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Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Dritter Teil

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Neu-Geltow



Seit drei Menschenaltern schöpft ihr

Aus dem Meere dieser Weisheit;

Habt ihr keinen Tropfen, laßt mich

Wissen trinken, denn mich dürstet.




Scherenberg

(Der letzte Maurenkönig)

Es dämmerte und die ersten Sterne zogen blaß herauf, als wir unsern Heimweg antraten. Unser Spezialführer auf dem Alt-Geltower Kirchhof blieb zurück. Welche Gegensätze hatten eben zu uns gesprochen! Ein gelehrter, bienenfleißiger Sammler; ein Lebemann, „der die Bibliothek seines Vaters in den

Keller

 trug“, und als Dritter ein Parkhüter, der in den Bäumen seines Wildparks so gut Bescheid wußte, wie sein Nachbar in seinen Büchern. Ein schlichtes Dasein, diese Parkhüter-Existenz, und doch war der blutige Ernst des Lebens erschütternder an sie herangetreten, als an das Leben dessen, der im Granatregen von Giurgewo spazieren gegangen war und dreizehn Duelle als Gesandter in Rio auf einmal kontrahiert hatte.



So plauderten mein Gefährte und ich, bis die wechselnde Szenerie unserm Gespräch eine andere Richtung gab. Wir hielten immer noch die Dorfstraße inne; aber das Dorf selbst schien ein anderes geworden, und in der Tat waren wir aus

Alt

-Geltow in

Neu

-Geltow hineingeraten. Der Unterschied war so groß, daß er sich uns aufdrängen mußte. Der dörfische Charakter hatte aufgehört, Sommerhäuser waren an seine Stelle getreten; klein, einstöckig, aber von großer Sauberkeit, und überall da, wo ein Vorgarten war oder wo sich Caprifolium- und Rosenbüsche um Tür und Fenster zogen, voll Anmut und malerischem Reiz. In Front der Häuschen standen gedeckte Tische: Kabaretts, Fruchtschalen mit Erd- und Himbeeren gefüllt, Milchsatten und geriebenes Schwarzbrot, während in der Mitte der dichtbesetzten Tafel ein Tee-Apparat und eine Milchglas-Lampe aufragte, deren Flamme ohne jegliches Flackern brannte. Denn kein Luftzug ging. Dies Bild wiederholte sich von Haus zu Haus, und ihre Gesamtheit erinnerte mich lebhaft an kleine Ostsee-Badeörter, wo an Juli-Abenden die Binnenländischen von Spree und Havel in Front der Schiffer- und Lotsen-Häuser sitzen und sich an Blaubeeren mit Milch erlaben, während irgend eine Flagge oder ein roter Wimpel von dem Frontgiebel des Hauses niederhängt.



Die Szenerie dieselbe, aber nicht die Menschen. Während in jenen Badeörtern das

Weibliche

 prävaliert und die scharf akzentuierten Laute, die jetzt Agathen und Elisen, jetzt Helenen und Klementinen zur Ordnung rufen, schon auf dreißig Schritt keinen Zweifel darüber lassen, daß hier eine Residenzmutter sich niedergelassen hat, – wir sagen, während das

Weibliche

, die Glucke mit den Küchlein, die Signatur jener baltischen Badeplätze ist, herrscht hier das

Männliche

 bis zu einem Grade vor, daß man Neu-Geltow als ein ausgebautes Mönchskloster bezeichnen könnte, als eine Benediktiner-Genossenschaft, deren Zellen in Gestalt kleiner Häuschen neben einander gestellt worden sind.



Ich habe diese Auswahl unter den Mönchsorden mit gutem Vorsatz getroffen, denn die Benediktiner sind die Studier-Mönche und was hier in diesen Neu-Geltower Zellen haust und wohnt, das sind in der Tat Wissenschafts-Beflissene, das sind junge Männer, die sich an dieser stillen, abgelegenen Stelle „Studierens halber“ aufhalten.



Es hat damit folgende Bewandtnis.



