Dunkeltage im Elbsandstein

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Erdbeerblond?«, fragten Leo und Sandra wie aus einem Munde.

»Nu, das is jetzt total im Trend.«

Als Böhmer die verständnislosen Gesichter der beiden Kriminalkommissare sah, fügte er hinzu: »Na, de Christine, meine Frau, die is doch Friseuse, die probiert alle Tage mal was Neues aus.«

»Hm, das wird nicht einfach mit der Personenbeschreibung«, murmelte Sandra.

»Hatten Sie Streit mit ihrer Frau?«, fragte Leo unvermittelt.

»Nee, um Gottes willen«, beeilte sich Dietmar Böhmer zu versichern. »Sie sagt mir auch immer, wenn se wohin geht. Diesmal hat se nix gesagt, aber ich dachte, das is schon in Ordnung. Sie is ja ein ganz korrekter Mensch. Erst heute Morgen, als die Oma Sonneborn anrief und fragte, wo de Christine bleibt, hab ich so richtig gemerkt, dass se ni da is.«

»Wer ist Oma Sonneborn?«, wollte Sandra wissen.

»De Christine, die macht den Damen hier in der Gegend de Haare. De Oma Sonneborn hat gesagt, de Christine hat extra den Termin vom Samstag auf Dienstag verlegt und nu kommt se ni. War ziemlich sauer, die Oma Sonneborn.«

Sandra ließ sich von Dietmar Böhmer das Terminbuch seiner Frau geben. Die Termine pro Woche waren allerdings an zwei Händen abzuzählen. »Ihre Frau hat einen mobilen Friseursalon?«, fragte sie beim Durchblättern.

»Ja, die besucht die Leute und macht ihnen de Haare bei denen zuhause«, erklärte Böhmer. »Läuft aber ni so gut.«

»Haben Sie mal bei diesen Kunden angerufen?«, fragte Sandra. Böhmer schüttelte den Kopf. »Nee, die Nummern stehen ja ni dran. Das Handy mit den Kundennummern muss de Christine dabeihaben. Ich hab es jedenfalls ni rumliegen sehen.«

Umständlich drückte er seine Zigarette im überfüllten Aschenbecher aus.

»Und Chantal, wo arbeitet die?«, fragte Sandra.

Böhmer zog mit entschuldigendem Lächeln die Schultern hoch. »Das weeß ich ni so genau, die arbeitet ab und zu in der Stadt, aber wo genau …«

Sandra klappte ihr Notizbuch zu und vollendete den angefangenen Satz.

»… das müssen Se de Christine fragen.«

»Genau«, sagte Böhmer und klopfte eine neue Zigarette aus der Schachtel.

»Ich nehme das mal mit«, sagte Sandra beim Verabschieden und steckte den Terminkalender und die Fotos ein.

»Bitte melden Sie sich sofort, wenn Ihre Frau oder Ihre Tochter wieder auftauchen oder wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt!«, ermahnte ihn Leo.

»Nu«, nickte Böhmer. »Was mach ich denn nu?« Etwas ratlos stand er in der Wohnungstür.

»Ich an Ihrer Stelle würde erst mal das Fenster wieder zumachen«, schlug Sandra vor. »Es wird langsam kalt.«

»Na, dem hast du es aber gegeben«, bemerkte Leo spöttisch, als sie wieder unten vor dem Haus standen. »Was für ein Waschlappen«, stöhnte Sandra. »Da muss ich die Christine fragen, das macht die Christine, das weiß die Christine«, äffte sie Böhmer nach. »Der Mann kriegt ja alleine gar nichts auf die Reihe!«

Worin sie sich täuschte, denn Dietmar Böhmer hatte soeben den blendenden Einfall, seine Kumpels auf eine Partie Doppelkopf einzuladen – etwas, das Christine hasste und, wenn immer er es versuchte, zu unterbinden verstand. Jetzt ergriff er die Gelegenheit und bestellte bei Kuno, seinem alten Freund, gleich noch ausreichend Bier und Bockwürste für den Abend.

Als die beiden Kommissare am Auto ankamen, war Laika sehr damit beschäftigt, die Nackenstütze des Beifahrersitzes auseinanderzunehmen.

»Mensch Sandra, dein Hund ist die Pest«, fluchte Leo und riss die Beifahrertür auf. Laika stutzte kurz und hüpfte dann freudig auf den Parkplatz. Die Nackenstütze hatte sie bis zur Hälfte in ihre Bestandteile zerlegt, der Stoff hing in Fetzen und die Füllung war überall auf dem Sitz und darunter verteilt. Ärgerlich fegte Leo die Flocken und Stofffetzen vom Beifahrersitz nach draußen.

