Mordskunst im Elbtal

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Die junge Frau wurde kurz nach Mitternacht eingeliefert. Die genauen Daten finden Sie in diesen Unterlagen. Der Notarzt hatte sofort einen Schock diagnostiziert und noch im Wagen mit der Behandlung begonnen. Als sie hier ankam, haben wir sehr schnell erkannt, dass sie innere Blutungen hatte, und deshalb eine Notoperation angesetzt. Zu dem Zeitpunkt war ihr Kreislauf aber schon sehr instabil. Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, aber sie hatte schon zu viel Blut verloren. Ein Milzriss ist eine lebensgefährliche Verletzung. Wenn das nicht sofort erkannt und behandelt wird, verblutet der Patient im Innern des Körpers. Sie ist mir praktisch unter den Händen weggestorben.« Dr. Barthel machte einen tiefen Seufzer. Leo fühlte mit ihr. Wenn man sich einen Beruf aussuchte, in dem es darum geht, Leben zu retten, musste es frustrierend sein, dieses Ziel zu verfehlen.

Dr. Barthel fing sich wieder. »Die Frau hatte keine Papiere dabei, nichts, was zu ihrer Identifizierung beitragen könnte. Da müssen Sie sich nun drum kümmern. Sie ist etwa fünfundzwanzig Jahre alt und war ansonsten kerngesund, da war nichts Auffälliges an ihr.«

Leo nickte. »Also keine Drogenkonsumentin oder möglicherweise Prostituierte?« Dr. Barthel schüttelte den Kopf. »Sie können das ja alles noch mal überprüfen, aber ich würde sagen: Nein. Sie machte einen ganz normalen Eindruck, hatte weder Drogen noch Alkohol im Blut und sieht auch nicht aus wie eine Frau, die sich prostituiert.« Sie sah ihn an. »Soweit man das von außen sehen kann, natürlich«, schränkte sie ein.

»Gut, dann werden wir sie sicherlich schnell identifizieren. Jemand wird sie vermissen und das melden. Ich kümmere mich drum. Wo hat der Notarzt sie aufgenommen?«

»Steht alles in den Unterlagen, damit habe ich mich nicht beschäftigt«, sagte Dr. Barthel matt.

Er nahm die Unterlagen der Ärztin an sich und blätterte sie durch, bis er die Angaben zum Notruf fand.

»Sie wurde am Bahnhof in Bad Schandau aufgenommen. Angerufen hat ein Reisender, der aufmerksam geworden war. Hmm. Was macht eine junge Frau mit so einer Verletzung am Bahnhof?« Er schaute auf und sah, wie Dr. Barthel versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.

»Gibt es einen typischen Verlauf, wie es zu so einem Milzriss kommt?«, fragte er.

Dr. Barthel nickte. »Aufgrund der Lage der Milz muss es ein harter Schlag in die linke Bauchseite sein, damit die Kapsel reißt, die sie umgibt. So was passiert zum Beispiel bei Radunfällen, wenn sich der Lenker in den Bauch bohrt, oder auch wenn jemand einen Faustschlag in den Oberbauch bekommt.«

Leo nickte. »Aber sie sah nicht so aus, als hätte sie sich vorher geprügelt, oder?«

»Nein, überhaupt nicht. Da sind keine Spuren wie Hämatome oder Ähnliches von anderen Schlägen. Sie können sie ja anschauen.«

Sie stand auf und führte ihn über ein paar Gänge und Treppen in einen Trakt, in dem sich keine Krankenzimmer befanden, dafür aber der Kühlraum für die Verstorbenen. Die junge Frau lag auf einem Tisch, abgedeckt mit einem Laken. Dr. Barthel hob es an. »Werden Sie eine Obduktion veranlassen?«, fragte sie.

»Das ist gesetzlich vorgeschrieben«, sagte Leo. »Aber ich vertraue Ihrem Urteil. Hatte sie etwas bei sich?« Leo fragte aus reiner Routine. Das sah nicht nach einem Verbrechen, eher nach einem Unfall aus. Auch er konnte keine Spuren eines Kampfes an ihrem Körper entdecken.

