Mordskunst im Elbtal

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Mit Ollis Hemd über den Arm ging sie wieder nach oben. Sie würde den Dieb entlarven, das war schließlich ihr Beruf.

Samstag

Ihr Streit war heftig gewesen. Leo warf seine Reisetasche auf die Rückbank seines VW und stieg ein, ohne sich noch mal umzudrehen. Ob sein Brustkorb wegen der gequetschten Rippe oder aus Enttäuschung schmerzte, konnte er nicht sagen. Langsam rollte er vom Hof. Veronika hatte ihm vorgeworfen, keine Rücksicht auf ihre Gefühle zu nehmen. Im letzten Oktober hatte sie drei Tage lang um sein Leben gebangt. Seither wollte sie ihn davon überzeugen, dass er sich einen neuen Beruf suchte. Das war einfach lächerlich! Immerhin hatte gestern eine Kuh versucht, ihn umzubringen. Das Leben auf einem Bauernhof war mindestens genauso gefährlich wie sein Leben als Kriminalkommissar. Er arbeitete gern bei der Kripo, er hatte sich diesen Job ausgesucht, und er würde auch Onkel Josef nicht enttäuschen, seinen Onkel, der ihn durch seine eigene Karriere als Polizist auf die Idee gebracht hatte, diesen Beruf zu ergreifen. Veronika verlangte eindeutig zu viel, oder nicht? Er hatte die Nase voll davon, dass ihm immer eine Frau sagte, was gut für ihn sei. Erst seine Mutter und seine Oma, dann Veronika. Sie hatten die halbe Nacht gestritten, es hatte keine zärtliche Versöhnung gegeben. Er hatte ein paar Stunden auf dem Sofa in Veronikas Wohnzimmer nach Schlaf gesucht und war ein paarmal eingenickt, aber am Morgen um halb sechs Uhr, als Veronika aufgestanden war, um in den Stall zu gehen, hatte ihn nichts mehr gehalten. Er war noch kurz bei seiner Mutter und Oma in Mammendorf vorbeigefahren und befand sich nun, einen Tag früher als geplant, auf dem Weg nach Dresden.

Mit jedem Kilometer, den er seiner Wahlheimat näherkam, fiel der nagende Ärger von ihm ab. Sein analytischer Verstand fand immer mehr gute Argumente für seine Entscheidung, nach Veronikas Drohung erst einmal auf Distanz zu gehen.

Samstagvormittag um halb elf Uhr. Konnte er da seine Kollegen anrufen? Leo probierte es.

»Sandra Kruse«, schallte es etwas verrauscht aus den Lautsprechern, als er auf die A72 Richtung Chemnitz abbog.

»Hallo Sandra, melde mich zurück zum Dienst. Habe die Nase voll vom Landleben«, rief er gegen die Windschutzscheibe.

»Na, was soll ich denn davon halten? Der Bayer hat Sehnsucht nach uns ollen Sachsen«, feixte sie ins Telefon. »Sei mal bloß froh, dass dein zukünftiger Schwager nur eine Woche verreist ist. Das nächste Mal darfst du wahrscheinlich Kälbchen auf die Welt helfen und Schweine schlachten.«

»Du glaubst gar nicht, wie Recht du hast«, grummelte Leo und berichtete von Veronikas Plänen, einen Hofladen zu eröffnen.

»Mensch, das klingt doch toll, so viel ökologisches Bewusstsein hätte ich ihr gar nicht zugetraut.«

»Sie will, dass ich meinen Beruf an den Nagel hänge und die Käseproduktion übernehme.«

Sandra ließ eine lange Pause, bevor sie antwortete:

»Manchmal muss man vielleicht genauer hinschauen, bevor man eine Idee verwirft. Ich mache mir bei so was immer Pro- und Contra-Listen. Am Ende hast du schwarz auf weiß, was dafür und was dagegen spricht.«

Leo schüttelte unwillig den Kopf. »Sandra, ich bin Kriminalkommissar geworden, weil ich das wollte. Keiner hat mich gezwungen. Ich mache das gern, und ich sehe viel Sinn darin, die Welt durch meine Arbeit ein wenig ins Gleichgewicht zu bringen. Ich werde nie, nie, nie in meinem Leben Käse produzieren und in einem Bioladen Dinkelkleie verkaufen!«

»Bingo. Ich sag Frau Kerschensteiner Bescheid, dass du ab morgen wieder verfügbar bist.« Sandra klang erleichtert. »Übrigens treffe ich Sascha morgen um zehn Uhr im Café Sperling zum Frühstück. Das ist gleich bei dir in der Nähe. Komm doch mit!«

Leo willigte gern ein. Das Café lag am oberen Ende der Alaunstraße, höchstens zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt. Normalerweise war er nicht sehr erpicht darauf, seine engsten Kollegen auch noch am Wochenende zu treffen, aber nachdem er nun eine Woche Urlaub gehabt hatte, sehnte er sich förmlich nach Sandras schnippischer Art und Saschas ausgleichender Gemütlichkeit. Knapp zweihundert Kilometer trennten ihn noch von Dresden.

