessen am technischen Stand seiner Zeit, als durchaus fortschrittlich gelten können. Während des Ersten Weltkrieges stand aus naheliegenden Gründen vor allem der physische Schutz des Materials im Vordergrund und weniger ein Ausbau der bestehenden Sammlungen. Die Überlieferungssituation dieser historischen Phase, mit der die Filmarchive konfrontiert sind, ist eine äußerst schwierige, wurden doch kurz nach dem Ende des Krieges in den besiegten Ländern umfangreiche Film- und Dokumentenbestände – vor allem aus den Bereichen der kriegsspezifischen (Film-)Berichterstattung – vernichtet.

Bis zum Ende der Zwanzigerjahre kommt es zur Einrichtung von Abteilungen für audio-visuelle Medien innerhalb bestehender, etablierter Institutionen und auch zur Gründung neuer, meist staatlicher Stellen mit Schwerpunkt auf dem Medium Film. In den Dreißigerjahren werden in allen klassischen filmproduzierenden Ländern Filmarchive eingerichtet, die zugleich die ersten Mitglieder des auch heute noch bestehenden Dachverbandes der Filmarchive, der Fédération Internationale des Archives du Film (FIAF), sind. Die FIAF bestand bei ihrer Gründung 1938 aus nur vier Mitgliedern, heute zählt sie über 120 Mitglieder aus mehr als 60 Ländern. In der Phase vor dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Anlegung von umfangreichen Sammlungen, die dort ansetzen sollten, wo die Limits privater Sammlungen deutlich wurden. Diese Kollektionen wurden primär ohne Auswahlverfahren aufgebaut; parallel dazu konzentrierte man sich in den Filmarchiven während der Zwischenkriegszeit auf die Rettung von (Spiel-)Filmkopien, wenngleich auch unter den Einschränkungen einer überaus kanonischen Auffassung von Filmerbe und Filmgeschichtsschreibung. War während des Krieges ein weiterer Ausbau von Sammlungen über Grenzen hinweg praktisch unmöglich, kam es nach 1945 zum erneuten Aufbau von Archivstrukturen und einer Revitalisierung der FIAF. Besonders den Bemühungen dieser Institution ist es zu verdanken, dass der kulturelle Austausch zwischen den Ländern in Sachen Film, an dem sich Österreich nach der Gründung des Filmarchiv Austria 1955 rege beteiligte, wieder in Schwung kam. Auch jetzt zählt die Aufgabe des Networking zwischen den Archiven, neben Hilfestellungen zum Auf- und Ausbau von Filmarchiven, dem Abhalten von Kongressen und einschlägigen Weiterbildungskursen und der Veröffentlichung von Publikationen zu den zentralen Funktionen dieses Dachverbandes. In den Sechzigerjahren wirkte eine Generation von Archivaren, die auch mit filmgeschichtlichen Schriften hervortraten und erstmals eine lebendige Verbindung von Filmgeschichtsschreibung und Archivwesen demonstrierten. Umso verwunderlicher ist es, dass teilweise die gleichen Personen vehemente Vertreter einer klassischen Auffassung von Archivarbeiten waren, also Archivgut um jeden Preis schützen wollten – und sei es auch, die Bestände für die (wissenschaftliche) Öffentlichkeit schwer bis gar nicht zugänglich zu machen. Die damals aufkommende Diskussion um das Verhältnis zwischen dem Wunsch, einer öffentlichen Aufgabe nachkommen zu können und Archivbestände zu bewahren, ist auch heute noch ein wesentlicher Faktor in der täglichen Arbeit der (Film-)Archive. Als positiver Nebeneffekt soll bezüglich dieses Konflikts aber nicht unerwähnt bleiben, dass zu diesem Zeitpunkt erste tiefschürfende Analysen der Probleme sachgerechter Aufbewahrung von Filmbeständen durchgeführt wurden (Houston, 1994, 37ff.). Neben signifikanten Änderungen in den späten Siebzigerjahren ist für die weiteren Jahrzehnte zu bemerken, dass ein bewundernswertes Gleichgewicht zwischen den doch sehr unterschiedlichen Aufgabenbereichen gefunden werden konnte, das auch eine verstärkte Spezialisierung innerhalb der Archive nicht ausschloss.