»Laika, böser Hund!«, rief Sandra und streichelte dem Tier dabei zärtlich über den Kopf. »Sie ist halt noch ein Baby. Sei doch nicht so ätzend!« Sie nahm Laika an die Leine und führte sie ein paar Schritte weiter auf den Wiesenstreifen zwischen den Parkbuchten. »Hoffentlich macht Richter da keinen Ärger«, murmelte sie, »und hoffentlich zahlt das die Haftpflichtversicherung.«

Obwohl Leo es niemals zugeben würde, konnte er sich dem Charme der tapsigverspielten Laika nicht völlig verschließen. Sie blieb an jedem Grashalm stehen und beschnupperte aufgeregt alles, was ihr in die Quere kam. Er sah auf die Uhr – schon nach zwölf. Es wurde Zeit, dass sie zurück ins Büro fuhren. Und wieso hatte Sascha noch nicht angerufen? Es sollte inzwischen ein Bericht vom Gerichtsmediziner Dr. Gräber vorliegen. Sein Chef Richter würde außerdem alles andere als erfreut sein, wenn er sah, wie Laika im Dienstwagen gewütet hatte.

»Was ist denn nun, willst du hier ein Picknick veranstalten?«, fragte Leo.

»Warte noch ein paar Minuten, sie braucht ein bisschen Auslauf.«

Mit gespitzten Ohren und heftig wedelnd forderte Laika ihn zum Spielen auf. Aber Leo ließ sich nicht hinreißen. »Du bist nur so niedlich, weil du einen großen Kopf und große Kulleraugen hast«, belehrte er die erwartungsvoll vor ihm sitzende Hündin. Einmal noch scheuchte Sandra sie über die Grünanlagen, dann drängte Leo, zurückzufahren.

Auf dem Weg zurück ins Präsidium rollte sich Laika auf dem Rücksitz zusammen und schlief einen tiefen Welpenschlaf.

»Wir müssen die Fotos der beiden Frauen an alle Polizeidienststellen rausgeben und wir sollten die Medien informieren«, überlegte Sandra laut.

Leo nickte. »Machen wir. Allerdings glaube ich, dass Mutter und Tochter beschlossen haben, Urlaub in einem Luftkurort zu machen oder ein paar Tage auf einer Schönheitsfarm zu verbringen.« Er betrachtete das Foto. Diese Chantal war ein recht hübsches Ding, und wenn sie dreißig Kilo weniger wiegen würde, hätte sie durchaus in sein Beuteschema gepasst. Seit er sich von Veronika getrennt hatte, suchte er sich Frauen, die möglichst nicht wie sie aussahen.

Leo legte das Foto in die Mappe. »Sascha sucht eine Wohnung. Hast du nicht gesagt, dass Olli zu dir gezogen ist?«

Er sah Sandra an, die gerade durch den dichten Verkehr zurück ins Stadtzentrum kurvte.

»Du meinst Ollis Wohnung?« Sie zog eine Schnute. »Olli und ich haben vereinbart, erst mal einen Versuch zu machen. Er behält seine eigene Wohnung noch ein Weilchen, bis wir ganz sicher sind. Du weißt schon, mit jemandem zusammenzuziehen ist schon eine wichtige Entscheidung. Momentan geben wir uns beide unheimlich Mühe, aber man weiß ja nie, ob es auf Dauer klappt.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Du bist ja nicht an ernsthaften Beziehungen interessiert, aber ich könnte mir schon vorstellen, ein Familienalbum aufzuklappen.«

Leo zuckte zusammen und ärgerte sich augenblicklich. Doch, das hätte er sich mit Veronika durchaus vorstellen können. Aber das würde er Sandra ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. Eine Weile sah er aus dem Fenster, dann räusperte er sich.

»Jedenfalls braucht Sascha eine Wohnung und wenn du eine weißt, kannst du ja mit ihm reden.«

Sandra schien ihm nicht zugehört zu haben. Sie bog auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums ein und sagte:

»Als nächstes mache ich mir eine Checkliste für diese Vermisstenanzeige.«

Leo nickte, sagte aber nichts mehr.

Sie gingen schweigend die Treppe hoch ins Büro, wo Sascha mit aufregenden Neuigkeiten auf Leo wartete.