So viele alte Häuser auf einmal hatte Katie noch nie gesehen. Fasziniert wanderte sie durch die Fußgängerzone von Pirnas Innenstadt und bewunderte die barocken Hauseingänge mit den Sitzsteinen und die reich verzierten Torbögen. Manchmal erhaschte sie einen Blick in pittoreske Innenhöfe oder in ein uraltes Gewölbe. Die Sonne schien warm von einem blauen Frühlingshimmel, die Farben leuchteten im Licht und ein leichter Wind ließ die jungen Blätter in den Bäumen zittern. Immer wieder zückte sie ihr Smartphone, um für ihre Mutter zu Hause in Minneapolis ein Foto zu machen. Schließlich landete sie am Marktplatz, der allerdings großräumig abgesperrt war.

»Was ist hier los?«, fragte sie in ihrem holprigen Deutsch einen Passanten, der sehr merkwürdig, weil sehr altmodisch angezogen war. Trug man das in Deutschland auf dem Land? Samtjacken und Spitzenkragen? Katie wunderte sich.

»Nu, heute stellen wir den Ganaleddo nach«, sagte der Mann und eilte weiter. Katie kramte in ihrem deutschen Vokabular nach Ganaleddo, konnte aber nichts Derartiges finden. Dieses Wort hatte sie noch nie zuvor gehört. Was bedeutete es? Sie folgte dem Mann bis zur Absperrung, hinter der sich zahlreiche weitere altertümlich angezogene Menschen von einem Mann mit Megafon in die richtige Position bringen ließen. Katie ahnte, dass das Schauspieler waren, und schaute gebannt zu. Immer mehr Publikum bevölkerte den Platz und verfolgte die Inszenierung. Katie bewunderte inzwischen die alten Giebel, die verzierten Fensterrahmen und Türstöcke der Häuser am Marktplatz und das alte Rathaus, das wie ein Schiff im Meer mitten auf diesem großen Platz thronte. Ihr gegenüber reckte ein Haus ein sehr hohes, spitzes Dach mit Fensteröffnungen, die wie kleine Augen von der großen Schräge herabschauten, in den wolkenlosen Himmel. In dem Gebäude war, wie Katie erkannte, die Touristeninformation untergebracht. Ob sie sich dahin durchschlagen sollte, um zu erfahren, was hier los war?

Sie beschloss, linker Hand um das Rathaus herumzugehen, und drängelte sich durch die dichter werdende Menschenmenge hindurch zum Tourismusbüro.

Dort klärte eine Dame sie darüber auf, dass heute in Pirna der Canaletto-Blick inszeniert werde. Vor einigen Jahren habe ein Verein von Pirnaer Bürgern beschlossen, einmal im Jahr das berühmte Bild des italienischen Malers Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, nachzustellen. Sie zeigte Katie das Bild, das als Kopie im Eingangsbereich des Tourismusbüros hing. Katie war beeindruckt. Sehr viel hatte sich seit dem Jahr 1753, in dem es gemalt worden war, nicht verändert. Die Kirche, das Haus, in dem sie gerade stand, die Fassaden links gegenüber dem Rathaus – alles sah heute fast noch genauso aus wie auf dem Gemälde. In ihrem Heimatland war zu jener Zeit der Siebenjährige Krieg zwischen den beiden Kolonialmächten Frankreich und England ausgebrochen, die USA gab es noch gar nicht. Und hier stand sie vor Häusern, die schon alt waren, als Canaletto sie damals gemalt hatte! Katie drückte dankbar das Fotoalbum ihres Onkels an ihre Brust. »Onkel Jakob, wie schade, dass du das nicht mehr sehen kannst«, murmelte sie. Sie machte sich wieder auf den Weg auf die gegenüberliegende Seite des Platzes und reihte sich in die Zuschauer ein. Der Mann, der die Statisten auf ihre Plätze dirigierte, war offenbar zufrieden. Er lieh sich von Zuschauern noch einen Hund aus, den er neben den Brunnen platzierte, dann war die Inszenierung fertig und Hunderte von Fotoapparaten und Handys klickten, auch Katies.