In Preußen (wie in China) ist nichts ohne Examen! Alle Examina sind Klippengrund, besonders die juristischen. Aber wenn schon das Examen des

Gerichts

-Assessors den gefürchteten „Needles“ entspricht, in deren Umkreis die Schiffe zu Hunderten liegen, so entspricht das Examen des

Regierungs

-Assessors den Goodwin-Sands, wo die Mastspitzen der Verlorengegangenen so dicht aufragen, wie die Kreuze auf einem großstädtischen Kirchhof.



Solche und ähnliche Betrachtungen mochten es sein, die vor etwa zwanzig Jahren einen Dr. Förstermann anspornten, der bedrängten Menschheit zu Hilfe zu eilen. Dem Plan folgte die Ausführung. In das schöne, beinah schloßartig gelegene Haus des alten Meusebach zog der junge Doktor ein; die Bibliothekzimmer wurden zu Klassen und Auditorien, und ein Institut entstand, das sich, „einem tiefgefühlten Bedürfnis entsprechend,“ rasch emporarbeitete und die Zahlen und Tabellen der Schiffbruch-Statistik erheblich reduzierte, während Neu-Geltow mehr und mehr jenen Klostercharakter annahm, den wir vorstehend bezeichnet haben. Auch ein Gelübde hatten die Eintretenden zu leisten; keins der drei großen, am wenigsten das der Armut, wohl aber das

eine

: jede der beim Examen an sie gerichteten Fragen gewissenhaft zu notieren und mitzuteilen. Diese Fragen, nunmehr Eigentum des Instituts, wurden in das goldene Buch des Hauses eingetragen und was in Upsala der Codex argenteus, oder in London die Tischendorfsche Bibel ist, das wurde im Förstermannschen Institut Codex aureus. An ihm hing alles; er wog alles andere auf. Es war der Koran des Omar. „Wenn in anderen Büchern dasselbe steht, so sind sie überflüssig; wenn in ihnen etwas anderes steht, so sind sie unbrauchbar,

gefährlich

.“ Wie die Welt auf der Schildkröte ruht, so ruhte das Institut auf diesem Buch. Und doch kam es anders, als Dr. Förstermann gedacht hatte.



Die Zeit schritt vorwärts, Preußen mit, und mit ihm – seine Steuern. Ruhm war nie billig. An Dr. Förstermanns Tür klopfte die „Einschätzungskommission“, klopfte häufiger und immer stärker, und müde der drohenden Schraube ohne Ende, schloß er das Institut. Die Studiermönche von Neu-Geltow waren haupt- und führerlos. Der Orden schien seiner Auflösung nahe.



Aber er schien es nur. Ein junger begnadeter Referendarius, der noch nicht lange genug da war, um den Wald vor Bäumen nicht zu sehen, trat in den Kreis der bemoosten Häupter und sprach wie folgt: „Brüder! Ein Blitz aus heiterm Himmel hat unsern Orden getroffen. Wir sind wie gelähmt. Aber verloren ist nur, was sich selber verloren gibt. Ich schlage vor: geben wir uns

nicht

 verloren. (Beifall. Ironisches Lächeln.) Ich wiederhole: geben wir uns

nicht

 verloren. Kommilitonen, wir haben das goldene Buch. (Nein, nein! ja, ja!) Wir

haben

 das goldene Buch. Wir haben nicht den toten Einband, (gut, gut!) aber wir haben alles, was lebendig an diesem Buche ist, wir haben – die

Fragen

. Wir kennen sie, sie sind uns gegenwärtig. Was soll uns die Aufzeichnung? Was soll uns das Geschriebene? Wir haben die

Tradition

. Wir sind führerlos, führen wir uns selbst. Der Staat,

unser

 Staat über alles. ‚L’état c’est nous!‘“



Eine außerordentliche Bewegung hatte sich aller bemächtigt. „Das Ei des Kolumbus!“ riefen einige der Bemoosten. Man schüttelte sich die Hände, es war eine Szene wie auf der Rütli-Wiese; alte Gelübde wurden erneuert und was mehr ist, man hielt sie. Neu-Geltow blieb. Die villenartigen Häuschen, die, wenn der Exodus Referendariorum eine Wirklichkeit geworden wäre, längst ihr zierliches Blütengerank mit Kürbis und Stangenbohnen vertauscht haben würden, verblieben in ihrem Rosen- und Geisblattschmuck, und nichts war geschehen als – die Verfassung war geändert. Die monarchische Spitze war abgebrochen, errungen war eine freie Schweiz.



