Dunkeltage im Elbsandstein

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»Irgendwie passt hier nichts zusammen«, sagte Leo zu Sascha. »Ein toter junger Mann mit einer dicken Brieftasche liegt ein ganzes Stück vor einem unverriegelten Auto. Das sieht weder nach einem Überfall noch nach einem handfesten Streit aus. Was wollte er in dieser abgelegenen Gegend auf einem noch abgelegeneren Feldweg?« Er sah auf und betrachtete die sanft geschwungenen Bergrücken in der Ferne.

»Die Aussicht hier ist ja ganz schön, aber das war wohl kaum der Grund für ihn hierher zu kommen. Woran ist er gestorben? Und wer oder was hat sein rechtes Bein zerschmettert?«

Seufzend schaute er um sich. Außerhalb der Absperrung trampelten die Schaulustigen die vom Vortag noch feuchte Wiese platt. Wenn da jemals Spuren gewesen waren, konnte man die getrost abschreiben.

»Hat jemand von Ihnen am Samstag oder Sonntag irgendetwas Auffälliges beobachtet?«, rief er in die Traube von Menschen.

Alle verneinten. Aber das überraschte ihn nicht. Auf eine so vage Frage konnte man keine vernünftige Antwort erwarten.

»Hat jemand von Ihnen diesen schwarzen BMW am Samstag oder Sonntag hierherfahren sehen?«, versuchte er es noch mal.

»Ich wohne in der Parkstraße. Am Samstagnachmittag ist da ein sandfarbener Geländewagen hinter gefahren«, sagte eine junge Frau mit Kinderwagen. »Um welche Uhrzeit, wissen Sie das noch?«, fragte Leo nach. Sie überlegte. »So gegen drei vielleicht. Mein Kleiner ist da gerade wieder aufgewacht«, sagte sie. Sascha notierte ihren Namen und ihre Telefonnummer. Dann nahmen sie sich Helga Dünnebier vor.

»Wann genau haben Sie den Toten gefunden?«

»Na, so gegen viertel elf würd ich sagen. Da kam ich gerade vom Pilzesuchen zurück«, antwortete sie und straffte ihren krummen Rücken.

»Also zehn Uhr fünfundvierzig«, folgerte Leo.

»Nein, zehn Uhr fünfzehn«, verbesserte ihn Sascha. Helga Dünnebier sah irritiert von einem zum anderen. »Gehen die Uhren in Bayern anders?«

»Aber …?« Leo sah Sascha an.

Der winkte ab. »Das verstehst du nicht. Mach einfach weiter.«

Leo erinnerte sich, dass er das schon öfter gehört hatte: viertel irgendwas. Jeder sagte in so einem Fall »viertel nach zehn« – nur die Sachsen, die machten ein viertel elf draus. Er wandte sich wieder an Frau Dünnebier:

»Haben Sie den Leichnam angefasst? Oder das Auto?«

»Iieh, Gott bewahre!«, sagte Helga Dünnebier entrüstet. »Wo der doch tot war. Und kennen tu ich den ja auch ni.«

»Ist Ihnen, bevor Sie das halbe Dorf hierher beordert haben, irgendetwas aufgefallen? Lagen Gegenstände herum, haben Sie Spuren wahrgenommen?«

Oma Dünnebier schüttelte den Kopf. »Ne, ich hab da nix gesehen, aber ehrlich gesagt, so gut sehen tu ich ja auch ni mehr.«

Als Watzke gegen Mittag aufwachte und aus dem Fenster sah, war er sofort höchst alarmiert. Zwei Polizisten marschierten vom Sägewerk kommend über den Waldweg auf sein Häuschen zu. In wenigen Minuten würden sie vor seiner Tür stehen. Die Gewissheit, dass sie ihn nun doch gefunden hatten, grub sich wie eine Bleikugel in seine Magengrube. »Der Notfallplan!«, schoss es ihm durchs Gehirn. Er hastete so schnell er konnte die enge Treppe hinunter und in den Stall. Dort klappte er die Aluleiter zusammen und legte sie an die Seite. Den Rucksack stellte er in den Vorraum im Stall. Als er die Stalltür zum Hausflur verschloss, klopfte es bereits. Ohne Hose, im lose hängenden Hemd und barfuß öffnete er.

Die beiden Polizisten musterten ihn erstaunt.