Mit allen Sinnen nahm sie die barocke Idylle des Platzes in sich auf, die Menschen, diese Mauern, die schon so viel Geschichte erlebt hatten. Schließlich löste sich die Szene auf. Die Statisten begannen, sich wieder zu bewegen. Frauen mit langen Röcken und Hauben auf dem Kopf gingen ihres Weges, die zwei Reiter lenkten ihre Pferde in gemessenem Schritt vom Platz. Katie atmete tief durch und schlug das Fotoalbum von Onkel Jakob auf. Es zeigte zwar einige Ansichten von Pirna, aber keine vom Marktplatz. Sie konnte auf einem der kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, die wohl um 1932 entstanden waren, ein sehr altes Haus erkennen. »Das Tetzelhaus« stand in für sie fast unleserlicher Schrift darunter.

Die nächste Station im Fotoalbum war das »Haus Bergkaiser«. Ihr Onkel hatte da wohl einen guten Freund gehabt, denn er hatte nach seinen Erzählungen dort bei dem Kaufmann Heinrich Ziegenbarth viel Zeit verbracht. Das Foto zeigte eine prächtige Jugendstil-Villa mit floralen Verzierungen und verspielten Türmen, runden Fenstern und verschachtelten Balkonen auf mehreren Stockwerken. In ihrer Kindheit hatte Katie von diesem Haus immer als dem Haus der Prinzessinnen und Feen geträumt. Sie nahm den Stadtplan aus der Tasche und orientierte sich.

Gottlöber war zufrieden mit seiner Arbeit. Das Blatt sah täuschend echt aus. Sogar der Porzellan-Papst Eduard Mocke würde die Echtheitsbescheinigung wieder schlucken, wie schon einige vorher. Ein siegessicheres Lächeln spielte um seinen Mund. Wenn er sich richtig Mühe gab, konnte er Großes vollbringen, das war ihm durchaus bewusst. Die Schrift hatte er wieder exzellent hinbekommen. Die Vorlage aus dem Archiv mit den Briefen von Dr. Gillitzer benutzte er inzwischen nur noch, um sich in die richtige Stimmung zu versetzen.

Er ließ das Dokument auf sich wirken – das steife, fleckige Papier, die großmäulige Schrift des sächsischen Kunsthistorikers Gillitzer – und fühlte sich zurückversetzt ins 19. Jahrhundert. Er stellte sich vor, wie Gillitzer mit gestärktem Kragen und langem Bart an seinem Schreibtisch saß und die Echtheit der Porzellanfiguren und Vasen aus der Sammlung Seidl bestätigte. Severin Seidl war in der Gründerzeit mit seiner Maschinenfabrik zu immens viel Geld gekommen und hatte dieses großzügig in Kunst investiert. Vor allem das Meissener Porzellan hatte es ihm angetan: »Sein Haus mit echtem Gold zu schmücken, ist dekadent. Ich bevorzuge das Weiße Gold.« Dieser Ausspruch wurde ihm zugeschrieben, und den Quellen zufolge hatte er seine Villa am Weißen Hirsch, dem Elbehochufer in Dresden, mit vielen wertvollen Porzellanen und Figuren ausstaffiert. Nach seinem Tod hatte seine Tochter Ruth die Villa geerbt, aber sie und ihr jüdischer Ehemann konnten sich nicht lange an der Pracht freuen. Kurz nach der Pogromnacht im November 1938 flohen sie Hals über Kopf nach Amerika.

 

All das wusste Gottlöber von Anastasia, die geradezu frohlockt hatte, dass sie diese Geschichte wie ein Trojanisches Pferd für die illegalen Importe aus Russland einsetzen konnte. Die Schätze aus der Villa Seidl waren nach der Flucht der Seidl-Erbin angeblich sicher eingelagert worden, aber bislang war nur ab und zu ein Einzelstück aufgetaucht. Man nahm an, dass sich erst die Nazis und später die Russen ungeniert an den wertvollen Figuren, Tafelaufsätzen und Geschirren bedient hatten.