Während wir über Dies und Ähnliches sprachen, hatten wir die letzten Häuser von Neu-Geltow erreicht, und müde vom Marschieren, dazu trocken in der Kehle, setzten wir uns auf eine am Ackerland liegende Walze, um hier aus freier Hand ein etwas verspätetes Vesperbrot einzunehmen. Ich richtete dabei allerhand Fragen an meinen Gefährten, der, wie sich der Leser aus früheren Kapiteln freundlich erinnern wird, diese Territorien zwischen Havel und Schwielow-See wie seine zweite Heimat kannte, und ließ mir unter immer wachsendem Interesse von den sozialen Zuständen dieser Kolonie erzählen, von Parteien und Gegensätzen, von Krieg und Frieden, von Reunions und Festlichkeiten und von den delikaten Beziehungen zwischen Wirten und Mietern.



„Diese Beziehungen,“ so nahm der Gefährte eingehender das Wort, „sind sehr gut, wie Sie sich denken können; es wird hier studiert, aber es wird doch auch

gelebt

, und überraschlich ist mir immer nur das

Eine

 erschienen, daß, bei aller persönlichen Hinneigung zu der unter ihnen weilenden jungen Rechts- und Regierungs-Welt, die Hauswirte und Villenbesitzer, die Autochthonen von Neu-Geltow, eine entschiedene Vorliebe für höchst unjuristische Aushilfen an den Tag legen. Ob die in den Zimmern ihrer Mieter aufgehäuften Wälzer und Pandektenstöße die Frage in ihnen angeregt haben: ‚wer soll da Recht finden?‘ – gleichviel, es ist eine Tatsache, daß sie eine Art Passion für das aide toi même und für ein ‚abgekürztes Gerichtsverfahren‘ haben.“



„Sehen Sie hier drüben das Haus neben dem Eiskeller?“ fuhr mein Reisegefährte fort. Ich nickte. „Nun gut; in dem zweiten Hause dahinter, mit den Jalousien und der kleinen Veranda, wohnen zwei Brüder, Kaufleute ihres Zeichens, die sich aus den Geschäften wohl oder übel zurückgezogen haben und als Zimmervermieter und Hoteliers kleineren Stils in der frischen Luft von Neu-Geltow das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden trachten. Sie heißen Robertson, erzählen von einem rätselhaften Urgroßvater, der aus Schottland hierher verschlagen wurde, und ihre Sofas mit Tartan in den Clan-Farben der Robertsons überzogen. Ihre Vornamen sind Wilhelm und Robert, wobei jener, wenn es sich darum handelt ‚to do the honors for all Scotland‘ im Vorteil ist, indem er sich beliebig aus einem Wilhelm in einen William umwandeln kann, während der jüngere durch eine Art Sprachtücke unter allen Umständen ein Robert bleibt. Er hat dafür den Vorzug der Alliteration und eines gewissen Skandinavismus: Robert Robertson.



Sie müssen diese Abschweifung meiner Erzählung verzeihen. Aber die beiden Brüder sind eben die Helden meiner Geschichte, und wenn es auch eine bekannte Sache ist, daß man seine Lieblingsfiguren am besten durch Tatsachen schildert, so werden Sie doch eine kurze Charakterisierung gelten lassen.

 



Robert, zu der Zeit, wo meine Geschichte spielt, hatte die linke, Wilhelm die rechte Seite des Hauses inne. Sie können deutlich die Giebelfenster des Letzteren sehen. Es war an einem frischen Oktobermorgen, die Sonne war noch nicht heraus, als Robert an die Jalousien von seines Bruders Schlafzimmer pochte. Dieser ließ nicht lange auf sich warten und öffnete: ‚Wilhelm, sie sind bei Dir eingebrochen.‘ Das war ein Donnerwort.