Watzke war sich der absurden Situation bewusst, aber sie tangierte ihn nicht. Er hatte im Dorf ohnehin den Ruf, ein komischer Kauz zu sein. Ihm war es egal, wenn er nun mit noch vom Schlaf zerwühlten Haaren und einer schlackerigen Unterhose zur Mittagszeit in der Haustür stand.

»Ja, bitte?«, sagte er so neutral wie möglich, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug und er die Arme vor dem Körper verschränken musste, damit man nicht sah, wie sehr seine Hände zitterten.

Die Polizisten stellten sich als Beamte der Polizeiinspektion in Sebnitz vor und wollten wissen, ob ihm am Wochenende irgendetwas Besonderes aufgefallen war. Man habe einen verwaisten BMW und einen toten Mann oben beim Dorf gefunden.

Watzke war so erleichtert, dass er einen fahren ließ. Die beiden jungen Polizisten traten synchron einen Schritt zurück.

»Nee, also, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich schlafe immer sehr lange und sitze nachts über meinen Büchern, aber dass was Besonderes passiert wär, habe ich in den letzten Tagen nicht bemerkt.« Er sprach gepflegtes Hochdeutsch und nur bei genauerem Hinhören ließ sich eine leichte Berliner Färbung feststellen.

»Sie haben also nichts festgestellt? Keine nächtlichen Geräusche, ungewöhnlich viel Autoverkehr oder Ähnliches?«, fragte einer der Polizisten.

Watzke schüttelte energisch den Kopf. Die Spitzen seiner langen Haare flogen ihm um die Ohren, der Rest klebte am Schädel.

»Nein, leider, mir ist überhaupt nichts Merkwürdiges aufgefallen«, beeilte er sich zu sagen. Dem Naserümpfen des einen Polizisten zufolge schien er nicht nur optisch eine Zumutung zu sein.

»Na«, sagte der Polizist. »Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, dann rufen Sie bitte hier an.« Er reichte ihm mit ausgestrecktem Arm eine Karte, auf der mehrere Telefonnummern notiert waren. Die beiden hatten es eilig, von hier wegzukommen, und verabschiedeten sich. Das war Watzke nur recht. Er nahm die Karte und ging zurück ins Haus.

Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, verriegelte Watzke sie und lehnte sich mit zitternden Knien dagegen. Das war knapp gewesen! Die würden ihn nicht noch einmal in die Finger kriegen, niemals!

Wenn er einmal in der Woche nach Sebnitz zum Einkaufen ging, war er mental immer darauf vorbereitet, andere Menschen zu treffen. Aber gleich morgens auf leeren Magen zwei Polizisten! Diese Begegnung brachte ihn völlig aus dem Konzept. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie gekommen, um ihn auszuspionieren? Hatten sie ihn letztlich doch gefunden? Wussten sie von seinem Geheimnis? Er wankte in die kleine Küche und ließ sich auf die Bank sinken. Stück für Stück analysierte er den Vorfall. War es nur ein Vorwand gewesen? Oder sprachen sie die Wahrheit und das Ganze hatte nichts mit ihm zu tun? Er drehte und wendete die Gedanken in seinem Kopf so lange hin und her, bis er sich wieder beruhigt hatte. Die Kälte kroch an seinen nackten Beinen nach oben und zwang ihn dazu, in den ersten Stock zu gehen und sich anzuziehen. Er schnupperte kurz an seinen Achseln und stellte fest, dass es wohl wirklich Zeit war, mal wieder zu baden. Unschlüssig starrte er auf den Kalender neben seinem Bett. Heute war Montag. Eigentlich badete er nur mittwochs.

Montag war sein Einkaufstag. Nervös setzte er sich auf sein Bett und konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einer langen Weile beschloss er, so zu tun, als wäre nichts geschehen. Er band seine Haare mit einem Haargummi zusammen und zog sich an.

Zum Frühstück kochte er sich wie immer einen Tee und aß drei Scheiben Zwieback. Als er fertig war, spähte er vorsichtig zum Fenster hinaus. Auf dem Waldweg waren keine Polizisten mehr zu sehen. Die Luft schien rein zu sein.

Er beschloss, es zu wagen. Watzke brauchte die Routine, um sich zu beruhigen. Da heute Montag war, würde er einkaufen gehen, wie immer. Nichts war auffälliger, als Routinen zu durchbrechen.