Gillitzer war ein ebenso glühender Sammler wie Seidl gewesen, nur deutlich weniger betucht als der schwerreiche Industrielle. Gottlöber war sich sicher, dass Gillitzer bis zum Umfallen neidisch auf Seidl und seine Sammlung gewesen war. Seidl hatte den Kunsthistoriker noch zu Lebzeiten beauftragt, Echtheitszertifikate für all seine Stücke zu erstellen. Diese Zertifikate aus Gillitzers Feder waren jedoch genauso verschwunden wie die wertvollen Porzellane. Dafür war Raffael Gottlöber dankbar. Den typischen Schwung seiner Handschrift konnte er inzwischen perfekt nachahmen und er verdiente gut daran.

Er hatte Gillitzer regelrecht inhaliert. Er konnte fühlen, wie der Neid und der Ärger über seine Arbeit an dem Mann genagt hatten, wie verächtlich er dem Besitzer all der wunderbaren Reichtümer, die er klassifizieren und bewerten sollte, begegnet war. Der Mann war gierig gewesen, genau wie er selbst. Allerdings gierte Gillitzer nach Porzellan, und damit nach etwas, auf das Raffael Gottlöber gut und gerne verzichten konnte. Seine Passion war eine ganz andere.

Ganz wie es in der damaligen Zeit üblich war, schrieb er mit einer goldenen Feder und mit selbst gerührter Eisengallus-Tinte. Nach dem Schreiben streute er ein wenig weißen, feinen Sand über das Papier. Damit war das Zertifikat fertig. Anastasia würde ihm dreihundert Euro dafür geben, ein guter Stundenlohn. Raffael Gottlöber verspürte Lust, nach der Lohnarbeit auch noch etwas für seinen Ruhm zu tun.

Sein Handgelenk war gelockert, sein Geist war frei und lebhaft, alles in ihm bettelte förmlich darum, sich kreativ auszudrücken. Er nahm das gefälschte Zertifikat und schob es unter die noch leeren Blätter seiner Spezialpapiere aus dem 19. Jahrhundert. Dann verschloss er die kostbare alte Tinte und holte sich seinen Lieblingsstift und einen neuen, blütenweißen Papierbogen auf den Tisch. Mit großen, kühnen Strichen, so wie bei Gillitzers Handschrift, warf Gottlöber sein Motiv aufs Papier: einen großen Vogel, der einem griesgrämigen Mann auf der Schulter saß und versuchte, dessen Ohrring zu klauen.

Gottlöber klopfte sich selbst auf die Schulter und kicherte, als er in den Zügen des Mannes sich selbst erkannte. Ja, die steile Falte auf der Stirn, das zu lange, über die Schultern fallende Haar, die weit auseinander stehenden Augen – das war eindeutig er selbst. Die Zeichnung war ihm gelungen, er sah es sofort. Die Proportionen stimmten, jeder Strich saß. In der Haltung des Vogels kam die Gier nach dem Ring zum Ausdruck. Er war ein großer Künstler. Hochzufrieden mit sich selbst dekorierte er die neue Zeichnung in seinem Schaufenster. Für heute hatte er eindeutig genug gearbeitet.

In seiner Hosentasche hatte er den Vorschuss von Anastasia. Es waren zwar nur einhundert Euro, aber doch genug für ein Abendessen und die Chance, in einer Poker-Runde noch ein paar Euro zu gewinnen. Gottlöber kannte jedes Etablissement in Dresden, in dem gespielt wurde. Er knipste das Licht aus, zog sich seine Jacke an und machte sich auf den Weg.

»Kann ich gehen, Elena?« Marta trat in der Gaststube ungeduldig von einem Bein aufs andere und sah ihre Kollegin erwartungsvoll an. Mit einem Blick auf die Uhr, es war zehn vor sieben, nickte Elena und beugte sich wieder über den Getränke-Kühlschrank im Gasthaus »Zeughaus«. Marta sollte ihr Gesicht nicht sehen. Elena wollte sich nicht verraten. Lügen war noch nie ihre Sache gewesen.

»Danke, Elena!« Marta warf ihr ein Kusshändchen zu und war schon zur Tür hinaus. Erleichtert richtete sich Elena auf. Sie hörte, wie Marta draußen ihr Moped, eine Schwalbe, anließ und mit leiser werdendem Motorengeräusch auf der Zeughausstraße verschwand. Marta besuchte nicht nur seit Beginn der Saison einmal in der Woche einen Deutschkurs, sie war auch frisch verliebt und verbrachte die Abende seither mit ihrem neuen Freund Franjo. Deshalb hatte sie es immer eilig, wegzukommen. Im Gegensatz zu ihr.