Aber über Wilhelm kam jetzt der alte Geist seiner Heimat; die Schotten sind scharf in Mein- und Dein-Fragen; er sprang in die Kleider, dann in den Hof. Wer ihn gesehen hätte, hätte ausrufen müssen: jeder Zoll ein William. Der Einbruch war rasch konstatiert: der Dieb war mit Hilfe einer Feuerleiter in das oberste Giebelfenster, da wo Sie jetzt das Licht sehen, eingestiegen, hatte dem nachbarlichen Rauchfang drei Schinken und sieben Würste, einer auf dem Boden stehenden Truhe ein Bettenbündel entführt und war dann auf demselben Wege verschwunden, auf dem er gekommen war. Die Feuerleiter wieder an ihren Platz zu bringen, hatte er nicht für nötig befunden.



Einen Augenblick schien guter Rat teuer, als Robert, ohne eine Ahnung von der Wichtigkeit seiner Bemerkung zu haben, vor sich hinmurmelte: ‚und der

Kinderwagen

 ist auch weg.‘



Der ältere Bruder richtete sein Auge nach der Schuppen-Ecke, wo sonst der Wagen zu stehen pflegte; die Stelle war leer; er stieß die linke Faust triumphierend in die Höh und schrie: ‚Jetzt kriegen wir ihn.‘ Es war ersichtlich, daß der Dieb sich des Wagens bemächtigt hatte, um seine Beute rascher und bequemer fortschaffen zu können; dem Bestohlenen aber stand es auf einem Schlag vor der Seele, daß er an der

Apartheit der Räderspur eines Kinderwagens

, die Spur des Feindes und endlich ihn selber finden würde.



‚Sollen wir Anzeige machen?‘ unterbrach Robert.



‚Ei, was, Anzeige. Das wissen wir in Neu-Geltow besser.‘ Damit sprang er ins Haus zurück, stülpte sich eine Filzkappe auf und stand im nächsten Moment mit zwei Dornstöcken wieder auf dem Hof. ‚Da nimm.‘



‚Willst Du nicht lieber die Pistolen …‘



‚Nein, ein Knüttel geht immer los.‘ Damit trat er auf die nach Potsdam führende Chaussee. Der Bruder folgte.



Nun begann ein Suchen, wie es seit den Tagen des ‚letzten Mohikaners‘ nicht mehr erlebt worden ist. Alle Künste, die Falkenauge in seinen besten Momenten geübt, alle Instinkte, die den Unkas und Chingachgook jemals siegreich geleitet, wenn sie aus einem abgebrochenen Tannenzweig oder aus dem Tritt des Mokassins die Spur zu entdecken und die schon verlorene wieder aufzufinden wußten, alle diese Künste und Instinkte sie wurden überboten von dem, was jetzt William Robertson in dieser frühen Oktoberstunde leistete. Das Terrain war das schwierigste von der Welt. Es hatte in der Nacht geregnet, und der Staub, der sonst auf der Chaussee liegt, war weggespült worden. Aber wenn die harte Steinstraße keine Spur herausgab, so zeigte sie sich dafür allemal da, wo der Kinderwagen momentan in den sogenannten Sommerweg eingebogen war, wie in eine Form gegossen. Die Brüder sprachen kein Wort, aber in solchem Augenblick begrüßten sich ihre Blicke.



So hatten sie die Spur bis zum Tore verfolgt; hier mußte sich’s entscheiden. War er ein Potsdamer und hier in die Stadt

hinein

gefahren, so waren alle Mühen umsonst gewesen; war er aber ein

Berliner

 (und allerhand Zeichen hatten schon dafür gesprochen), war er statt

in

 die Stadt, um diese

herum

 und auf die Berliner Chaussee gebogen, so mußte er eingeholt werden. Richtig; da war die Spur. Der Sieg gestaltete sich mutmaßlich nur noch zu einer Frage der Zeit.