Weil er kein Auto besaß, ging er die acht Kilometer nach Sebnitz immer zu Fuß. Bei schönem Wetter war der Hinweg sogar ganz nett. Aber an diesem Montagnachmittag nieselte es wieder und das Wetter gab einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Watzke griff zu Tante Hermines altem Regenmantel und stopfte seine langen, inzwischen ziemlich grau gewordenen Haare unter einen speckigen Hut, bevor er aus der Haustür trat. Ohne das Sägewerk eines Blickes zu würdigen, machte er sich hinauf auf den Weg durch Ottendorf und wandte sich dort nach rechts Richtung Sebnitz. Er vermied es, auf die Häuser links und rechts der Straße zu schauen. Er wollte niemanden sehen und von niemandem gesehen werden. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht. Als sich die gewundene Straße hinter der Ortschaft wieder hinunter ins Sebnitztal senkte, hörte der Nieselregen auf. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Aus dem Wald leuchteten Birken und Buchen mit buntem Laub, und auf den Wiesen neben der Straße glitzerten die Regentropfen im Sonnenlicht. Wenn die noch warmen Strahlen auf die Straße trafen, stieg die Feuchtigkeit in kleinen Dampfschwaden auf.

Watzke atmete tief durch. Einmal mehr beglückwünschte er sich dafür, dass er von Berlin hierher nach Ottendorf gezogen war. Ohne Tante Hermine wäre sein Leben wahrscheinlich furchtbar kompliziert geworden. Jetzt war er dagegen fast am Ziel seiner Träume und die Zukunft erschien ihm so rosig wie schon lange nicht mehr, immer vorausgesetzt, dass die Polizisten nicht nach ihm suchten.

Watzke hörte ein Auto kommen. Er trat nach rechts an den Straßenrand, um den Wagen an der engen Stelle vorbeizulassen. Doch der fuhr nicht vorbei, sondern hielt neben ihm an. Eine junge Frau mit einer viel zu großen Strickjacke und einem geblümten Kleid saß am Steuer des silbergrauen Toyotas. Sie beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster herunter. »Soll ich Sie ein Stück mitnehmen? Ich fahre nach Sebnitz.« Erwartungsvoll sah sie Watzke an.

Der war vor Schreck wie erstarrt. In seinem Gehirn ratterte es. Das war nun schon das zweite Mal heute, dass er von einem anderen Menschen angesprochen wurde. Immer wieder boten ihm Autofahrer auf dem Fußmarsch über die Landstraße nach Sebnitz an, ihn mitzunehmen, selten stieg er ein. Aber gerade heute? Waren sie ihm doch auf der Spur? War sie eine gut getarnte Agentin? Oder doch harmlos? Machte er sich verdächtig, wenn er ablehnte? War er in Gefahr, wenn er mitfuhr? Woran sollte er erkennen, ob sie ein Spitzel war? Fieberhaft flitzten seine Augen durch das Wageninnere. Er sah einen Einkaufskorb auf dem Rücksitz, einige Bonbonpapierchen auf dem Boden und einen Nylonbeutel im Fußraum des Beifahrersitzes. Wahrscheinlich war eine Geldbörse drin, wie eine Waffe sah das jedenfalls nicht aus. Watzkes Herz schlug bis zum Hals. Die junge Frau wurde langsam ungeduldig und sah ihn immer noch fragend an: »Wollen Sie jetzt mitfahren oder nicht?«

 

Sie hatte ein paar Silberfäden in ihrem langen, dunklen Haar und war völlig ungeschminkt. War das jetzt ein gutes Omen oder ein schlechtes? Watzke wusste immer noch nicht, wie er reagieren sollte. Die Sonne wurde von einer grauen Wolke verdeckt und es wurde plötzlich dunkler. Er nahm das als Zeichen mitzufahren und öffnete die Beifahrertür.

»Danke für das Angebot. Ich will zu Aldi«, sagte er und ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken.

»Genau da fahre ich auch hin«, sagte die junge Frau und legte den Gang ein. Watzke kurbelte das Fenster wieder hoch und fummelte nach dem Sicherheitsgurt.

Ihm entging nicht, dass die Fahrerin die Nase rümpfte, als das Fenster zu war. Hin und hergerissen zwischen seinem Bedürfnis nach Routine und dem Bestreben, möglichst nicht aufzufallen, beschloss er, heute Nacht eben zu baden. Er würde auch seine Hemden einweichen, wenn es denn nötig war. Dieser Tag lief ja ohnehin schon völlig aus dem Ruder, da konnte er auch alle unangenehmen Dinge auf einmal erledigen.