Er wedelte mit einem Blatt Papier. »Uwe kennt den Toten. Er sagt, der Kerl ist ein Drogendealer aus dem Umfeld von Pawel Ostrowni.«

Leo ließ Sandra einfach stehen und drängte sich mit Sascha in Uwe Krögers Büro.

»Ein Drogendealer also, das passt. Und wer ist Pawel Ostrowni?«

Kröger ließ mit einem Tastendruck ein Foto auf seinem Bildschirm erscheinen und klärte Leo auf: »Pawel Ostrowni ist Tscheche mit deutschem Pass. Er besitzt eine Bar in der Nähe des Neustädter Bahnhofs. Wir vermuten, dass er seine Finger in allen möglichen Geschäften drin hat, Prostitution, Mädchenhandel, Drogen, Autodiebstähle, wer weiß. Aber bis jetzt konnten wir ihm noch nie etwas nachweisen. Er ist ein ziemlich gerissener Kerl, dem schwer beizukommen ist.«

Das Foto zeigte einen gepflegten Mann um die vierzig, dunkelhaarig und schlank mit hohen Wangenknochen und tiefen Augenhöhlen. Er wirkte wie ein Agenturchef oder ein Modedesigner. Allerdings wurde der etwas blasierte Eindruck durch eine Narbe quer über die linke Wange gestört. Sie reichte von der Schläfe bis hinunter zu Ostrownis ausgeprägter Falte zwischen Nase und Mundwinkel.

Kröger seufzte. »Wir sind schon seit zwei Jahren an ihm dran. Wenn diese Spur mit dem jungen Kerl endlich mal was Handfestes zu Tage fördern würde, wäre das fantastisch.«

»Der hat ja eine richtige Scharte im Gesicht«, murmelte Sascha.

Auch Leo war fasziniert von dieser auffälligen Narbe. Wahrscheinlich hatte er die schon als Kind bekommen und sie war mit ihm mitgewachsen. Abgesehen von diesem Mal sah der Mann eher eingebildet als gefährlich aus. Aber darauf, das wusste jeder Ermittler, konnte man sich nicht verlassen.

»Was weißt du über den Toten?«, fragte Leo seinen Kollegen Kröger.

»Den kennen wir deutlich besser. Jatzek Novotny ist vierundzwanzig Jahre alt, saß schon mal wegen Drogen im Knast, das war allerdings eine Jugendstrafe. Seit etwa zwei Jahren sehe ich ihn immer wieder in der Bahnhofsgegend und bin sicher, dass er da seinen Stoff verkauft. Bisher haben wir ihn aber nicht beim Dealen erwischt.«

»Wieso glaubst du, dass er für diesen Ostrowni arbeitet?«, wollte Leo wissen.

»Weil er sich oft in der Nähe von dessen Bar herumtreibt. Die Reviere sind klar aufgeteilt, da könnte er nicht dealen, wenn der Boss, und ich bin sicher, Ostrowni ist der Boss, das nicht zulassen würde.«

 

Leo nickte. »Dann haben wir also einen toten Drogendealer mit einem gestohlenen Auto und gefälschten Papieren und der liegt einfach so am Waldesrand. Sehr merkwürdig.« Er schaute von Kröger zu Sascha und versuchte, sich einen Reim auf den Fall zu machen.

»Vielleicht ist er einem anderen Dealer in die Quere gekommen und die haben eine Art Duell veranstaltet?«, sinnierte Sascha. Sein Pullover sah selbst gestrickt und so unförmig aus, dass Leo nicht länger als ein paar Augenblicke hinschauen konnte.

»Wie, ein Bandenkrieg?«, fragte er. Sascha zuckte ratlos die Schultern. Es kam öfter vor, dass sich die Drogenhändler gegenseitig die Reviere streitig zu machen versuchten, und das konnte auch durchaus blutig oder sogar tödlich ausgehen. Aber hier stimmte die Geschichte nicht.

»Nein«, verwarf Leo den Gedanken. »Wieso hätten sie sich erstens in dieser gottverlassenen Ecke treffen und zweitens den BMW stehen lassen sollen? Das macht keinen Sinn, wenn das eine Bandenfehde gewesen sein sollte. Und außerdem wissen wir noch nicht mal, woran der Mann gestorben ist. Nach einem Kampf sah das eher nicht aus, auch wenn er Blutergüsse im Gesicht hatte.«

»Und wenn er sich da mit einem Kunden getroffen und sich selbst einen goldenen Schuss verpasst hat, nachdem er seinen Stoff losgeworden war?«, mutmaßte Kröger.