Also weiter. Es war jetzt schon um die neunte Stunde. Als sie eben die große Glienicker Brücke passiert hatten, sahen sie eine Schwadron Garde-Husaren des Weges kommen. ‚Habt ihr nicht einen Mann und einen Kinderwagen gesehen?‘ ‚Ja wohl; er muß jetzt hinter Drei-Linden sein, auf Neu-Zehlendorf zu.‘



Die Hoffnung sank wieder. Der Vorsprung war zu groß. Die Kräfte ließen nach. In diesem kritischen Moment indessen kam von einem der Etablissements her eine Morgendroschke gefahren, die nach Potsdam zurück wollte. ‚Halt! Zwanzig Silbergroschen bis Neu-Zehlendorf.‘ Der Kutscher rührte sich nicht. ‚Einen Taler.‘ Er nickte. ‚Noch ein Trinkgeld, Kutscher, aber nun laßt euren Wettrenner laufen.‘



Was soll ich die Katastrophe länger hinausschieben! Sie erraten ohnehin den Ausgang. In einem Chausseegraben zwischen Drei-Linden und Zehlendorf, hart zur Linken des Weges, saß der Gegenstand dieser energischen Suche und frühstückte, eine der geraubten Speckseiten neben sich, mit der ganzen Ruhe eines guten Gewissens, während der Kinderwagen mit seinem Bettenbündel wie das Junge eines Frachtwagens mitten auf der Chaussee stand. Dieser letztere Umstand sollte dem arglosen Frühstücker besonders verhängnisvoll werden, denn die gestörte Straßen-Kommunikation ließ nunmehr ein Ausbiegen nach links hin oder das ‚Gewinnen der inneren Linie‘, wie die Strategen sagen würden, völlig unverfänglich erscheinen. So gelang ein totaler Überfall. Im Moment des Vorbeifahrens stürzten sich die beiden Brüder aus der schon vorher leise geöffneten Droschkentür auf ihr Opfer, entrissen ihm, unter Geltendmachung ihrer ‚immer los gehenden Waffe‘, das Klappmesser, das der Überraschte einen Augenblick Miene machte à deux mains zu gebrauchen, und luden ihn dann ein, den Mittelplatz in ihrer Droschke einzunehmen. ‚Er werde wohl müde sein.‘ Der Kinderwagen wurde angehakt und so ging es im Triumph rückwärts, über die Glienicker Brücke. ‚

Jetzt

 wollen wir Anzeige machen‘, rief William seinem Bruder zu. ‚

Wer die Doktors kennt

, kuriert sich erst selber.‘



Da haben Sie meine Geschichte. Sie mag Ihnen den Satz illustrieren, womit ich anfing, die Neigung zum ‚abgekürzten Verfahren.‘“



Unser Vesperbrot war längst beendet; wir erhoben uns von unsrer Walze und schritten munter in den Forst hinein. Es dunkelte stark, trotzdem die Sterne jetzt heller schienen. Wo eine Lichtung war und ein mäßig heller Schein auf den Weg fiel, musterte ich unwillkürlich die Gleise, ob nicht eine Kinderwagen-Spur sie durchschnitt oder begleitete.



Werder

Die Insel und ihre Bevölkerung. Stadt und Kirche. „Christus als Apotheker“



Es möchte sich niederneigen

In die spiegelklare Flut,

Es möchte streben und steigen

In der Abendwolken Glut.



Uhland

* ⁎ *



I do remember an apothecary

And here about he dwells;… green earthen pots

Where thinly scatter’d to make up a show.