Zehn Minuten später stieg er auf dem Parkplatz vor dem Discounter aus und bedankte sich höflich fürs Mitnehmen. »Gern geschehen«, sagte die junge Frau knapp. »Zurück mitnehmen kann ich Sie aber nicht. Ich muss noch ein paar andere Sachen erledigen.« Sie log, da war sich Watzke sicher. Er wünschte ihr einen schönen Tag und machte sich mit seinem Einkaufsrucksack auf den Weg. Im Laden versuchte er, der Frau aus dem Weg zu gehen. Hauptsache, sie erinnerte sich nicht allzu genau an ihn. Er würde in Zukunft nie wieder mit einem Auto mitfahren, schwor er sich.

Es war schon Abend, als Sascha und Leo wieder in Dresden waren. Sie brachten die Fundstücke, die sie bei dem Toten gefunden hatten, in die Asservatenkammer und Sascha meldete sich freiwillig, die erste Befundaufnahme in den Computer zu tippen.

»Du hast es nicht besonders eilig, nach Hause zu kommen, kann das sein?«, mutmaßte Leo.

Sascha brummte etwas Unverständliches vor sich hin.

Leo hatte es eigentlich auch nicht eilig, schließlich wartete niemand auf ihn. Aber seinen ersten Tag nach dem Urlaub gleich mit Überstunden zu beginnen, das musste nun auch nicht sein.

Seine kalten Füße erinnerten ihn überdies daran, dass er dringend den immer noch feuchten Schuh ausziehen musste.

»Sag mal«, wandte er sich beim Gehen an seinen Kollegen, »was ist denn mit Sandra los? Ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt und dazu noch dieser Hund. Was soll das?«

Sascha sah vom Computer auf. »Du kennst Sandra doch inzwischen. Wenn sie was macht, dann richtig. Jetzt hat sie offensichtlich beschlossen, Ehefrau und Mutter zu werden, und das zieht sie jetzt durch bis zur Perfektion. Anscheinend hat sie ihren Traummann gefunden.« Sascha schaute Leo düster an.

»Egal, was sie macht, ich finde, sie übertreibt immer ein bisschen«, bestätigte Leo.

»Na, da ist sie aber nicht die Einzige«, hörte er Sascha beim Hinausgehen noch sagen.

Dienstag

Die genauere Untersuchung des Führerscheins des Toten ergab schnell, dass der gefälscht war, ebenso wie das Nummernschild des schwarzen BMW und die Videothek-Ausweise. Der Wagen selbst war vor einem halben Jahr in Hamburg gestohlen worden. Frustriert verließ Leo am Dienstagmorgen seinen Platz am Schreibtisch, nachdem er die neuen Informationen gesammelt hatte. Im Grunde war gar nichts geklärt, sie hatten einen riesigen Berg Arbeit vor sich.

Das galt auch für ihn und sein Privatleben. Reichlich offene Fragen saßen dazu in seinem Kopf auf der Lauer. Missmutig drehte er den weißblauen Kugelschreiber zwischen den Fingern und starrte hinaus auf den Pirnaischen Platz. Eigentlich hatte er sich nur zwei Dinge für seinen Urlaub daheim in Bayern vorgenommen. Das eine war, mit seinen Freunden ausgiebig das Oktoberfest zu genießen, das andere, viel Wichtigere, war, Veronika zu treffen und zu sehen, ob es vielleicht doch noch eine Chance für sie beide gäbe. Er hatte sich vorgenommen, sie gleich nach seiner Ankunft in Mammendorf anzurufen und sie um einen gemeinsamen Spaziergang zu bitten. Beim Gehen hatten sie früher immer am besten reden können. Aber er hatte Angst gehabt, dass Veronika »nein« sagen würde. Außerdem hatten ihn gleich seine Mutter und seine Oma in Beschlag genommen. Er hatte von Dresden und von seiner Arbeit und von den Kollegen erzählen müssen. Am nächsten Tag waren Onkel Josef und Tante Elli gekommen, das hatte in einer weiteren Kuchenschlacht und langen Gesprächen geendet. Dann hatte Michi angerufen und sie waren gemeinsam im Maisacher Bräuhaus versackt. Am vierten Tag hatte er Veronika immer noch nicht angerufen, und je länger er es hinausschob, umso schwieriger war es ihm erschienen.

Genervt fuhr er sich durch die kurzen braunen Haare und stand auf. Er musste sich beschäftigen. Arbeiten half immer am besten gegen trübe Gedanken.

Leo ging hinüber zu Saschas Büro.

»Wir müssen auf das Ergebnis von Dr. Gräber warten«, sagte der abwehrend, als Leo in der Tür stand. Er schaute konzentriert auf den Bildschirm und wischte sich über die Stirn, die durch seine Geheimratsecken schon ziemlich hoch war.