Die junge Frau so kalt und bloß, ohne jedes Leben, liegen zu sehen, brachte etwas in ihm in Bewegung. Sie war bei Weitem nicht die erste Leiche gewesen, die er je gesehen hatte. Zum ersten Mal war ihm der Tod begegnet, als sein Großvater bei einer nächtlichen Heimfahrt auf dem Fahrrad von einem Auto erfasst worden war. Leo hatte ihn damals gefunden. Sein Opa hatte übel zugerichtet im Straßengraben gelegen. Dagegen war diese junge Frau ein ästhetischer Anblick, wenn auch mit einem frischen Bauchschnitt. Damals war seine Welt aus den Fugen geraten, und in ihm war das Bedürfnis gewachsen, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. So ging es ihm nun immer, wenn er mit Todesfällen konfrontiert wurde. Es musste einen Grund geben, warum die junge Frau ihr Leben hatte hergeben müssen, und er, Leo Reisinger, würde ihn herausfinden.

Dr. Barthel blätterte in den Unterlagen: »Wie ich sehe, hatte sie nur Kleidung bei sich, also eine Jacke, Hose, T-Shirt, Wäsche, das Übliche. Ich lasse Ihnen das gleich aushändigen.« Leo nickte und wandte sich zur Ärztin.

»Soll ich Sie nach Hause fahren? Sie sehen todmüde aus.« Dieses Schneewittchen, dachte er, muss ganz dringend schlafen.

Überrascht sah sie auf. Er hielt ihrem Blick stand. Da war nicht mehr nur Müdigkeit, da war noch etwas anderes. Schließlich wandte sie sich ab.

»Danke, aber das lohnt nicht. In drei Stunden beginnt mein nächster Dienst. Ich lege mich jetzt aufs Ohr und versuche, noch ein wenig Schlaf zu bekommen.« Sie verließen den Raum und gingen in Richtung Ausgang.

»Möglicherweise muss ich Ihnen im Zuge der Ermittlungen noch die eine oder andere Frage stellen«, sagte Leo und hielt ihr seine Karte hin. Dr. Barthel versenkte sie in der Tasche ihres weißen Kittels, ohne einen Blick drauf zu werfen – und überreichte ihm im Gegenzug eine Visitenkarte mit ihrer Dienst-Nummer in der Klinik.

»Kann ich Sie auch mobil erreichen?«

Sie musterte ihn – Leo sah, wie ihre Mundwinkel kurz nach oben zuckten – und schrieb ihre Handy-Nummer auf die Rückseite der Karte. Dann berührte sie ihn flüchtig, wie mit einem Schmetterlingsflügel, am Arm, winkte ihm zu und war schon um die nächste Ecke verschwunden.

Ihr Lächeln beim Abschied freute Leo. Er hoffte, dass er sie noch mal würde befragen müssen. Ihm würde schon ein wichtiger Grund einfallen.

Mit den Unterlagen unter dem Arm und einer Tüte mit den Kleidungsstücken der toten Unbekannten in der Hand federte Leo wieder die Treppe hinunter. Der Fall würde ihn nicht lange aufhalten. Er bat die Zentrale in Dresden, nach vermissten jungen Frauen zu recherchieren und die Daten, die er über die Tote bekommen hatte, abzugleichen. Die Mitteilung, dass eine junge Frau, deren Identität noch nicht geklärt war, in der Pirnaer Klinik an inneren Verletzungen verstorben war, ging eine Stunde später an die regionale Presse.

Um siebzehn Uhr sperrte Jenni die Tür zum »Alten Zeughaus« von innen ab und half Marta beim Aufräumen. »Puh, das war der stärkste Tag des Jahres bisher, wir haben fast hundert Essen rausgegeben und ordentlich Umsatz gemacht«, lobte sie. Marta saß auf einem Stuhl und ließ den Kopf hängen. Bei dem ganzen Stress hatte sie keine Minute Zeit gehabt, an Elena zu denken. Nach der kurzen Nacht mit ihrem Freund war sie nun todmüde und wollte nur noch ins Bett. Der Kühlschrank war leer, sie mussten noch die Bestellung für morgen aufgeben, damit frische Ware geliefert wurde. Das übernahm Jenni, während Marta die Küche putzte und die Fensterläden verriegelte. Als ihr Jenni die Hälfte des eingenommenen Trinkgeldes hinschob, kam wieder Leben in die pummelige Köchin. Von Jenni, die sie heute Morgen erst kennengelernt hatte, hatte sie das nicht erwartet. Aber nachdem diese den ganzen Tag über funktioniert hatte wie ein Roboter, klare Anweisungen gegeben und keinen Satz zu viel gesprochen hatte, lächelte sie Marta nun freundlich an. »Du hast toll gearbeitet, Marta!« Das war wie ein Lob von ihrer eigenen Mutter. Marta bedankte sich überschwänglich und sie sprachen kurz über Elena und ihr Verschwinden. Jenni tröstete sie: »Das wird sich schnell aufklären, wenn du zu Hause bist. Mach dir keine Sorgen! Für alles gibt es eine Erklärung. Ich hoffe, wir sehen uns mal wieder!« Kurz danach schwang sich Marta auf ihre Schwalbe und tuckerte die Schotterstraße vor Richtung Kirnitzschtal und dann nach Bad Schandau.