Shakespeare

Der Reisende, den von Berlin aus sein Weg nach

Westen

 führt, sei es um angesichts des Kölner oder auch schon des Magdeburger Domes zu landen, hat – wie immer ablehnend er sich gegen die Schönheiten von Mark Brandenburg verhalten möge – wenigstens zu Beginn seiner Fahrt, so lange die grünen Hänge von Potsdam ihm zur Seite bleiben, einige Partien zu durchfliegen, die er nicht Anstand nehmen wird, als Oasen gelten zu lassen. Wenn aber all’ die lachenden Bilder zwischen Schloß Babelsberg und dem Pfingstberg, zwischen der Pirschheide und dem Golmer Bruch ihn unbekehrt gelassen hätten, so würde doch das prächtige See- und Fluß-Panorama ihn entzücken müssen, das die große Havelbrücke eine Meile

westwärts

 von Potsdam vor ihm auftut, und das ihm nach rechts hin eine meilenbreite, segelbedeckte Fläche, nach links hin eine giebelreiche, rot und weiß gemusterte, in dem klaren Havelwasser sich spiegelnde gotische Kirche zeigt. Um sie herum ein dichter Häuserkranz: Stadt

Werder

.



Stadt Werder, wie ihr Chronist Ferdinand Ludwig Schönemann in einem 1784 erschienenen Buche erzählt, liegt auf einer „gänzlichen Insel.“ Diese umfaßt sechsundvierzig Morgen. „Zur Sommerzeit, wenn das Wasser zurückgetreten ist, kann man die Insel in einer Stunde umschreiten; sie aber zu umfahren, sei es in einem Kahn oder einer Schute, dazu sind zwei Stunden erforderlich. Ein solches Umfahren der Insel an schönen Sommerabenden gewährt ein besonderes Vergnügen, zumal wenn des Echos halber die Fahrt von einem

Waldhornisten

 begleitet wird.“ Der Chronist hat hier eine romantische Anwandlung, die wir hervorgehoben haben wollen, weil sie in seinem Buche die einzige ist.



Der Boden der Insel ist fruchtbar, größtenteils fett und schwarz; nur ein geringer Strich von sehr unpoetischem Namen ist morastig. Was die Entstehung der Stadt angeht, so heißt es, daß sich die Bewohner eines benachbarten Wendendorfes, nach dessen Zerstörung durch die Deutschen, vom Festlande auf die Insel zurückgezogen und hier eine Fischerkolonie gegründet hätten. „Doch beruht – wie Schönemann sinnig hervorhebt – die

Gewißheit

 dieser Meinung bloß auf einer

unsicheren

 Überlieferung.“



Unsicher vielleicht, aber nicht unwahrscheinlich. Das umliegende Land wurde deutsch, die Havelinsel blieb wendisch. Die Gunst der Lage machte aus dem ursprünglichen Fischerdorfe alsbald einen Flecken (als solchen nennt es bereits eine Urkunde aus dem Jahre 1317) und abermals hundert Jahre später war aus dem Flecken ein Städtchen geworden, dem Kurfürst Friedrich II. bereits zwei Jahrmärkte bewilligte. So blieb es in allmählichem Wachsen und seine Insellage wurde Ursache, daß keine Rückschläge erfolgten und Stadt Werder durch allen Zeitenwirrwarr hindurchgehen konnte, ohne die Kriegsrute zu empfinden, die für das umliegende Land, wie für alle übrigen Teile von Mark Brandenburg oft so hart gebunden war. Der dreißigjährige Krieg zog wie ein Gewitter, „das nicht über den Fluß kann“ an Werder vorüber; die Brücke war weislich abgebrochen, jedes Fahrzeug geborgen und versteckt, und wenn der scharf eintretende Winterfrost die im Sommer gewahrte Sicherheit zu gefährden drohte, so ließen sich’s die Werderaner nicht verdrießen, durch beständiges Aufeisen der Havel ihre insulare Lage wieder herzustellen. So brachen nicht Schweden, nicht Kaiserliche in ihren Frieden ein und es ist selbst fraglich, ob der „schwarze Tod“, der damals über das märkische Land ging, einen Kahn fand, um vom Festland nach der Insel überzusetzen.