»Wäre auch möglich«, meinte Leo, »aber sein Bein ist gebrochen und sein Gesicht voller blauer Flecke. Der hat sich da nicht einfach hingelegt, um zu sterben. Da ist was passiert.« Er wandte sich wieder Sascha zu.

»Hat man in dem Auto noch Drogen oder was Interessantes gefunden?«

Sascha schüttelte den Kopf. »Die haben den BMW gründlich auseinandergenommen, aber nichts gefunden, was nicht drin sein dürfte. Jatzek Novotny hatte aber ziemlich viel Geld, fast viertausend Euro, in der Tasche.«

Leo fand die ganze Sache sehr merkwürdig.

»Was sagt der Autopsiebericht?«

Sascha sprang auf: »Der kam vorhin erst rein. Moment, ich hole ihn.«

Zwei Minuten später war er mit den ausgedruckten Blättern zurück: »Dr. Gräber schreibt, dass der Mann an einem Genickbruch durch Fremdeinwirkung starb, du hast also schon richtig vermutet.«

Leo nahm den Bericht entgegen und überflog ihn. »Die Indizien sprechen eindeutig dafür, dass er von einem Auto überrollt wurde. Hier steht, dass ein Rad sein Schienbein geknackt und ein anderes ihm das Genick gebrochen hat. Die Untersuchung hat eine Fraktur des Zahns des zweiten Halswirbels, der Dens Axis, ergeben. Ein klassischer Genickbruch also.«

Leo drückte die Freisprech-Taste des Telefons und ließ sich mit Dr. Gräber verbinden.

»Ist das eine von sich aus tödliche Verletzung?«, fragte er den Rechtsmediziner.

»Nein, per se ist das noch nicht tödlich«, antwortete Dr. Gräber. »Nur, wenn der Dorn des Wirbels nach innen auf das Rückenmark drückt, es praktisch abquetscht, dann kommt es zur Zerstörung des Atem- und Kreislaufzentrums. Das ist mit dem sofortigen Tod verbunden. Ein Genickbruch ist aber nicht automatisch tödlich.«

»Wir wissen also nicht, ob das Opfer ermordet wurde?«

»Nun ja, wenn ein Wagen mit entsprechendem Gewicht über den Nacken rollt, ist das dann Mord oder ein Unfall? Das müssen Sie herausfinden. Der BMW ist jedenfalls nicht über ihn gefahren, dieses Reifenprofil habe ich geprüft.«

Gräber hatte aber das Profil des todbringenden Autoreifens nicht eindeutig identifizieren können. Dafür lag das Geschehen zu lange zurück. Der Tod dürfte Samstagabend gegen Mitternacht eingetreten sein. Novotny hatte also schon sechsunddreißig Stunden im Regen gelegen, als man ihn fand.

»Und die blauen Flecken im Gesicht? War das Gewalteinwirkung, Dr. Gräber?«

Der Pathologe verneinte. »Wenn eine Leiche länger liegt, sackt das Blut nach unten, das gibt dunkle Flecken wie Hämatome. Aber bei Jatzek Novotny waren keine Spuren von Schlägen zu erkennen.« Gräber hatte es eilig, Leo verabschiedete sich.

»Er wurde also von einem zweiten Wagen überrollt und der Mörder ist dann damit weggefahren«, sinnierte Sascha laut vor sich hin.

Leo überlegte, während er im Büro auf und ab ging. Dann schüttelte er den Kopf.

»War er bewusstlos oder zugedröhnt oder betäubt, als das passierte? Man lässt sich doch nicht einfach so überfahren. Ein Feldweg ist keine Autobahn, ein Auto kann da weder schnell fahren noch lautlos. Du hast doch selbst gesehen, was für ein kleiner Weg das war. Da kann man locker ausweichen, wenn ein Auto auf einen zufährt.«

»Vielleicht wollte man ihm nur Angst machen, und er ist unglücklich gestürzt, was weiß ich?« Sascha ließ sich schwer auf Krögers Schreibtischplatte sinken.

»Sonst steht nichts in Gräbers Bericht? Gib mal her!« Leo nahm Sascha den Bericht aus der Hand und überflog den Text. »Aha, hier haben wir es. Dr. Gräber schreibt, dass der Tote eine ziemlich hohe Dosis Methamphetamin und zusätzlich Ecstasy im Blut hatte. Er war seit mindestens drei Jahren süchtig, also an das Zeug gewöhnt, aber er hatte einiges intus.«

»Woran kann der Gräber denn sehen, wie lange der schon süchtig war?«, fragte Sascha und sah Kröger, den Drogenspezialisten unter den Kollegen, an.