Als sie die Treppe hochstieg, traf sie auf dem letzten Treppenabsatz fast der Schlag. Die Wohnungstür war eingedrückt und stand einen Spalt offen.

Im Nu jagte Martas Puls in die Höhe. Was war hier los? Vorsichtig schob sie die Tür auf und schaute in den kleinen Flur. Alle vier Türen, die von hier aus in die Zimmer gingen, waren offen. Vorsichtig äugte sie in die Wohnung hinein. »Hallo, Elena? Bist du zu Hause?«, rief sie auf Tschechisch. Keine Antwort.

Sie machte zwei Schritte in den Flur und konnte nun in die beiden Schlafzimmer sehen. Beide Räume sahen aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Alles war aus den Schränken gerissen, die Schubladen geleert, das Bettzeug lag verstreut am Boden. Hier hatte ganz offensichtlich jemand etwas gesucht. Aber von Elena keine Spur. Hektisch kramte Marta nach ihrem Telefon und rief zum zweiten Mal an diesem Sonntag ihren Chef an. Aber sie erreichte nur die Mailbox. »Ich muss die Polizei rufen«, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sie wusste nicht, wie. In ihrer Aufregung klopfte sie bei der Nachbarin, aber auch da gab es keine Reaktion. Im ersten Stock traf sie auf einen Mieter, der sich ihren aufgeregten, tschechisch-deutschen Bericht anhörte, mit ihr nach oben ging und danach sofort die Polizeidienststelle in Pirna alarmierte. Ihr Nachbar Lothar Eichler hielt Marta davon ab, zurück in die aufgebrochene Wohnung zu gehen und aufzuräumen. Er nötigte sie in seine Küche, stellte ihr einen Schnaps vor die Nase und redete beruhigend auf sie ein, bis endlich die Polizisten eintrafen.

Marta war zu diesem Zeitpunkt völlig aufgelöst. Deshalb dauerte es eine ganze Weile, bis klar war, dass es hier nicht nur einen Einbruch gegeben hatte, sondern dass auch die zweite Bewohnerin vermisst wurde. Marta gab zu Protokoll, dass sie am gestrigen Samstag noch mit Elena zusammen im »Zeughaus« gearbeitet hatte, dass diese heute Morgen aber nicht dort erschienen sei. Die Nacht von Samstag auf Sonntag habe sie in Sebnitz bei ihrem Freund verbracht. Martas Deutsch war holprig, weshalb die Beamten einige Zeit brauchten, um diese Informationen aus dem Kauderwelsch der geschockten jungen Frau herauszufiltern. »Wo Elena, wo?«, rief sie und »Alles kaputt!« beim verzweifelten Blick in ihr Zimmer. Da stand der aufgerissene Schrank, und all ihre Habe lag wie ausgespien auf dem Boden. Sie wollte hinein und aufräumen, schauen, was gestohlen worden war, aber die beiden Polizisten ließen sie noch nicht über die Türschwelle. Die Spurensicherung sollte sich den Tatort erst ansehen, ihn fotografieren und analysieren.

 

Inzwischen waren weitere Bewohner des Hauses auf den Trubel aufmerksam geworden und belagerten das Treppenhaus.

Erst nach über einer Stunde, in der Manni Tannhauser und sein Team der Spurensicherung ihre Arbeit erledigten und Abdrücke von den Türklinken, den herausgerissenen Schubladen und aufgebrochenen Gegenständen wie Martas kleinem Schatzkästchen mit ihren Ersparnissen nahmen, durfte sie ihre Sachen ordnen. Ihr Geld war weg, aber wenigstens ihre Papiere und das Kettchen mit dem goldenen Herzanhänger, ein Geschenk von Franjo, waren noch da. In Elenas Zimmer fehlte ebenfalls das gesparte Geld aus der Blechdose unter ihrem Bett. Wo Elena abgeblieben war, wusste Marta immer noch nicht. Ihre Sachen waren alle noch da, wenn auch wild verstreut in ihrem Zimmer. In der Küche herrschte das gleiche Chaos wie in den anderen Räumen, alle Schränke waren aufgerissen. Das Einzige, das Marta stutzig machte, war, dass eine Tube Alleskleber mitten auf dem Küchentisch lag. Aber das erwähnte sie den Polizisten gegenüber nicht.