»Gibt es noch nichts Neues zur Identität des Opfers?«, fragte Leo.

»Nee!« Sascha wandte den Blick nicht von seinem Computermonitor. Als ihm Leo über die Schulter schaute, sah er, dass Sascha auf einem Immobilien-Portal unterwegs war.

»Du suchst eine Wohnung?«

»Muss«, seufzte Sascha mit einer theatralischen Geste, »meine Mutter meint, es wäre langsam Zeit für mich, auf eigenen Beinen zu stehen.« Seine Miene war so hoffnungslos, dass Leo lächeln musste.

»Naja, sieh es doch positiv«, meinte er. »Keiner redet dir drein, du kannst jederzeit jemanden mit nach Hause bringen und fernsehen solange du Lust hast.«

»Meine Wäsche selber waschen, meine Wohnung selber putzen, mein Essen selber kochen, meine Abende allein vor dem Fernseher verbringen, die Zeitung alleine lesen und zuschauen, wie meine Elefantensammlung langsam unter einer Staubschicht verschwindet, weil ich keine Zeit habe, sie täglich abzustauben«, leierte Sascha herunter. »Das war alles so harmonisch. Wozu brauche ich eine eigene Wohnung? Ich verstehe nicht, warum es nicht so weiterlaufen kann wie bisher. Ist doch alles prima.«

»Vielleicht, um mal ungestört eine Freundin einzuladen? Oder vielleicht verliebst du dich ja?«, versuchte es Leo noch einmal.

»All die Annehmlichkeiten aufgeben wegen ein bisschen Sex? Ich bin doch nicht bescheuert. Das kann man doch auch anders organisieren«, entgegnete Sascha.

Sandra kam hereingestürmt, in ihrer Hand ein Blatt Papier.

»Was gibt’s?«, fragte Leo.

»Eben ist ein Anruf reingekommen. Ein Dietmar Böhmer aus Prohlis vermisst seit Sonntag seine Frau.«

»Und das ist ihm erst heute aufgefallen?«, fragte Leo mit einem Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk.

»Siehst du, so ist das mit der Liebe«, sagte Sascha. »Der ist wahrscheinlich schon länger verheiratet und hat erst gar nicht gemerkt, dass seine Frau weg ist.«

Sandra sah die beiden irritiert an: »Habt ihr irgendwie ein Problem, ihr zwei?« Beide schüttelten den Kopf.

»Kann einer von euch mit mir kommen, um den Fall aufzunehmen? Kai Nolde und Uwe Kröger sind beide schon am Neustädter Bahnhof unterwegs.«

Sascha warf Leo einen waidwunden Blick aus großen Kulleraugen zu.

»Okay, ich gehe mit«, sagte der zu ihm, »unter der Bedingung, dass du mir sofort Bescheid gibst, wenn Dr. Gräber sich mit den Ergebnissen meldet. Und außerdem solltest du mit Fotos von dem Toten mal bei unseren Kontaktleuten im Drogenmilieu vorfühlen. Vielleicht kennt ihn jemand.«

Sascha nickte und klickte die Seite mit den Wohnungsanzeigen weg.

Leo schlurfte hinter Sandra her und schnappte sich beim Hinausgehen seine Jacke. Sandra holte Laika aus ihrem Büro und warf sich einen beigen Trenchcoat über. Dazu trug sie ein moosgrünes Strickkleid und flache Schuhe. Leo konnte sich noch nicht daran gewöhnen, dass sie neuerdings so brav aussah.

»Deinem neuen Kleiderstil nach zu urteilen, ist dein Olli ein langweiliger Spießer«, sagte er.

Sandra pustete genervt eine Haarsträhne aus dem Gesicht und bemühte sich, Laikas Zerren zu ignorieren. »Olli und ich definieren unsere Beziehung nicht über Äußerlichkeiten. Wenn du glaubst, du musst mit dieser Lederjacke auf die Balz gehen und den harten Macker geben, ist das deine Sache.«

Leo stutzte. Was hatte seine Lederjacke damit zu tun?

»Ich bin doch gar nicht auf der Balz!«

Sandra beeindruckte das nicht: »Ach, ich dachte, das ist dein Hobby?«

»Blödsinn. Aber du mutierst zur langweiligen Öko-Tante.«

Sandra blieb abrupt stehen und sah ihn aufmerksam an. »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Der Urlaub daheim bei Mama war wohl doch nicht so toll, oder wie?«

Da war es wieder! Leo schloss kurz die Augen. Sandra hatte genau den wunden Punkt getroffen, wie so oft, wenn sie sich in die Wolle bekamen. Missmutig trottete er hinter ihr her zum Auto und sagte nichts mehr.