Das war der Segen, den die Insellage schuf, aber sie hatte auch Nachteile im Geleit und ließ den von Anfang an vorhanden gewesenen Hang, sich abzuschließen, in bedenklichem Grade wachsen. Man wurde eng, hart, selbstsüchtig; Werder gestaltete sich zu einer Welt für sich, und der Zug wurde immer größer, sich um die Menschheit draußen nur insoweit zu kümmern, als man

Nutzen

 aus ihr ziehen konnte. Diese Exklusivität hatte schon in den Jahren, die dem dreißigjährigen Kriege vorausgingen oder mit ihm zusammenfielen, einen hohen Grad erreicht. In Aufzeichnungen aus jener Zeit finden wir folgendes. „Die Menschen hier sind zum Umgange wenig geschickt und gar nicht aufgelegt, vertrauliche Freundschaften zu unterhalten. Sie hassen alle Fremden, die sich unter ihnen niederlassen, und suchen sie gern zu verdrängen. Vor den Augen stellen sie sich treuherzig, hinterm Rücken sind sie hinterlistig und falsch. Von außen gleißen sie zwar, aber von inwendig sind sie reißende Wölfe. Sie sind sehr abergläubisch, im Gespenstersehen besonders erfahren, haben eine kauderwelsche Sprache, üble Kinderzucht, schlechte Sitte und halten nicht viel auf Künste und Wissenschaften.

Arbeitsamkeit und sparsames Leben

 aber ist ihnen nicht abzusprechen. Sie werden selten krank und bei ihrer Lebensart sehr alt.“



War dies das Zeugnis, das ihnen um 1620 oder 1630 ein unter ihnen lebender „Stadtrichter“, also eine beglaubigte Person, ausstellen mußte, so konnten einhundertundfünfzig Jahre weiterer Exklusivität in Gutem wie Bösen keinen wesentlichen Wandel schaffen, und in der Tat, unser mehr zitierter Chronist bestätigt um 1784 nur einfach alles das, was Stadtrichter Irmisch (dies war der Name des 1620 zu Gericht sitzenden) so lange Zeit

vor

 ihm bereits niedergeschrieben hatte. Die Übereinstimmung ist so groß, daß darin ein eigentümliches Interesse liegt.



„Die Bewohner von Werder“, so bestätigt Schönemann, „suchen sich durch Verbindungen unter einander zu vermehren und

nehmen Fremde nur ungern unter sich auf

. Sie sind stark, nervig, abgehärtet, sehr beweglich. Sie stehen bei früher Tageszeit auf und gehen im Sommer schon um zwei Uhr an die Arbeit; sie erreichen siebzig, achtzig und mehrere Jahre und bleiben bei guten Kräften. Ihre Kinder gewöhnen sie zu harter Lebensart; im frühesten Alter werden sie mit in die Weinberge genommen, um ihnen die

Liebe zur Arbeit

 mit der Muttermilch einzuflößen. Die Kinder werden bis zum achten oder neunten Jahre in die Schule geschickt, lernen etwas lesen, wenig schreiben und noch weniger rechnen. Die meisten bleiben ungesittet; das kommt aber nicht in Betracht, weil ihnen an dem zeitlichen Gewinn gelegen ist.

Viele natürliche Fähigkeiten sind bei ihnen nicht anzutreffen

 und sie halten fest am Alten. Sie lieben einen springenden Tanz, und machen Aufwand bei ihren Gastmählern. Im übrigen aber leben sie

kärglich und sparsam und suchen sich durch Fleiß und Mühe ein Vermögen zu erwerben

.“

 



Welche Stabilität durch anderthalb Jahrhunderte! Im Übrigen, wenn man festhält, wie tief der Egoismus in aller Menschennatur überhaupt steckt und daß es zu alledem zwei „Fremde“, zwei „Zugezogene“ waren, die den Werderanern die vorstehenden, gewiß nicht allzu günstig gefärbten Zeugnisse ausstellten, so kann man kaum behaupten, daß die Schilderung ein besonders schlechtes Licht auf die Inselbewohner würfe. Hart, zäh, fleißig, sparsam, abgeschlossen, allem Fremden und Neuen abgeneigt, das Irdische über das Überirdische setzend – das gibt zwar kein Idealbild, aber doch das Bild eines tüchtigen Stammes, und das sind sie durchaus und unverändert bis diesen Tag.