Elena überprüfte die Fensterriegel und schloss die Türen ab. Als sie vor die Haustür trat, umgab sie die Stille des Waldes kurz vor der Dämmerung. Die Sonne würde erst gegen zwanzig Uhr untergehen, aber hier, im Zschand, umgeben von Wald und hohen Sandsteinwänden, wurde es deutlich früher dunkel. Das Haus des Nationalparks, ein Informationszentrum für Wanderer, stand verschlossen links von ihr, das dritte Haus gegenüber war ebenfalls verlassen. Kein Laut war zu hören, nur das Rauschen des Waldes lag wie ein Teppich über der Landschaft. Völlig ohne Besucher wirkte die Waldlichtung am Ende der Schotterstraße wie aus der Zeit gefallen.

Elena suchte in ihrer Jackentasche nach dem Schlüssel. Schwer und kalt lag er in ihrer Hand. Nachdem sie sich nochmals vergewissert hatte, dass sie völlig allein war, ging sie in schnellen Schritten los, den Großhübelweg hinauf, hinein in den dunklen Wald. Nach wenigen Hundert Metern begann der Pfad anzusteigen. Der Frühlingsregen machte den Weg glitschig. Sie musste aufpassen, wohin sie trat. Und es wurde ihr schnell warm. Elena öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke, drosselte ihr Tempo aber nicht. Abends allein durch den Wald zu laufen war unheimlich. Obwohl sie diese Route schon oft gegangen war, schauderte es ihr jedes Mal aufs Neue. Wenn sie hier ausrutschen und sich ein Bein brechen würde – vor morgen früh würde sie niemand finden. Keuchend stieg sie den steingepflasterten, steilen Weg nach oben. Oberhalb des Hügels leuchtete der Himmel hell. Hinter ihr versank der Wald im Schatten.

Schließlich war sie fast oben. Rechts und links ragten riesige Sandsteinblöcke aus dem Boden. Elena spähte angestrengt in alle Richtungen. War sie allein? Als sich ihr Atem beruhigt hatte, verließ sie den Weg und umrundete einen der Felsblöcke, bis sie an seiner Rückseite angekommen war.

Nach wenigen Augenblicken stand sie wieder auf dem Pfad. Diesmal war es ein leichtes Paket, eingeschlagen in braunes Packpapier. Zigaretten, nahm Elena an, aber eigentlich war es dafür zu unförmig, es erinnerte an ein großes Ei.

Plötzlich riss ein Eichelhäher mit seinen Warnschreien die Stille entzwei. Elena schrak kurz zusammen, aber außer ihr war niemand zu sehen. Hastig drückte sie sich das Paket vor den Bauch und machte sich auf den Weg zurück zum »Zeughaus«.

Schon kurz nachdem sie im letzten Jahr begonnen hatte, im dortigen Gasthaus als Bedienung zu arbeiten, hatte sich ihr eine zweite Einnahmequelle aufgetan. Eine Frau hatte sie diskret angesprochen und ihr angeboten, für jeweils einhundert Euro eine Besorgung zu machen: »Sie holen ein Paket ab, steigen in Bad Schandau in die S-Bahn, legen es in Dresden am Hauptbahnhof in ein Schließfach und finden da das Geld. Es ist wirklich ganz einfach. Wir bringen ein paar kleine Sachen über die Grenze. Machen Sie sich keine Sorgen: Wenn Sie es halbwegs geschickt anstellen, wird niemand etwas mitbekommen. Das ist leicht verdientes Geld.«

Das war es. Seither hatte Elena dreiundzwanzig Pakete abgeholt, also zweitausenddreihundert Euro zusätzlich verdient. Dieses Geld sparte sie eisern für Marcin, ihren fünfjährigen Sohn. Er brauchte immer etwas. Ständig wuchs er aus seinen Kleidern und Schuhen heraus, und wenn er erst in die Schule kam, würde sie nicht zulassen, dass er in alten, unmodernen Sachen herumlaufen musste. Ihre Mutter, bei der Marcin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Prag aufwuchs, hielt es für Unsinn, ein Kind mit Markenjeans und modernen Jacken und Sweatshirts zu kleiden. Aber wenn er schon den ganzen Sommer auf sie, seine Mama, verzichten musste, dann sollte er nicht auch noch all die Sachen entbehren, die andere Kinder bekamen: Spielsachen, ordentliche Kleidung, ein Fahrrad. All das kostete Geld. Sie verdiente als Bedienung in Deutschland besser als zu Hause in Tschechien, aber es reichte trotzdem gerade so, um die wichtigsten Dinge zu bezahlen. Miete, Essen, Kleidung, das Auto, der Lebensunterhalt für Marcin und die Unterstützung für ihre Mutter. Sie hatte nicht viel Spielraum.