Die Häuser in Dresden-Prohlis waren zwar frisch renoviert, sahen aber trotzdem traurig aus. Die neuen Fassadenfarben und die bunten Balkone konnten nicht über die Eintönigkeit der WBS-70-Plattenbauten hinwegtäuschen.

»Oh weia, ist das hässlich! Platte pur«, sagte Leo. Sandra sah ihn mit gerunzelter Stirn an.

»Ich bin in genauso einer Plattensiedlung aufgewachsen, allerdings in Gorbitz. Erzähl mir nicht, dass ihr so was in Bayern nicht habt.«

Leo dachte an die Betonwüsten in Neu-Perlach und gab zu, dass solche Bausünden durchaus auch in Münchner Satellitenstädten zu finden seien. Aber dass Sandra in so einem uniformen Wohnblock aufgewachsen war, interessierte ihn.

»In so einer Hochhaussiedlung warst du doch nie allein, oder?«

»Nee, wirklich nicht. Wenn ich für mich sein wollte, musste ich mich aufs Klo verziehen. Stell dir das bloß mal vor: Mit vier Kindern in einer Drei-Raum-Wohnung. Meine Brüder hatten ein Zimmer und ich musste mit meinen Eltern im anderen Schlafzimmer schlafen, bis ich zehn Jahre alt war. Es war absolut grässlich.«

Obwohl er sich immer Geschwister gewünscht hatte, dachte Leo bei sich, dass es durchaus auch Vorteile hatte, wenn man als Einzelkind aufwuchs.

»Und was machen deine drei Brüder so?«, wollte Leo wissen.

»Die Welt verbessern«, sagte sie kurz angebunden.

»So wie du?«, fragte Leo.

»Nein, ein bisschen anders. Der älteste ist Aktivist bei Greenpeace, der zweite ist Lehrer und der dritte ist Sozialarbeiter.«

Sie fanden die Adresse nach kurzem Suchen und parkten den Wagen vor dem bunt bemalten Müllhäuschen.

Sandra ließ Laika kurz auf der Grünfläche vor den Häuserblocks herumtollen, während Leo an der riesigen Klingelanlage den richtigen Knopf suchte.

»Der Hund kann aber nicht mit«, sagte er streng, als Sandra Laika an die Leine nahm und zu ihm kam.

Ärgerlich kehrte sie um und sperrte den Welpen in den Dienstwagen.

»Wenn sie was anstellt, bist du schuld«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Erzieh deinen Hund ordentlich, dann gibt es keine Probleme«, entgegnete Leo.

Sandra ging das zu weit: »Hör auf mir zu erklären, was ich tun und lassen soll! Ich brauche nicht noch einen großen Bruder.«

»Aber …« Nach einem Blick in Sandras Gesicht beschloss Leo, den Mund zu halten. Schweigend wandte er sich zur Haustür.

Sandra drückte auf den Klingelknopf und kurz darauf sprang die Haustür mit einem Summen auf. Sie gingen in den ersten Stock, wo schon ein magerer Mann mittleren Alters in einem schwarzen Sweatshirt mit goldener Designeraufschrift im Gang wartete.

»Dietmar Böhmer?«, fragte Sandra.

»Nu, genau der«, antwortete er und bat sie in die Wohnung. Im engen Flur hing eine moderne Tapete vor weißen Dielenmöbeln. Das Wohnzimmer linkerhand war so voll mit Zigarettenqualm, dass man die Sitzgruppe und den großen Flachbildschirm nur erahnen konnte.

 

Sandra musste sofort husten. »Kann man hier vielleicht mal die Fenster aufmachen und lüften?«, fragte sie Dietmar Böhmer. Der guckte sie erstaunt an.

»Lüften? Ach so, ja, das macht normalerweise immer de Christine.« Er hustete trocken. »De Christine is meine Frau. Also, die is einfach weg. Und die kümmert sich um solche Sachen.«

»Also machen Sie die Fenster jetzt auf oder nicht?«, fragte Sandra in scharfen Ton und hüstelte noch mal.

»Normalerweise macht das de Christine …«, begann Böhmer wieder.