Als sich die Beamten schon zum Gehen wandten, untersuchte Manni Tannhauser noch einmal das Schloss der Wohnungstür. Diese war nicht sehr massiv, sie war offenbar mit bloßer Körperkraft eingedrückt worden. Das Schloss hing noch halb in seiner Verankerung. Die Beamten hatten hier gleich zu Beginn Fingerabdrücke genommen. Manni Tannhauser, ein rundlicher Mittvierziger mit schütterem Haar, strich gedankenverloren über die billig furnierte Tür. »Wenn hier einer mit all seinem Gewicht gegen die Tür gerannt ist, müsste er eigentlich auch am Türblatt Spuren hinterlassen haben«, murmelte er mehr zu sich selbst als zu seinem Team. Er bückte sich, holte aus seinem Koffer die extra breite Klebefolie heraus und drückte sie flächendeckend gegen die Wohnungstür. Wenn beim Eindrücken Fasern an der Tür haften geblieben waren, würde er sie auf der Folie finden.

»Und ich?«, fragte Marta, die zitternd im Flur stand. »Was tun?« Polizeiwachtmeister Strohbach bat sie, zu Hause zu bleiben, jemanden anzurufen, der bei ihr bleiben könne, und ganz schnell dem Wohnungsbesitzer Bescheid zu geben, dass die Tür repariert werden müsse. »Der kleine Junge auf den vielen Fotos im Zimmer Ihrer Kollegin – ist das ihr Sohn?«

Marta nickte. »Ja, ist Marcin, Sohn von Elena. Lebt bei Großeltern in Tschechien.«

Strohbach lächelte ihr aufmunternd zu. »Bestimmt ist sie nach Hause gefahren. Für ihre Kinder tun Mütter die verrücktesten Dinge. Machen Sie sich keine Sorgen. Haben Sie die Familie von Frau Kupka schon angerufen?«

Marta schüttelte den Kopf. Sie wusste, dass Elena die Nummer in ihrem Adressbuch hatte, aber das musste sie in dem Chaos erst finden. Strohbach nickte ihr aufmunternd zu: »Rufen Sie an! Ich warte, ob Sie jemanden erreichen.« Marta nickte gehorsam. Sie stieg auf Zehenspitzen über Elenas verstreute Sachen, bis sie das Adressbuch fand. Ihr Handy war von den vielen Anrufversuchen während des Tages komplett ohne Strom. Sie zeigte es Strohbach. Der verstand und reichte ihr sein Telefon: »Versuchen Sie es damit!« Marta wählte mit zitternden Fingern, aber es ging niemand ran.

Strohbach hatte keine Zeit mehr zu warten. »Versuchen Sie es später noch mal, wenn Ihr Telefon wieder aufgeladen ist. Falls sie nicht zu Hause ist, rufen Sie uns an und geben Sie eine Vermisstenanzeige auf.«

Marta nickte, obwohl sie das Wort Vermisstenanzeige nicht verstanden hatte.

Martas Handynummer, die von ihrem Chef Hacker und die von der immer noch verschwundenen Elena Kupka nahm der Polizist mit. Sein Kollege hatte bei der Befragung der Nachbarn erfahren, dass es in der Nacht gegen zwei Uhr einen lauten Rumms gegeben habe, aber danach wieder alles ruhig gewesen sei. Der Nachbar, der unter der Wohnung der beiden Tschechinnen wohnte, hatte angenommen, dass etwas umgefallen sei. Stimmen seien nicht zu hören gewesen.

Die anderen Mieter hatten überhaupt nichts mitbekommen. Die Wohnung gegenüber gehörte einer jungen Frau, die noch bis nächste Woche im Urlaub war. Lothar Eichler hatte noch beobachtet, dass Elena am Samstagabend kurz vor sieben mit ihrem kleinen Auto weggefahren war. Er habe das gesehen, weil sein Küchenfenster direkt zum Parkplatz zeige. Und tatsächlich stand Elenas Wagen nicht da.

Eine Stunde, nachdem die Polizei gegangen war, erreichte Marta endlich Elenas Mutter. Marta wollte sie nicht beunruhigen und erzählte nichts von dem Einbruch, sondern fragte nur, ob Elena zuhause sei, weil sie heute nicht zur Arbeit erschienen sei. Elenas Mutter reagierte eher ärgerlich als besorgt: »Elena macht immer mal so Dummheiten, das sieht ihr wieder ähnlich. Wenn sie wieder auftaucht, sag ihr, dass eine Dummheit reicht und sie bald das Geld für Marcins Schulsachen schicken soll!«

»Geht es Marcin gut?«, fragte Marta ein wenig eingeschüchtert.