Elena hastete den steinigen Weg hinunter. Sie dachte immer an Marcin, wenn sie ein Paket abholte, und freute sich darüber, dass sie wieder einen Schein für die Spardose bekommen würde. Warum diese kleinen Transporte so geheimnisvoll ablaufen sollten, wenn es sich doch nur um Schnaps und Zigaretten handelte, war Elena ein Rätsel. Sie hatte nie eines der Pakete geöffnet. Mit einem Auto hätte man deutlich mehr Ware über die tschechische Grenze transportieren können, als sie das vermochte. Aber es konnte ihr egal sein. Hauptsache, sie bekam ihr Geld.

Kurz bevor sie wieder auf den Wanderweg einbog, rutschte Elena auf einem moosigen Stein aus. Weil sie das Paket mit beiden Händen hielt, konnte sie sich nicht richtig abfedern und stürzte unglücklich auf das braune Ei. Sie spürte einen heftigen Schlag unterhalb des linken Rippenbogens, und kurz blieb ihr die Luft weg.

Angesichts der Panik, die in ihr ausbrach, vergaß sie ihre Schmerzen aber sehr schnell. Irgendwas im Paket war zerbrochen. Sie konnte es hören, sie konnte es sehen, sie hatte es gespürt, als sich etwas Hartes unter ihre Rippen bohrte. Was auch immer im Paket war – wenn sie es nicht heil ablieferte, würde sie bestimmt nie wieder einen Auftrag bekommen!

Elena rappelte sich mühsam auf, hob das Paket hoch und war fünf Minuten später an ihrem kleinen Auto. Sie legte das Paket auf die Rückbank und setzte sich ans Steuer. Ihre linke Seite schmerzte immer noch, sie war nervös und fühlte sich schlecht. Im Rückspiegel schaute ihr ihr blasses Gesicht entgegen. Halblange, dunkelblonde Haare, wasserblaue Augen, hohe Wangenknochen. Sie war keine Schönheit, aber mit ihren sechsundzwanzig Jahren eine voll erblühte, attraktive Frau, die in ihrem Leben noch viel vorhatte. Jetzt allerdings war ihr Gesicht von Augenringen gezeichnet, und ein schmerzvoller Zug umgab ihren Mund.

Sie konzentrierte sich auf die Schotterstraße und machte sich auf den Weg. Zunächst musste sie einen für den Verkehr gesperrten Wanderweg entlangfahren. Trotz der Sondergenehmigung, die sie besaß, fühlte sie sich immer unbehaglich, wenn ihr spät noch Wanderer begegneten. Sie fuhr vorsichtig und langsam. Dafür ging es in ihrem Kopf drunter und drüber. Sollte sie das Paket aufmachen und nachsehen? Das war ihr eigentlich verboten. Die Order hieß: »Sie nehmen das Paket aus dem Versteck, bringen es sofort nach Dresden und legen es dort ins Schließfach. Keine Verzögerungen!« Was würde passieren, wenn sie eine kaputte Sendung ablieferte? Elena brach der Schweiß aus. Sie hatte keine Telefonnummer, keinen Ansprechpartner. Bisher war alles reibungslos abgelaufen, wie in einem Uhrwerk. Sie konnte niemandem erklären, wie es passiert war. Ihre linke Seite tat weh, aber sie ignorierte den Schmerz.

Bis vor zur Neumannmühle, wo die Zeughausstraße auf die Bundesstraße einmündet, fuhr Elena langsam. Was tun? Sie beschloss, das Paket zuhause zu öffnen und nachzusehen, ob sie etwas reparieren könne. Im Kirnitzschtal gab sie Gas.

Zwanzig Minuten später stand sie in Bad Schandau vor dem Mietshaus, in dem sie während der Saison mit Marta eine kleine Wohnung bewohnte, und hob das Paket von der Rückbank. Sie fühlte sich nicht gut, beinahe war ihr schwindelig. Das musste von dem Schreck kommen, beruhigte sie sich.

Sie schleppte sich mühsam in den zweiten Stock, legte das Paket auf den Küchentisch, löste vorsichtig die Klebestreifen und war erstaunt, auf eine dicke Schicht Schaumgummi zu stoßen. Je mehr von dem Polstermaterial sie entfernte, umso kleiner wurde der Gegenstand. Schließlich sah sie, was zerbrochen war. Kurz presste sie die Hand auf ihren schmerzenden Oberbauch, dann holte sie energisch den Alleskleber aus dem Küchenschrank.