Leo sah, dass das zu nichts führte. Er ging ans Fenster und öffnete beide Flügel. Schon nach kurzer Zeit konnte man die Luft im Zimmer wieder atmen. Sandra setzte sich ungefragt auf die Couch und packte das Formular für die Vermisstenanzeige aus. Auch Leo und Dietmar Böhmer setzten sich. Zunächst nahm Sandra die Personendaten auf – Alter, Größe, Augenfarbe.

»Seit wann genau vermissen Sie denn Ihre Frau?«, fragte Sandra dann.

»Weeß ich ni«, sagte Dietmar Böhmer und zündete sich eine Zigarette an. Der Aschenbecher auf dem Tisch war am Überquellen. »Ich arbeite von Donnerstag bis Montag als Wachmann in der Fabrik. Da geh ich abends um acht aus dem Haus und komme morgens um sechs wieder. Als ich am Samstagmorgen heimkam, war se noch da. Am Sonntag aber ni mehr.«

»Könnte es sein, dass Ihre Frau bei Freunden ist oder bei Verwandten? Haben Sie da schon überall nachgeforscht?«, fragte Sandra.

Dietmar Böhmer nickte. »Erst hab ich gedacht, die is mit Chantal unterwegs, und hab mir nix gedacht, Essen war ja da und Bier auch.«

»Wer ist Chantal?«, wollte Sandra wissen.

Leo sah sich inzwischen die Wohnungseinrichtung an. Dunkler Wohnzimmerschrank, schwere Ledersessel, alles ein wenig zu wuchtig für den eher kleinen Raum. Überall auf den waagerechten Flächen stand bunter Nippes: Porzellanfiguren, Glastiere, Keramik-Eulen auf Stickdeckchen, eine von diesen Wetterstationen, die per Farbe der Figuren anzeigen sollten, wie das Wetter werden würde. Hier war ganz eindeutig eine eifrige Hausfrau am Werk gewesen, während die einzigen Gegenstände, die zu Dietmar Böhmer gehörten, die offene Bierflasche und die Zigarettenschachtel waren.

»Chantal is unsere Tochter. Die wohnt zwei Blöcke weiter, da hinten.« Er deutete aus dem Fenster nach links. »Aber da is die Christine ni. Und die Chantal auch ni, jedenfalls geht se ni ans Telefon.«

»Haben Sie da nicht mal vorbeigeschaut?«, hakte Sandra nach.

»Nee. Die hat ihr Telefon immer dabei. Die geht immer ran.«

»Das bedeutet, Ihre Tochter ist eigentlich auch vermisst, oder?«

Dietmar Böhmer zuckte hilflos die Schultern. »Nu, wenn Se das so sehen …«

Leo hielt es nicht mehr auf der pflaumenblauen Couch.

»Vielleicht ist den beiden Frauen ja was passiert und sie liegen in der Wohnung. Geben Sie uns den Schlüssel, wir gehen hin und sehen nach.«

»Was passiert?« Dietmar Böhmer schüttelte irritiert den Kopf. »Nee, das gloob ich ni. Oder doch? Ich weeß gar ni, wo die Christine den Schlüssel von der Chantal hat. Wahrscheinlich im Vorsaal.«

Im Vorsaal? Leo fragte sich, wo in dieser Wohnung bitte schön ein Saal sein sollte. Böhmer führte die beiden Beamten zu einem Schränkchen im Flur und zog nacheinander mehrere Schubladen auf. In einer lagen mehrere Schlüsselbunde zwischen ordentlich gefalteten Staubtüchern, Notizzetteln und Handschuhen. An keinem der Bündel hing ein Namensschild. Also nahmen sie einfach alle mit und machten sich auf den Weg in die Wohnung von Chantal Böhmer. Sie mussten nur um zwei Ecken zum übernächsten Häuserblock, der nicht gelb, sondern in leuchtendem Grün gestrichen war. Die Balkone waren auch hier bunt aufgepeppt. Am Klingelbrett herrschte ein wildes Tohuwabohu von handgeschriebenen und gedruckten Zetteln, die Namen aus aller Herren Länder trugen. Einer der Klingelknöpfe gehörte einer »C. Böhmer«.

Leo versuchte es mit heftigem Läuten, aber niemand öffnete.

»Sehen Se«, sagte Dietmar Böhmer, »de Chantal ist auch ni zuhause. Da hätten wir ni extra für herlaufen müssen.« Er schnaufte schwer nach dem kurzen Weg. »Also, Herr Böhmer«, wies ihn Sandra zurecht, »man muss doch nachsehen.« Sie nickte Leo zu.