»Er ist ein verdammter Lausejunge! Wild und voller Dummheiten, wie Elena!« schimpfte es aus dem Telefon. »Gestern hat er sich mit Miroslav, dem Nachbarsjungen, geprügelt. Aber was rede ich? Richte Elena aus, sie soll mich anrufen, wenn sie zurück ist!« Elenas Mutter versprach, ihrerseits Bescheid zu geben, wenn Elena sich bei ihr melden sollte.

Marta schöpfte Hoffnung. Ihre Freundin würde morgen wieder da sein. Sie glaubte ganz fest daran. Aber eins musste sie noch tun: ihren Chef anrufen. Mit einem großen Seufzer kratzte sie ihren ganzen Mut zusammen und wählte seine Nummer. Stockend berichtete sie von dem Einbruch und dass Elena immer noch verschwunden sei, dass die Polizei da gewesen sei und dass sie morgen lieber Elena suchen würde als zu arbeiten. Hacker gab ihr frei und versprach, am Vormittag vorbeizuschauen.

Völlig erschöpft legte sich Marta danach auf ihr Bett und träumte düstere Träume von Elena.

Anastasia war wütend. Sie hatte einen Käufer und ein Zertifikat, aber keine Ware. Die Welt war so unzuverlässig! Man konnte wirklich niemandem mehr trauen.

Boris würde das nicht gutheißen. Bei dem Gedanken an ihn wurden ihre Gesichtszüge wieder weich. Sie kannte Boris gut. Er würde ihr keine Vorwürfe machen, nein. Er würde noch nicht mal laut werden. Das Schlimmste, das sie von Boris zu erwarten hatte, war dieses spöttelnde Mitleid in seiner Stimme und in seinen Augen. Sie hasste es. Viel lieber wäre ihr gewesen, wenn er sie angeschrien hätte. Sie wollte seine volle Aufmerksamkeit, nicht dieses lauwarme Verständnis.

In ihrem roséfarbenen Hausanzug und sehr eleganten, flachen Ballerinas umrundete sie ihren Schreibtisch. In jedem ihrer vier Zimmer hing ein Spiegel und der Blick in den neben ihrem Arbeitsplatz stimmte sie nicht fröhlicher. Nur zu Hause ließ sie sich so gehen, trug flache Schuhe, nur ganz wenig Make-up und bequeme Hosen. Falls Boris doch mal wieder bei ihr vorbeischauen würde, wollte sie gut aussehen. Heute würde er sicher nicht vorbeikommen, denn er war noch in New York bei einem reichen Sammler russischer Impressionisten. Boris würde herausbekommen, wonach diesem der Sinn stand, und sie, Anastasia, würde es besorgen.

Kritisch prüfte sie ihren Scheitel. Es wurde Zeit für den nächsten Friseurtermin. Ihre Haaransätze, die in Dunkelblond nachwuchsen, verrieten langsam, dass das kühle, helle Blond, das Boris so an ihr liebte, nicht ihre natürliche Haarfarbe war. Sie zwang sich, den Blick vom Spiegel abzuwenden und betrachtete die Fotos, die in eleganten, vergoldeten Rahmen um ihn herum hingen: Boris und sie in St. Petersburg, Boris, der sie in edler Designer-Robe zum Opernball in Wien führte, Boris und sie auf dem Empfang von Putin in Moskau, Boris und sie verliebt in dieser phänomenalen Jagdhütte in den Schweizer Alpen vor dem Kamin. Was waren sie doch für ein schönes Paar gewesen. Sie seufzte. Je älter sie wurde, desto aufwendiger wurde es, immer perfekt auszusehen. Andererseits war ihr für ein anerkennendes Nicken oder gar ein Kompliment von Boris keine Mühe zu groß.

Aber nun dieses Malheur! Sollte sie noch warten und hoffen, dass die Ware irgendwo auftauchte? Über eine gesicherte Verbindung schrieb sie ihren Kontaktmann Mikael in Moskau an und berichtete ihm, dass die Ware nicht angekommen sei. Mikael schrieb umgehend zurück: Habe eine Kopie vom Original. Willst du sie?