 

Am späten Nachmittag war Leo wieder in seiner Dresdner Wohnung in einem Hinterhaus der Alaunstraße. Er packte seine Reisetasche aus, checkte den Inhalt seines Kühlschranks und setzte sich dann resigniert aufs Bett. Auf seinem Nachttisch stand ein Foto von Veronika und ihm. Glücklich und eng umschlungen lachten sie gemeinsam in die Kamera. War das jetzt das Ende ihrer Geschichte? Die Auseinandersetzung ließ ihn nicht los. Er hätte gern mit jemandem geredet, aber mit wem?

Michi, sein bester Freund, hielt ihn für komplett verrückt, weil er vor einem Jahr nach Dresden gegangen war. Der würde genauso wenig einen Schritt aus seiner Heimatstadt Fürstenfeldbruck heraus setzen. Dabei, so rechtfertigte sich Leo im Geiste, kam die Welt mit Stubenhockern nicht voran. Es brauchte Menschen, die ihren Radius erweiterten!

Sein Kollege Sascha, mit dem er sich für gewöhnlich sehr gut verstand, lebte gemeinsam mit seiner Mutter in der elterlichen Wohnung und würde völliges Verständnis dafür haben, dass Veronika bei ihrer Familie bleiben wollte. Niemand, so mutmaßte Leo, würde seine Position verstehen. Dabei fühlte es sich für ihn so richtig an, in Dresden zu sein.

Er nahm das Foto in die Hand, streichelte zärtlich darüber und legte es dann in die Schublade.

Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit rief er seine Mutter an, um seine Ankunft zu vermelden. Er wollte nicht, dass sich jemand um ihn Sorgen machte.

»Es geht mich ja nichts an, aber du und Veronika …« Leo unterbrach sie.

»Genau, Mama, es geht dich nichts an.« Er war sich sicher, dass sie Veronikas Position verteidigen würde und ihn zum Heimkehren überreden wollte. Erstaunlicherweise tat sie das Gegenteil.

»Ich wollte dir nur sagen, dass es eine gute Entscheidung von dir war, nach Dresden zu gehen. Onkel Josef sagt auch, dass es dir guttut, endlich ganz auf eigenen Füßen zu stehen. Am Anfang fand ich es schlimm, aber jetzt fühle ich mich auch ein bisschen befreit, in einem positiven Sinne.«

Sie erzählte ihm, dass sie sich seit ein paar Wochen mit einem Witwer aus Augsburg treffe. Leo musste sich hinsetzen. Deshalb also die neue Frisur! Und dass seine Mutter neuerdings hohe Absätze trug, hatte er zwar registriert, aber nicht hinterfragt.

»Mensch, Mama, ich wünsche dir ganz viel Glück, das hast du dir verdient. Du brauchst auf mich wirklich keine Rücksicht zu nehmen, ja?«

Er war ziemlich perplex nach diesem Gespräch. Dass nun ausgerechnet seine Mutter etwas Positives an seiner Abwesenheit fand, fühlte sich befremdlich, aber auch erleichternd an. Ihretwegen brauchte er in Zukunft jedenfalls kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.

Dankbar zog Leo seine Laufsachen an und machte sich auf den Weg, um nach der langen Autofahrt an der Elbe entlang zu joggen.

Beglückt schob Katie das große, in zwei Plastiktüten verpackte Bild auf den Sitz neben sich. Genau von diesem Bild hatte ihr Onkel Jakob immer erzählt. Zu sehen waren ein merkwürdiges, fast rechteckiges Felsmassiv und davor ein Hirsch. Keine Spur von einer Stadt, aber das war egal. Es war ziemlich düster und irgendwie schmutzig, aber sie war begeistert. Wie nett Henriette und Lukas Ziegenbarth gewesen waren! Und wie schade, dass Onkel Jakob ihr nicht noch viel mehr von Heinrich Ziegenbarth erzählt hatte, schließlich waren sie eng befreundet gewesen. Dass dessen Verwandte noch immer in diesem Haus lebten und einige von den alten Möbeln noch vorhanden waren, das war Katie fast wie ein Wunder erschienen. In Amerika war es normal, seinen Hausstand alle fünfzehn Jahre zu verlegen oder komplett zu erneuern. Sie kannte niemanden, der in einem über einhundert Jahre alten Haus in antiken Möbeln seiner Vorfahren wohnte. Aber diese Leute hatten in der Villa kaum etwas verändert. Onkel Jakobs alte Fotos zeigten fast das identische Wohnzimmer mit dem schönen, offenen Kamin. Selbst die geschwungenen Wandlampen hingen noch an Ort und Stelle. Gut, das alte Sofa war einer modernen Couchgarnitur gewichen, die Küche war vor wenigen Jahren völlig umgebaut worden, auch die Schlafzimmer im Obergeschoss waren allesamt neu eingerichtet. Aber einige der Möbel, die Katie auf Onkel Jakobs Fotos vom »Haus Bergkaiser« erkennen konnte, standen heute noch an ihrem angestammten Platz im Flur oder im Wohnzimmer. Verträumt schaute Katie aus dem S-Bahn-Fenster hinunter auf die Elbe. Der Fluss erinnerte sie an den Mississippi zu Hause.

