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Der Stechlin

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Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Zehntes Kapitel

Während Woldemar und die Domina miteinander plauderten, erst im Tete-a-Tete, dann in Gegenwart von Rentmeister Fix, ritten Rex und Czako (Fritz mit dem Leinpferd folgend) auf Cremmen zu. Das war noch eine tüchtige Strecke, gute drei Meilen. Aber trotzdem waren beide Reiter übereingekommen, nichts zu übereilen und sich's nach Möglichkeit bequem zu machen. »Es ist am Ende gleichgültig, ob wir um acht oder um neun über den Cremmer Damm reiten. Das bißchen Abendrot, das da drüben noch hinter dem Kirchturm steht … Fritz, wie heißt er? Welcher Kirchturm ist es? …« – »Das ist der Wulkowsche, Herr Hauptmann!« – »… Also, das bißchen Abendrot, das da noch hinter dem Wulkowschen steht, wird ohnehin nicht lange mehr vorhalten. Dunkel wird's also doch, und von dem Hohenlohedenkmal, das ich mir übrigens gern einmal näher angesehen hätte (man muß so was immer auf dem Hinwege mitnehmen), kommt uns bei Tageslicht nichts mehr vor die Klinge. Das Denkmal liegt etwas ab vom Wege.«

»Schade,« sagte Rex.

»Ja, man kann es beinah sagen. Ich für meine Person komme schließlich drüber hin, aber ein Mann wie Sie, Rex, sollte dergleichen mehr wallfahrtartig auffassen.«

»Ach Czako, Sie reden wieder tolles Zeug, diesmal mit einem kleinen Abstecher ins Lästerliche. Was soll ›Wallfahrt‹ hier überhaupt? Und dann, was haben Sie gegen Wallfahrten? Und was haben Sie gegen die Hohenlohes?«

»Gott, Rex, wie Sie sich wieder irren. Ich habe nichts gegen die einen, und ich habe nichts gegen die andern. Alles, was ich von Wallfahrten gelesen habe, hat mich immer nur wünschen lassen, mal mit dabei zu sein. Und ad vocem der Hohenlohes, so kann ich Ihnen nur sagen, für die hab ich sogar was übrig in meinem Herzen, viel, viel mehr als für unser eigentliches Landesgewächs. Oder, wenn Sie wollen, für unsre Autochthonen.«

»Und das meinen Sie ganz ernsthaft?«

»Ganz ernsthaft. Und wir wollen mal fünf Minuten wie vernünftige Leute darüber reden. Wenn ich sage ›wir‹, so meine ich natürlich mich. Denn Sie sprechen immer vernünftig. Vielleicht ein bißchen zu sehr.«

Rex lächelte. »Nun gut; ich will's Ihnen glauben.«

»Also die Hohenlohes,« fuhr Czako fort. »Ja, wie steht es damit? Wie liegt da die Sache? Da kommt hier so Anno Domini ein Burggraf ins Land, und das Land will ihn nicht, und er muß sich alles erst erobern, die Städte beinah und die Schlösser gewiß. Und die Herzen natürlich erst recht. Und der Kaiser sitzt mal wieder weitab und kann ihm nicht helfen. Und da hat nun dieser Nürnberger Burggraf, wenn's hoch kommt, ein halbes Dutzend Menschen um sich, schwäbische Leute, die mit ihm in diese Mördergrube hinabsteigen. Denn ein bißchen so was war es. Und geht auch gleich los, und die Quitzows und die, die's sein wollen, rufen die Pommern ins Land, und hier auf diesem alten Cremmer Damm stoßen sie zusammen, und die paar, die da fallen, das sind eben die Schwaben, die's gewagt hatten und mit in den Kahn gestiegen waren. Allen vorauf aber ein Graf, so ein Herr in mittleren Jahren. Der fiel zuerst und versank in den Sumpf, und da liegt er. Das heißt, sie haben ihn rausgeholt, und nun liegt er in der Klosterkirche. Und dieser eine, der da voran fiel, der hieß Hohenlohe.«

»Ja, Czako, das weiß ich ja alles. Das steht ja schon im Brandenburgischen Kinderfreund. Sie denken aber immer, Sie haben so was allein gepachtet.«