»Das kann der Arzt ganz gut aus dem Allgemeinzustand des Körpers lesen. Methamphetamin oder – wie die Junkies sagen – Crystal oder Crystal Meth oder auch Ice oder Glass macht die Leute unheimlich schnell süchtig und entwickelt auch schnell Nebenwirkungen. Nach wenigen Jahren ist der Körper eines Süchtigen ausgezehrt, die Haut wird schlecht, die Zähne faulen denen aus dem Mund, und wer das Zeug durch die Nase zieht, hat schnell eine zerstörte Nasenscheidewand.«

»Dann konnte er vielleicht nicht mehr richtig reagieren, weil er so zugedröhnt war und ist einfach sitzen oder liegen geblieben, als das Auto auf ihn zukam«, versuchte es Sascha.

Kröger schüttelte den Kopf: »Das halte ich für unwahrscheinlich. Crystal macht die Leute wach. Das ist ja der Reiz, sie können nächtelang durchtanzen oder durchvögeln oder was auch immer, ohne müde zu werden.«

»Los, Sascha, wir besuchen jetzt diesen Ostrowni!« Leo zog Sascha vom Schreibtisch hoch und schob ihn zur Tür.

»Was, jetzt gleich?«, fragte Sascha widerstrebend.

»Na klar«, rief Kröger etwas höhnisch, »der Boss sitzt jetzt ganz bestimmt an seinem Bartresen und wartet auf euch.«

»Weil er so gern Besuch bekommt von der Kripo.«

»Genau.«

»Du warst ja schon länger nicht mehr da, oder?«

Kröger zog eine Grimasse.

»Hier, ich gebe euch die Adresse.«

In der Bar »Erotica« brannte schon Licht, obwohl das Schild am Eingang darauf hinwies, dass sie erst in einer Stunde ab siebzehn Uhr geöffnet werden würde. Das Lokal unter der Eisenbahnbrücke in der Nähe des Neustädter Bahnhofes hatte so gut wie keine Fenster nach außen. Ein älterer Mann ließ sie nach längerem Klingeln und Klopfen ein. Als Leo und Sascha ihre Polizeiausweise zückten, schrak der Alte ein wenig zusammen.

»Pawel Ostrowni?«, fragte Sascha betont langsam.

»Ich nix Deutsch«, versuchte der Mann abzuwiegeln. Er deutete auf einen Putzeimer und einen Schrubber. »Ich nur putzen.«

Leo und Sascha insistierten. »Wo ist der Boss?«, buchstabierte Leo. Sascha versuchte es mit ein paar Brocken Tschechisch, bis der alte Mann schließlich nachgab.

Er führte sie durch die Bar und einen düsteren Flur vor ein Hinterzimmer, auf dessen Tür das Wort »Büro« prangte. Der Alte klopfte vorsichtig an. Leo schob ihn auf die Seite und drückte die Tür auf.

Drinnen saß ein Mann mit dem Telefon am Ohr und schaute erstaunt auf. Im Gegensatz zur schummrigen Bar war der Raum modern und blendete fast. Eine kühne Designerleuchte erhellte jeden Winkel. Die gebürsteten Stahlschränke, der aufgeräumte Schreibtisch in gekalkter Eiche, weiße Stühle, der weiße Ledersessel und ein ebensolches Sofa – das wirkte alles sehr sauber und elegant.

»Pawel Ostrowni?«, fragte Leo. Der Mann legte das Telefon auf den Tisch und erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch. Mit einem Wink bedeutete er dem Putzmann, sich zu entfernen. Die Kommissare stellten sich vor und ließen sich auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch nieder.

»Meine Herren?«, fragte Ostrowni mit fast akzentfreiem Deutsch. Er war ein gut aussehender Mann in den Vierzigern. Seit er es sich leisten konnte, trug er nur noch Maßanzüge und handgenähte Schuhe. Sein Haar war akkurat geschnitten und an den Schläfen farblich etwas aufgefrischt, aber das wussten nur sein Friseur und er. Er war mittelgroß und dass er fast täglich trainierte, sah man ihm nicht an, ebenso wenig seinen Hang zu Brutalität. Das einzig Irritierende in seinem frisch rasierten Gesicht war die Narbe, die über seine linke Wange lief.

»Kennen Sie Jatzek Novotny?«, fragte Leo, nachdem er seinen Polizeiausweis vorgezeigt hatte. Das leichte Flackern in Ostrownis Augen entging ihm dabei nicht.