Anastasia lächelte. Das war typisch Mikael. Er hatte immer einen Hinterausgang. Das war die beste Lösung. Sie schrieb zurück, er solle die Kopie reservieren, sie würde jemanden schicken, sie abzuholen.

Es war nicht unbedingt nötig, Boris zu informieren. Sie würde das auch ohne ihn hinbekommen. Ein bisschen erschrak sie vor sich selbst, als sie das zu Ende dachte. Es wäre das erste Mal, dass sie ihm etwas verschwieg. Aber das war doch nur gerecht, oder etwa nicht? Wie konnte er hundertprozentige Loyalität erwarten, wenn er sie zu einer Randfigur in seinem Leben degradierte?

Grübelnd schaute sie auf die Lichter, die sich in der Elbe spiegelten. Dann zog sie die schweren Samtvorhänge zu und drehte dem Spiegel und den Fotos energisch den Rücken. Sie hatte zu tun.

Montag

»Samstagnacht wurde sie eingeliefert, sagen Sie? Name? Uhrzeit?« Die Dame an der Anmeldung der Klinik in Pirna-Sonnenstein war nervös. Ihre dick nachgezeichneten Augenbrauen flatterten hoch und runter wie Maikäferflügel. Jochen Marwitz starrte fasziniert auf ihre Stirn. Hinter ihm warteten noch acht andere Besucher.

»Keine Ahnung, wie der Name ist, aber Sie werden das schon rauskriegen. Jedenfalls gehört ihr das und ich lasse es hier bei Ihnen.«

Er stellte das große, in braunes Papier eingeschlagene Paket auf den Anmeldetresen und wandte sich zum Gehen.

»Aber ich kann das nicht annehmen, bringen Sie es doch bitte direkt der Frau, der es gehört«, protestierte sie. Ihre rechte Augenbraue erreichte den absoluten Höchststand, war das eine Stressreaktion? Jochen Marwitz riss seinen Blick los und sah ihr in die Augen.

»Nee, ich muss jetzt auf Arbeit.« Er schaute auf die Uhr und erschrak. »Bin spät dran. Tschüssi!« Mit wenigen Schritten war er durch die automatische Tür draußen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Frau hinter dem Empfangstresen aufstand und das unförmige Paket hinter den Tresen packte. Er war froh, die Verantwortung dafür los zu sein.

Marta Bolkova wachte nach einer sehr unruhigen Nacht vom Klingeln ihres Telefons auf. Noch schlaftrunken, aber voller Hoffnung nahm sie das Gespräch an und fragte: »Elena?« Aber sie wurde enttäuscht. Elenas Mutter war dran. Sie mache sich nun doch langsam Sorgen, erklärte sie Marta. Sei Elena immer noch verschwunden? Marcin vermisse seit zwei Tagen die Anrufe seiner Mami.

Sofort fühlte Marta wieder die ganze Last, die auf ihren schmalen Schultern lag. Sie konnte nicht zu Hause bleiben und warten, was passierte. Sie musste aktiv werden.

»Ich suche Elena«, versprach sie. Kaum war sie angezogen, klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es ihr Chef. Ob Elena wieder aufgetaucht sei? Als er aus dem holprigen Tschechisch-Deutsch heraushörte, dass es immer noch kein Lebenszeichen von ihr gab, bat er sie, bei Elenas Eltern anzurufen. Marta erzählte ihm, dass sie eben mit Elenas Mutter gesprochen hatte, die aber auch nicht wisse, wo ihre Tochter sei. Sie war nun wieder voller Angst, dass Elena etwas passiert sein könnte. Ihre Sorge griff langsam, aber sicher auch auf Peter Hacker über, der ankündigte vorbeizukommen und zwanzig Minuten später vor der Tür stand.

Marta hatte notdürftig aufgeräumt, was in der Zeit zu schaffen gewesen war, aber Elenas Zimmer war immer noch verwüstet. Peter Hacker inspizierte die eingedrückte Wohnungstür und rief sofort die Hausverwaltung an, um eine neue zu bestellen. Dann setzte er sich mit Marta an den Küchentisch und ließ sich genau erzählen, wann sie Elena zuletzt gesehen hatte. Das war anstrengend für Marta, die immer noch nach Worten suchen musste, aber sie konnte ihm klarmachen, dass sie Elena zuletzt am Samstagabend gesehen hatte, bevor sie von der Arbeit zu ihrem Freund nach Sebnitz gefahren war. Erst am Sonntagvormittag am »Zeughaus« hatte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Aber, so erinnerte sie sich, der Mann, der im Erdgeschoss wohnte, hatte Elena am Samstagabend noch mit dem Auto hier von ihrer Wohnung wegfahren sehen.