»Immer vorsichtig, Rex; im Kinderfreund steht es. Gewiß. Aber was steht nicht alles – von Kinderfreund gar nicht zu reden – in Bibel und Katechismus, und die Leute wissen es doch nicht. Ich zum Beispiel. Und ob es nun drin steht oder nicht drin steht, ich sage nur: so hat es angefangen, und so läuft der Hase noch. Oder glauben Sie, daß der alte Fürst, der jetzt dran ist, daß der zu seinem Spezialvergnügen in unser sogenanntes Reichskanzlerpalais gezogen ist, drin die Bismarckschen Nachfolger, die sich wahrhaftig nicht danach drängten, ihre Tage vertrauern? Ein Opfer ist es, nicht mehr und nicht weniger, und ein Opfer bringt auch der alte Fürst, gerade wie der, der damals am Cremmer Damm als erster fiel. Und ich sage Ihnen, Rex, das ist das, was mir imponiert; immer da sein, wenn Not an Mann ist. Die Kleinen von hier, trotz der ›Loyalität bis auf die Knochen‹, die mucken immer bloß auf, aber die wirklich Vornehmen, die gehorchen, nicht einem Machthaber, sondern dem Gefühl ihrer Pflicht.«

Rex war einverstanden und wiederholte nur: »Schade, daß wir so spät an dem Denkmal vorbeikommen.«

»Ja, schade,« sagte Czako. »Wir müssen es uns aber schenken. Im übrigen, denk ich, lassen wir in dem, was wir uns noch weiter zu sagen haben, die Hohenlohes aus dem Spiel. Andres liegt uns heute näher. Wie hat Ihnen denn eigentlich die Schmargendorf gefallen?«

»Ich werde mich hüten, Czako, Ihnen darauf zu antworten. Außerdem haben Sie sie durch den Garten geführt, nicht ich, und mir war immer, als ob ich Faust und Gretchen sähe.«

Czako lachte. »Natürlich schwebt Ihnen das andre Paar vor, und ich bin nicht böse darüber. Die Rolle, die mir dabei zufällt – der mit der Hahnenfeder ist doch am Ende ne andre Nummer wie der sentimentale ›Habe-nun-ach-Mann‹ – diese Mephistorolle, sag ich, gefällt mir besser, und was die Schmargendorf angeht, so kann ich nur sagen: Von meiner Martha lass' ich nicht.«

»Czako, Sie münden wieder ins Frivole.«

»Gut, gut, Rex, Sie werden unwirsch, und Sie sollen recht haben. Lassen wir also die Schmargendorf so gut wie die Hohenlohes. Aber über die Domina ließe sich vielleicht sprechen, und sind wir erst bei der Tante, so sind wir auch bald bei dem Neffen. Ich fürchte, unser Freund Woldemar befindet sich in diesem Augenblick in einer scharfen Zwickmühle. Die Domina liegt ihm seit Jahr und Tag (er hat mir selber Andeutungen darüber gemacht) mit Heiratsplänen in den Ohren, mutmaßlich weil ihr die Vorstellung einer Stechlinlosen Welt einfach ein Schrecknis ist. Solche alten Jungfern mit einer Granatbrosche haben immer eine merkwürdig hohe Meinung von ihrer Familie. Freilich auch andre, die klüger sein sollten. Unsre Leute gefallen sich nun mal in der Idee, sie hingen mit dem Fortbestande der göttlichen Weltordnung aufs engste zusammen. In Wahrheit liegt es so, daß wir sämtlich abkommen können. Ohne die Czakos geht es nun schon gewiß, wofür sozusagen historisch-symbolisch der Beweis erbracht ist.«

»Und die Rex?«

»Vor diesem Namen mach ich halt.«

»Wer's Ihnen glaubt. Aber lassen wir die Rex und lassen wir die Czakos, und bleiben wir bei den Stechlins, will sagen bei unserm Freunde Woldemar. Die Tante will ihn verheiraten, darin haben Sie recht.«

»Und ich habe wohl auch recht, wenn ich das eine heikle Lage nenne. Denn ich glaube, daß er sich seine Freiheit wahren will und mit Bewußtsein auf den Célibataire lossteuert.«

»Ein Glauben, in dem Sie sich, lieber Czako, wie jedesmal, wenn Sie zu glauben anfangen, in einem großen Irrtum befinden.«

»Das kann nicht sein.«

»Es kann nicht bloß sein, es ist. Und ich wundre mich nur, daß gerade Sie, der Sie doch sonst das Gras wachsen hören und allen Gesellschaftsklatsch kennen wie kaum ein zweiter, daß gerade Sie von dem allen kein Sterbenswörtchen vernommen haben sollen. Sie verkehren doch auch bei den Xylanders, ja, ich glaube, Sie da, letzten Winter, mal kämpfend am Büfett gesehen zu haben.«

»Gewiß.«

»Und da waren an jenem Abend auch die Berchtesgadens, Baron und Frau, und in lebhaftestem Gespräche mit diesem bayerischen Baron ein distinguierter alter Herr und zwei Damen. Und diese drei, das waren die Barbys.«