Mit der Frage nach Novotny hatte der Barbesitzer wohl nicht gerechnet, denn er brauchte in paar Sekunden, um sich zu fangen.

»Möglicherweise«, sagte er gedehnt. »Was wollen Sie von ihm? Nicht, dass ich mich in irgendeiner Weise für ihn verantwortlich fühlen würde. Aber wieso kommen Sie überhaupt zu mir?«

Sascha nahm die Fotos des Toten aus der Tasche. »Jatzek Novotny, vierundzwanzig Jahre alt, Tscheche, wurde gestern Nachmittag tot aufgefunden. Wir untersuchen den Fall. Wenn Sie uns also bitte sagen, was Sie über den Toten wissen und wo und wie er eventuell die letzten Tage verbracht haben könnte.«

Pawel Ostrowni starrte auf das Foto. Sascha hatte ihm eines vor die Nase gelegt, auf dem im Hintergrund auch der Kotflügel des BMW zu sehen war.

»Wie bedauerlich für Herrn Novotny«, sagte Ostrowni und nahm das Foto zur Hand. Leo stellte fest, dass sowohl er in Jeans und Lederjacke wie auch Sascha in seiner Cordhose und dem schrecklichen Pullover im Vergleich mit diesem Mann wie hinterwäldlerische Penner aussahen. Ostrownis Krawatte war perfekt auf das Hemd und den dunkelgrauen Anzug abgestimmt. Die Fingernägel an den gepflegten Händen glänzten wie poliert.

»Wo haben Sie den armen Kerl denn gefunden?«, fragte der Tscheche.

»In Ottendorf, etwa fünfzig Kilometer außerhalb von Dresden«, antwortete Sascha. Leo überlegte, ob es nicht ein Fehler war, diese Informationen an den vermutlichen Chef des Toten herauszugeben. Andererseits stand es schon in allen Tageszeitungen, dass in Ottendorf ein Toter gefunden worden war. Offenbar hatte Ostrowni aber noch nichts davon mitbekommen.

Er lehnte sich nun entspannt in seinem Ledersessel zurück und meinte: »Diesen Novotny kenne ich nur vom Sehen. Er war ab und zu in meinem Lokal und öfter hier in der Bahnhofsgegend unterwegs. Ich kann Ihnen da leider nicht mehr sagen, denn ich weiß so gut wie nichts über diesen jungen Mann. Er fiel allen auf, weil er immer diese hässlichen weißen Cowboystiefel trug.«

»Wir nehmen an, dass er Drogendealer war, und haben auch etwas Crystal in seiner Tasche gefunden«, sagte Leo leichthin.

In Ostrownis Augen blitzte es kurz auf: »Damit habe ich nichts zu tun! Wenn Sie mich dann bitte weiterarbeiten lassen würden? Ich bin beschäftigt.«

»Kennen Sie den Wagen auf dem Foto? Einen schwarzen BMW mit Dresdner Kennzeichen?«, hakte Leo nach.

Pawel Ostrowni nahm das Foto in die Hand und warf einen Blick darauf. »Nein, tut mir leid, ich kenne das Auto nicht. Haben Sie sonst noch Fragen?« Er schob Leo das Foto zurück und trommelte ungeduldig mit seinen manikürten Fingernägeln auf die polierte Tischplatte.

Leo ließ seinen Blick schweifen. Ein teurer Reisekoffer stand in der Ecke des Raumes. Am Griff hing noch das Papierband, das den Koffer als Fluggepäck auswies. »Sie sind gerade von einer Reise zurückgekommen?«, fragte Leo und deutete auf den Koffer.

Ostrowni nickte ungeduldig. »Ich war drei Tage in London, geschäftlich.«

»Kann ich Ihre Bordkarten sehen?«, fragte Leo so freundlich wie möglich. Ostrowni runzelte die Stirn, dann wurde ihm wohl klar, dass er sich damit ein bombensicheres Alibi verschaffte. Sein Gesichtsausdruck wechselte sofort zu einem Lächeln, als er seine elegante Brieftasche aus dem Sakko holte und den Kommissaren die beiden Abschnitte der Bordkarten hinhielt.

»Samstag 9:30 Uhr nach London Heathrow, Dienstag 10:20 Uhr zurück nach Berlin«, las Leo laut vor.

»Sie waren also das ganze Wochenende über nicht in Deutschland«, stellte er fest.

»Nein, und ich habe jede Menge zu tun«, sagte Ostrowni und begann wieder auf der Tischplatte zu trommeln.