»Also Plan B«, sagte der und probierte die Schlüssel durch. Schon der zweite am Schlüsselbund passte.

Die Einraumwohnung sah aus wie ein Kleinmädchen-Zimmer. Auf jeder ebenen Fläche stapelten sich plüschige Kuscheltiere in unterschiedlichen Größen und Farben. Die kleine Küche war ein Chaos aus aufgerissenen Pizza-, Chips- und Fertiggericht-Packungen. Im kleinen Bad musste Leo erst über einen Haufen Wäsche steigen, bevor er den Duschvorhang vor der Badewanne zurückziehen konnte. Auf Chantal und Christine Böhmer fand sich allerdings nicht der kleinste Hinweis. Auf dem Tisch vor der Schlafcouch stapelten sich Kekspackungen und halbleere Coladosen, dazwischen lagen die Fernbedienung und einige Modemagazine. Sandra versuchte in dem Chaos irgendetwas zu entdecken, was Aufschluss über Chantals Abwesenheit geben könnte, fand aber -weder Notizen noch ungewöhnliche Gegenstände.

»Na, verreist oder ausgewandert scheint sie jedenfalls nicht zu sein, hier sieht es nach ganz normaler Unordnung aus«, meinte sie resigniert.

»Hat Ihre Tochter ein Auto? Und ist Ihre Frau mit einem Fahrzeug unterwegs?«, fragte Leo, als sie zurück in Böhmers Wohnung gingen.

Der schüttelte den Kopf. »Nee, unser Clio steht da vorne auf dem Parkplatz.« Er deutete auf einen weißen Renault. »De Chantal hat kein Auto.«

»Haben Sie Namen von Chantals Freunden, Leute, bei denen sie sein könnte?«, fragte Sandra, als sie wieder in der Wohnung waren.

»Nee, keene Ahnung. Da müssen Se de Christine fragen.«

Sandra warf Leo einen genervten Blick zu.

»Können Sie uns Fotos von Ihrer Frau und Ihrer Tochter geben?«

Böhmer nickte, stand dann aber wieder unschlüssig in seinem Flur. »Wo hat se denn die Fotos?«

»Da sollten wir wohl auch lieber Ihre Frau fragen, oder?«, bemerkte Sandra schnippisch, aber Böhmer lächelte sie nur dankbar an. »Ja, die kennt sich hier viel besser aus als ich«, sagte er nickend.

»Ach was?« Sandras Stimmte triefte vor Sarkasmus.

Sie begann im Wohnzimmer systematisch die Schranktüren zu öffnen. »Haben Sie Ihre Fotos in einem Album oder in einem Karton?«, fragte sie über die Schulter.

»Hm«, Böhmer überlegte kurz, »ich gloob, in so ’nem Karton.«

Leo beteiligte sich an der Suche und bald hatten sie die Pappkisten gefunden. Es stand jeweils ordentlich »Fotos« und die jeweilige Jahreszahl drauf. Sandra wählte den neuesten Karton und schob ihn Dietmar Böhmer hin. »Bitte suchen Sie uns ein paar Fotos raus, auf denen man Ihre Frau und Ihre Tochter gut erkennen kann.«

Böhmer ließ sich in seinen Sessel fallen, klemmte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und begann die Bilder durchzusehen. Dann zog er zwei Aufnahmen heraus. Sie zeigten eine etwa fünfundvierzig Jahre alte, mollige Frau mit auffälliger Frisur und freundlichem Lächeln. Neben ihr saß ihre ziemlich übergewichtige Tochter, die den Betrachtern mit strahlendem Lächeln ein mit Glitzersteinen übersätes Handycover entgegenhielt.

»Das war Ostern«, sagte Böhmer. »Christine hat Chantal das Glitzerdings für ihr Telefon geschenkt. Da war se vielleicht happy.«

Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war unverkennbar, obwohl Chantal wahrscheinlich das Doppelte wog und blond war, während Christine einen auffälligen Kurzhaarschnitt mit roten Haaren und schwarzen Seitenpartien trug.

Sandra studierte das Foto aufmerksam. »Sehen die beiden jetzt immer noch so aus? Ich meine, speziell die Haarfarben?«

Dietmar Böhmer zog die Stirn in Falten und hustete. »Also, so genau weeß ich das ni«, antwortete er schließlich. »De Chantal hab ich schon länger ni gesehen und de Christine, also, ich gloob, die hat de Haare jetzt …«, er überlegte noch einmal, »… erdbeerblond.«