Wir haben uns bis hierher ausschließlich mit den

Bewohnern

 beschäftigt; es erübrigt uns noch, in die

Stadt

 selbst einzutreten, und so weit wir es vermögen, ein Bild ihres Wachstums, dann ihrer gegenwärtigen Erscheinung zu geben.



Der nur auf das Praktische gerichtete Sinn, der nichts Höheres als den Erwerb kannte, dazu eine Abgeschlossenheit, die alles Lernen fast mit Geflissentlichkeit vermied, all’ diese Züge, wie wir sie aus doppelter Schilderung kennen gelernt haben, waren begreiflicherweise nicht im stande, aus Werder einen Prachtbau zu schaffen. Er hatte seine

Lage

 und seine

Kirche

, beide schön, aber die Lage hatte ihnen Gott und die Kirche hatten ihnen die Lehniner Mönche gegeben. An beiden waren die Werderschen unschuldig. Was aus ihnen selbst heraus entstanden, was ihr eigenstes war, das ließ allen Bürgersinn vermissen, und erinnerte an den Lehmkaten-Bau der umliegenden Dörfer.



Noch zu Anfang des vorigen Jahrhunderts bestanden die Häuser aus Holz, Lehm und gestakten Wänden, die hölzernen Schornsteine zeigten einen riesigen Umfang und die Giebelfronten waren derart, daß immer eine Etage vorspringend über die andere hing. Die Häuser waren groß, aber setzten sich zu wesentlichstem Teile aus Winkeln, Kammern und großen Böden, selbst aus unausgebauten Stockwerken zusammen, so daß die Familie meist in einer einzigen Stube hauste, die freilich groß genug war, um dreißig Personen bequem zu fassen. Im Einklang damit war alles Übrige: die Brücke baufällig, die Straßen ungepflastert, so daß in den Regenwochen des Herbstes und Frühjahrs die Stadt unpassierbar war und der Verkehr von Haus zu Haus auf Stelzen oder noch allgemeiner auf Kähnen unterhalten werden mußte.



In allem diesem schaffte endlich das Jahr 1786 Wandel. – Dieselben beiden Faktoren: „Das Königtum und die Armee“, die überall hier zu Lande aus dem kümmerlich Gegebenen erst etwas machten, waren es auch hier, die das Alte abtaten und etwas Neues an die Stelle setzen. Die Armee, wie unbequem sie dem Einen oder Andern sein mochte, damals wie heute, sie sicherte, sie bildete, sie baute auf. So auch in Werder.



Es war im Spätsommer genannten Jahres (1736), als das eben damals in Brandenburg garnisonierende 3. Bataillon Leibgarde Befehl erhielt, zur Revue nach Potsdam zu marschieren, und zwar über

Werder

. Der Befehl lautete so bestimmt wie möglich; so blieb nichts anderes übrig, als dem Könige rund und nett zu erklären, daß die

Brücke

 zu Werder unfähig sei, das 3. Bataillon Leibgarde zu tragen. Die Gardemänner aber, etwa im Gänsemarsch, einzeln in die Stadt einrücken zu lassen, dieser Vorschlag wurde gar nicht gewagt; Friedrich Wilhelm I. würde ihn als einen Affront geahndet haben. So gab es denn nur

einen

 Ausweg, eine –

neue Brücke

. Der König ließ sie aus Schatullen-Geldern in kürzester Frist herstellen.



Eine neue Brücke war nun da; aber auch in der Stadt selber sollte es anders werden. Ein Kommando des Leib-Regiments, aus Gründen, die nicht ersichtlich, war in Werder geblieben und im Spätherbst erschien Se. Majestät in der Inselstadt, um über seine einhundertundfünfzig Blauen eine Spezial-Revue abzuhalten. Es war die unglücklichste Jahreszeit: die Karosse des Königs blieb mitten auf dem Markt im Moraste s