 

Sascha und Leo erhoben sich. »Falls Ihnen doch noch etwas zu Jatzek Novotny einfallen sollte, rufen Sie uns bitte an.« Leo legte seine Karte auf den Schreibtisch und war sich doch sicher, dass ein Pawel Ostrowni sich nie bei der Kripo melden würde. Dieses Ritual hätte er sich schenken können.

»Aber natürlich«, antwortete Ostrowni mit verbindlichem Lächeln und ging um den Schreibtisch herum, um den beiden die Tür aufzuhalten. »Die Polizei, dein Freund und Helfer. Hat mich sehr gefreut.«

Wie begossene Pudel schlurften Sascha und Leo durch das Lokal und zur Tür hinaus. Über ihnen donnerte gerade ein Zug vorbei, denn das »Erotica« lag direkt unter dem Bahndamm. Leo war erstaunt, dass er in Ostrownis Büro weder Lärm noch Erschütterungen wahrgenommen hatte.

»Ich habe mir ja gleich gedacht, dass das für die Katz’ ist«, maulte Sascha. »Der ist aalglatt, an dem beißt sich Kröger nicht umsonst schon seit Jahren die Zähne aus.«

»Aber er kannte Novotny und er hat sich das Foto sehr genau angesehen«, antwortete Leo. »Möglicherweise gehört der BMW seit dem Diebstahl zu seinem Fuhrpark. Wir sollten bei der zuständigen Polizeidienststelle nachforschen, ob die den Wagen kennen. Wir haben ja nun immerhin seine Fingerabdrücke.« Sorgfältig packte er das Foto des Toten, das Ostrowni angefasst hatte, in einen Plastikbeutel.

Zurück in seinem Büro machte er sich noch einmal auf den Weg zu Kröger.

»Kannst du mir alle Informationen über die Dresdner Drogenszene, Crystal Meth und diesen Pawel Ostrowni geben, die du hast?«

Kröger stand auf und öffnete seinen Büroschrank. »Über Ostrowni liest du am besten in der Computerdatei nach, da ist alles hinterlegt, was wir wissen. Zur Szene gibt es da auch einiges, aber hier, in diesem Ordner«, er drückte Leo eine prall gefüllte Akte in die Arme, »findest du das Wichtigste zusammengefasst. Ist ’ne schöne Bettlektüre – jedenfalls für Junggesellen.« Er grinste.

Leo rollte genervt mit den Augen, sagte aber nur knapp »Danke«.

Bis Detlef Watzke die acht Kilometer von Sebnitz bis zu Tante Hermines Haus zurückgelaufen war, war es bereits dunkel geworden. Das war ihm sehr recht, denn er mochte es nicht, anderen Menschen auf der Straße zu begegnen und gesehen zu werden.

Bevor er in den Weg zum Haus einbog, inspizierte er gründlich die Umgebung. Im Sägewerk war schon Feierabend, deshalb war es da unten ruhig und kein Menschmehr auf dem Hof zu sehen. Auch auf der Straße tat sich nichts, und als er die paar hundert Meter in den Wald hineingelaufen war, lag das Haus bereits im dunklen Bergschatten. Watzke verriegelte das Gartentor hinter sich, zog vorsichtig den Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Tür. Das kleine Holzstückchen, das er beim Gehen hinter der Tür platziert hatte, schob sich mit einem leichten, schleifenden Geräusch nach hinten. Also war niemand im Haus gewesen. Erleichtert trat er ein und sperrte sofort wieder ab. Im Licht der trüben Funzel ließ er seinen schweren Rucksack auf den Boden gleiten und zog Tante Hermines Regenmantel aus.

Jetzt war erst mal Essenszeit. Er öffnete eine Dose Eintopf und machte sie warm. Während die elektrische Kochplatte langsam zu summen begann, holte Watzke seinen Notfallplan aus dem Küchenschrank. Er war immer auf diesen Fall vorbereitet gewesen. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn er noch ein paar Kubikmeter Gestein mehr hätte herausholen und in den Stall bringen können. Aber es würde gehen. Er war genügsam, er konnte sich beschäftigen, er würde sicher sein.

Zuoberst auf seiner Liste stand: Identität löschen.

Das hatte er weitestgehend erledigt. Er war in Ottendorf nicht gemeldet, bezahlte keine Steuern, besaß keinen Führerschein und kein Bankkonto eines Kreditinstitutes in der Region. Das Konto in Berlin lief zwar noch auf seinen Namen, aber auf die alte Berliner Adresse – und dieses Haus war ja längst abgerissen worden. Alle regelmäßigen Zahlungen für das Haus wurden von Tante Hermines Konto abgebucht und das bisschen Geld, das er brauchte, holte er vom Automaten mit Tante Hermines Karte. Die Tarnung war perfekt.