 

Hacker griff daraufhin zum Telefon und meldete Elena Kupka bei der Polizei als vermisst. Marta konnte ihm sogar das Kennzeichen von Elenas Auto nennen.

Ob Elenas Verschwinden mit dem Einbruch zu tun hatte? Marta konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer bei ihr und Marta einbrechen würde, zumal es ja wirklich nicht viel zu stehlen gab. War Elena in Gefahr? Oder auf der Flucht? Oder entführt? Hatte sie vielleicht auf dem Weg nach Hause in Tschechien einen Autounfall gehabt? Sie versuchte, Hacker in ihre sorgenvollen Gedankenspiele einzubeziehen. Er tätschelte ihr zur Ermutigung die Hand und gab ihr auch den Dienstag frei, bevor er sich verabschiedete.

Marta hielt es nicht in der geschändeten Wohnung. Sie packte ein paar Sachen zusammen und klebte die Wohnungstür notdürftig mit Klebeband am Türrahmen fest, damit sie nicht sperrangelweit offenstand. Dann schwang sie sich auf ihr kleines Moped und fuhr nach Sebnitz zu ihrem Freund Franjo. Er hatte versprochen, ihr bei der Suche nach Elena zu helfen.

Sandra war die Erste im Besprechungsraum. Sie ließ sich kraftlos auf einen Stuhl sinken und sortierte ihr Frühstück sorgfältig in eine Reihe. Nach und nach trudelten die anderen Mitarbeiter der Abteilung ein, am sehnlichsten erwartet wurde wie immer Sascha Pröve, der für Hackepeter und Brötchen zuständig war. Mit einem zufriedenen Gesicht platzierte er die Plastikdose mitten auf dem Tisch und öffnete sie. Der Duft des frischen Hackepeters verbreitete sich sofort im Raum. Es roch verführerisch gut. Sandra schluckte. Ihre Speicheldrüsen hatten immer noch nicht kapiert, dass sie und Olli entschieden hatten, vegetarisch zu leben. Eigentlich aß sie ja gern Fleisch, aber Olli und ihrem ökologischem Gewissen zuliebe verzichtete sie.

Kai Nolde und Uwe Kröger kamen heftig diskutierend in den Raum. Ihr aktueller Fall, ein schwerer Raub in Dresden-Klotzsche, beschäftigte sie offenkundig sehr. Danach trafen Richter, der Chef, und Frau Kerschensteiner ein. Nur Leo fehlte noch.

Jeden Montagmorgen traf sich die komplette Abteilung, um sich auszutauschen. Richter hatte das vor Jahren als Besprechung eingeführt und der Termin hatte sich zu einem beliebten gemeinsamen Frühstück entwickelt. Leo hatte allerdings von Anfang an den Hackepeter verweigert. Er brachte sich stets eine Leberkäse-Semmel mit und da Sandra seit einem halben Jahr vegetarisch lebte, verzichtete auch sie. Auf ihren Teller hatte sie ein glänzendes Tofu-Würstchen drapiert.

Leo kam als Letzter angeschlendert und packte seelenruhig seine Semmel aus der Alufolie, während sich die anderen an Brötchen und Hackepeter bedienten.

Richter bat Uwe Kröger, einen Bericht über die laufenden Ermittlungen zu geben, und der legte los. Der Rest der Abteilung hörte kauend zu.

Als die Reihe an Leo war, räusperte er sich, legte die halb aufgegessene Semmel weg und berichtete kurz und knapp von der unbekannten Toten aus dem Klinikum in Pirna. Er sei zuversichtlich, dass ihre Identität in Kürze geklärt werde, meinte er trocken und biss wieder in sein Brötchen.

»Wusstest du, dass einhundert Gramm Leberkäse mindestens dreihundert Kalorien haben? Das Zeug macht dich fett!« Sandra musste ihn jetzt einfach provozieren. Leo schaute auf und betrachtete seine Leberkäse-Semmel und dann die Tofuwurst auf ihrem Brötchen.

»Tofuwurst hat fast genauso viele, weißt du das auch? Jedenfalls enthält dein Würstchen mehr Kalorien als ein Hackepeter-Brötchen!«

Sascha horchte auf. »Ach ja? Na, dann genehmige ich mir gleich noch eins.« Er angelte sich das nächste Brötchen aus dem Korb und langte nach der Hackepeter-Dose.