Als sie den älteren Herrn im Garten der Villa angesprochen hatte, hätte sie nicht erwartet, so freundlich eingeladen zu werden. Aber die Ziegenbarths hatten als Rentner viel Zeit, und das Fotoalbum, das sie ihm über den Gartenzaun reichte, hatte ihr alle Türen geöffnet.

»Schau nur, was für ein schöner Mann dein Onkel Heinrich war!« Henriette Ziegenbarth hatte sich kaum beruhigen können, als sie die Fotos sah. Sie hatte Heinrich erst zwanzig Jahre später kennengelernt, da war er ein griesgrämiger, vom Krieg gezeichneter Mann gewesen, der lediglich zwei kleine Zimmer seines ehemals so stolzen Hauses bewohnte. Die beiden Familien, die bei ihm einquartiert worden waren, hasste er. Alles, was ihm lieb und teuer war, hatte er in seinen zwei Zimmern auf dem Dachboden verstaut. Später erreichte er, dass im Erdgeschoß die Redaktion einer technischen Fachzeitschrift einzog. Aber die Familie im ersten Stock blieb, und er verschanzte sich regelrecht in seinem Refugium unter dem Dach. Nach Henriette Ziegenbarths Schilderungen war Heinrich ein verbitterter, wegen seiner Kriegsverletzung stark hinkender Mann gewesen, der in der Vergangenheit lebte und mit der Gegenwart in der DDR nicht zurechtkam.

Als Katie mit dem Ehepaar Ziegenbarth auf dessen Terrasse saß und berichtete, wie ihr Onkel ihr früher immer wieder von Dresden, von seinem lieben Freund Heinrich in Pirna und von diesem Haus erzählt hatte, wurde sie selbst ganz sentimental. Diese Kindheitserinnerungen an ihre Sommer in Onkel Jakobs Haus in Michigan hatten sie geprägt.

»Hatte ihr Onkel jemals eine Familie in Amerika?«, fragte Lukas Ziegenbarth sie vorsichtig. Katie wusste schon, worauf das hinauslief. Onkel Jakob hatte zum Ende seines Lebens kein Geheimnis mehr aus seiner Homosexualität gemacht und sie machte auch keines draus.

»Dann gehe ich davon aus«, sagte Lukas Ziegenbarth bedächtig nickend, »dass Ihr Onkel und mein Onkel ein Paar waren.« Katie nickte. Davon war auch sie überzeugt.

»Wissen Sie, dass mein Onkel für Heinrich ein Bild gemalt hat?«, fragte sie in das Schweigen hinein. Sie blätterte im Fotoalbum eine Seite weiter. Dort stand ein gutaussehender, schneidiger junger Jakob vor einem Bild an der Wand.

Die Ziegenbarths betrachteten das Foto einen Moment, dann sagten sie fast gleichzeitig: »Das Bild ist noch da.«

»Das Bild ist, ehrlich gesagt, merkwürdig. Ich habe nie verstanden, warum mein Onkel es in seinem Zimmer hängen hatte.« Lukas Ziegenbarth schüttelte bedächtig den Kopf. »Er hatte einen exquisiten Geschmack, und vor dem Krieg besaß er eine ganze Reihe ausgezeichneter Gemälde. Sogar ein Otto Dix war darunter. Die wurden ihm aber während der Nazi-Zeit und später zu DDR-Zeiten alle abgenommen, bis auf ein paar ganz nette Schäfer-Szenen aus dem 18. Jahrhundert und dieses kitschige Landschaftsbild vom Bloßstock. Er hat es wohl als Andenken an Ihren Onkel behalten. Wir haben es vor zwanzig Jahren ganz oben in den Flur gehängt, weil es uns nicht gefällt.«