Die meisten Vorräte waren schon unten. Zusammen mit den Lebensmitteln, die er heute eingekauft hatte, würde er mindestens zwei Jahre über die Runden kommen. Was danach kam, darüber machte er sich keine Illusionen. Wenn die Apokalypse bis dahin eingetreten war, würde er unten bleiben. Wenn nicht, konnte er sich immer noch überlegen, ob er noch einmal an die Oberfläche kommen wollte, um einzukaufen und die nächsten Jahre wieder unten zu verbringen. Weder die Polizei noch die Mitglieder seiner früheren Gruppe würden ihn dort finden.

Der Eintopf blubberte. Watzke stellte die Herdplatte ab und rührte einmal kräftig um. Seit zwei Jahren lebte er von drei Scheiben Zwieback zum Frühstück und einer Dose Eintopf pro Tag. Er fand, dass das völlig ausreichend war. Das ganze Gewese um die Nahrungsaufnahme irritierte ihn. Er musste den Motor am Laufen halten, das war ihm klar, aber warum die Menschen so viel Theater darum machten, ihrem Körper die nötigen Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße zuzuführen, war ihm ein Rätsel.

Der nächste Punkt auf seiner Liste war die intellektuelle Versorgung. Die war ihm bedeutend wichtiger. Im Gefängnis hatte ihn nur die Bücherei am Leben erhalten, selbst wenn der Großteil des Lesestoffs Schund gewesen war. Er hatte einiges an Büchern hinuntergeschafft, dazu drei Kisten mit Rätselheften und ausreichend Papier und Stifte. Das musste reichen. Er würde Zeit haben, sein Buch zu schreiben, die Erklärung all dessen, was das Leben so unsicher machte.

Mit seinem vollen Teller schob Watzke sich an den Küchentisch und stapelte das benutzte Geschirr des Vortages auf den bereits vorhandenen Haufen. Einen sauberen Teller hatte er noch, so gesehen, wäre es ökonomischer, wenn er erst übermorgen abtauchen würde, aber so, wie die Dinge jetzt standen, musste er handeln. Diese Polizisten konnten jederzeit wiederkommen. Sie würden Fragen stellen und seine Tarnung würde irgendwann auffliegen. Es war Zeit, abtauchen.

Konzentriert löffelte Watzke den Eintopf und überlegte, was er sonst noch mitnehmen musste. Er aß zügig, bis ihm einfiel, dass der Topf und die Löffel zu spülen waren.

Seufzend erhob er sich. In Tante Hermines Haus gab es kein warmes Wasser, außer man erhitzte es selbst. Geschirrspülen mit kaltem Wasser war wenig effektiv, das hatte er schon vor langer Zeit gelernt. Also machte er das Wasser in einem großen Topf warm.

Während er versonnen weiterlöffelte, erinnerte er sich, dass er mittags beschlossen hatte, ein Bad zu nehmen. Das war immer ein riesiger Aufwand, aber nachdem es für die nächsten zwei Jahre die letzte Gelegenheit sein würde, beschloss er, es tatsächlich zu tun. Er beendete seine Mahlzeit und ging, statt wie sonst an die Arbeit, in das kleine Bad von Tante Hermine, füllte Wasser in den Badeofen und schürte kräftig mit Holz und Kohle ein. Bis das Badewasser warm genug war, hatte er noch einiges zu tun.

Als erstes packte er seine letzten Vorräte an Bier und Eintopf in den Rucksack.

Dann kam der Abwasch. Da er die Porzellanteller nicht mitnehmen wollte, ließ Watzke sie auf dem Tisch stehen und fischte nur die Löffel heraus, um sie im warmen Spülwasser zu versenken, dazu den Topf zum Aufwärmen. Unschlüssig stand er in der kleinen Küche und sah sich um. Was würde er noch brauchen? Ein Messer? Er hatte keine Lebensmittel eingelagert, für die er ein Messer brauchte. Ein überflüssiges Messer konnte demnach nur als Waffe dienen. Aus Erfahrung wusste er, dass Waffen, wenn sie zur Verfügung standen, auch benutzt wurden. Also schüttelte er den Kopf und warf das lange Brotmesser, das er eben in die Hand genommen hatte, wieder in die Schublade. Der einzige, gegen den er das Messer erheben könnte, wäre er selbst. Also war es sicherer, es hier zu lassen.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?