»Wir sollten eigentlich lieber Kühe statt Schweine essen. Allein letztes Jahr gab es achttausend Unfälle mit Rindern, und einige endeten sogar tödlich«, grummelte Leo mit Blick auf seine Leberkäse-Semmel. Diese bösartige Gundi wäre in einem Fleischklops am besten aufgehoben.

Reinhard Richter ignorierte die Konversation und kam zum nächsten Punkt.

»Wie Sie inzwischen alle wissen sollten, gibt es einen Fortbildungskurs für Operative Fallanalyse, also das, was der Laie üblicherweise Profiling nennt. Hat jemand von Ihnen Interesse? Die Anmeldefrist läuft noch bis Ende der Woche, aber ich möchte doch noch einmal darauf hinweisen, dass Sie das mit mir absprechen sollten. Der Kurs umfasst mehrere Termine, verteilt über dieses und das nächste Jahr.« Er schaute aufmerksam in die Runde.

»Das hatten wir zu DDR-Zeiten schon, das ist kalter Kaffee«, grummelte Uwe Kröger. »Das hieß damals Versionsbildung. Und nun verkaufen sie uns den alten Mist als die neue Wunderwaffe aus Amerika.«

Reinhard Richter nickte ihm zu. »Das ist schon richtig, aber die Methode wurde von deutschen Kriminalbeamten und Kriminologen fundiert weiterentwickelt.«

Sandra hob die Hand: »Ich würde mich dafür interessieren.«

Richter nickte.

»Noch jemand?«

Zu Sandras Erstaunen meldete sich auch Leo. »Ich hätte auch Interesse«, sagte er und sah gar nicht fröhlich dabei aus. Aber das war wohl nur ihr aufgefallen.

»Reisinger?« Richter sah ihn erstaunt an. »Dann werden Sie Ihren Dienst bei uns um mindestens ein Jahr verlängern müssen. Ich dachte, Sie möchten so schnell wie möglich zurück nach Bayern?«

Leo sah in die Runde: »Ich bleibe euch noch ein bisschen länger erhalten, wenn das okay ist.« Sascha holte sofort aus und klatschte ihm die Hand auf den Rücken. »Du wirst dir noch die Ehrenbürger-Medaille von Dresden verdienen!« Kai Nolde, Uwe Kröger, selbst Richter – alle nickten wohlgefällig. Doch Sandra fühlte mit Leo. Sie konnte sich nicht so recht über die Verlängerung seines Aufenthaltes freuen, hieß das doch, dass Leos Privatleben, seine Beziehung mit Veronika, wieder auf Eis gelegt war. Sie hatte nach seinem Anruf am Samstag angenommen, dass es sich nur um eine kleine Meinungsverschiedenheit handele, die schnell wieder aus der Welt zu schaffen sei. Aber sie fühlte sich nicht imstande, ihm etwas zu raten. Seit Olli ihr gestern Abend am Telefon eröffnet hatte, dass ihm in Abu Dhabi ein Jobangebot unterbreitet worden war, erschien ihr ihre eigene Zukunft ebenfalls wieder völlig offen.

Jochen Marwitz war ein eher schweigsamer Typ, aber zu dieser montäglichen Mittagspause hatte er seinen Kollegen eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen. Er schilderte detailgenau, wie er am Samstagabend kurz vor Mitternacht den Notruf gewählt und dann mit seiner Frau bei der Ohnmächtigen im Bahnhof von Bad Schandau ausgeharrt hatte. »Die waren so was von schnell da, da kann man echt beruhigt sein, dass das in Deutschland so gut klappt.« Sein Kollege Nehmke hatte natürlich, wie immer, auch eine Notruf-Geschichte auf Lager, aber die war schon zehn Jahre alt und insofern nur halb so interessant wie seine eigene.

Als die Pause schon fast vorbei war und die ersten ihre Brotdosen wegpackten, kam von der rechten Ecke des Tisches ein besorgtes »Oh nee!«

Sein Kollege stand auf und legte Jochen Marwitz die Zeitung vor die Nase: »Da, lies!«

»Unbekannte erliegt ihren Verletzungen«: Im Polizeibericht vom Wochenende erwähnte die Sächsische Zeitung eine junge Frau, die Samstagnacht in Bad Schandau aufgefunden und in die Pirnaer Klinik eingeliefert worden sei. Dort sei sie an ihren inneren Verletzungen verstorben, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Noch sei ihre Identität ungeklärt, die Polizei suche nach Angehörigen. Bei der Unbekannten handele es sich um eine junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?