»Die Barbys,« wiederholte Czako, »Botschaftsrat oder dergleichen. Ja, gewiß, ich habe davon gehört; aber ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, ihn und die Damen gesehen zu haben. Und sicherlich nicht an jenem Abend, wo ja von Vorstellen keine Rede war, die reine Völkerschlacht. Aber Sie wollten mir, glaube ich, von eben diesen Barbys erzählen.«

»Ja, das wollt ich. Ich wollte Sie nämlich wissen lassen, daß Ihr Célibataire seit Ausgang vorigen Winters in eben diesem Hause regelmäßig verkehrt.«

»Er wird wohl in vielen Häusern verkehren.«

»Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, da das eine Haus ihn ganz in Anspruch nimmt.«

»Nun gut, so lassen wir ihn bei den Barbys. Aber was bedeutet das?«

»Das bedeutet, daß in einem solchen Hause verkehren und sich mit einer Tochter verloben so ziemlich ein und dasselbe ist. Bloß eine Frage der Zeit. Und die Tante wird sich damit aussöhnen müssen, auch wenn sie, wie beinah gewiß, über ihr Herzblatt bereits anders verfügt haben sollte. Solche Dinge begleichen sich indessen fast immer. Unser Woldemar wird sich aber mittlerweile vor ganz andre Schwierigkeiten gestellt sehen.«

»Und die wären? Ist er nicht vornehm genug? Oder mankiert vielleicht Gegenliebe?«

»Nein, Czako, von ›mankierender Gegenliebe‹, wie Sie sich auszudrücken belieben, kann keine Rede sein. Die Schwierigkeiten liegen in was anderm. Es sind da nämlich, wie ich mir schon anzudeuten erlaubte, zwei Komtessen im Hause. Nun, die jüngere wird es wohl werden, schon weil sie eben die jüngere ist. Aber so ganz sicher ist es doch keineswegs. Denn auch die ältere, wiewohl schon über dreißig, ist sehr reizend und zum Überfluß auch noch Witwe – das heißt eigentlich nicht Witwe, sondern richtiger eine gleich nach der Ehe geschiedene Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet.«

»Verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet,« wiederholte Czako, während er unwillkürlich sein Pferd anhielt. »Aber Rex, das ist ja hoch pikant. Und daß ich erst heute davon höre und noch dazu durch Sie, der Sie sich von solchen Dingen doch zunächst entsetzt abwenden müßten. Aber so seid ihr Konventikler. Schließlich ist all dergleichen doch eigentlich euer Lieblingsfeld. Und nun erzählen Sie weiter, ich bin neugierig wie ein Backfisch. Wer war denn der unglücklich Glückliche?«

 

»Sie meinen, wenn ich Sie recht verstehe, wer es war, der diese ältere Komtesse heiratete. Nun dieser glücklich Unglückliche – oder vielleicht auch umgekehrt – war auch Graf, sogar ein italienischer (vorausgesetzt, daß Sie dies als eine Steigerung ansehn), und hatte natürlich einen echt italienischen Namen: Conte Ghiberti, derselbe Name wie der des florentinischen Bildhauers, von dem die berühmten Türen herrühren.«

»Welche Türen?«

»Nun, die berühmten Baptisteriumtüren in Florenz, von denen Michelangelo gesagt haben soll, ›sie wären wert, den Eingang zum Paradiese zu bilden‹. Und diese Türen heißen denn auch, ihrem großen Künstler zu Ehren, die Ghibertischen Türen. Übrigens eine Sache, von der ein Mann wie Sie was wissen müßte.«

»Ja, Rex, Sie haben gut reden von ›wissen müssen‹. Sie sind aus einem großen Hause, haben mutmaßlich einen frommen Kandidaten als Lehrer gehabt und sind dann auf Reisen gegangen, wo man so feine Dinge wegkriegt. Aber ich! Ich bin aus Ostrowo.«

»Das ändert nichts.«

»Doch, doch, Rex. Italienische Kunst! Ich bitte Sie, wo soll dergleichen bei mir herkommen? Was Hänschen nicht lernt, – dabei bleibt es nun mal. Ich erinnere mich noch ganz deutlich einer Auktion in Ostrowo, bei der (es war in einem kommerzienrätlichen Hause) schließlich ein roter Kasten zur Versteigerung kam, ein Kasten mit Doppelbildern und einem Opernkucker dazu, der aber keiner war. Und all das kaufte sich meine Mutter. Und an diesem Stereoskopenkasten, ein Wort, das ich damals noch nicht kannte, habe ich meine italienische Kunst gelernt. Die ›Türen‹ waren aber nicht dabei. Was können Sie da groß verlangen? Ich habe, wenn Sie das Wort gelten lassen wollen, ne Panoptikumbildung.«

Rex lachte. »Nun, gleichviel. Also der Graf, der die ältere Komtesse Barby heiratete, hieß Ghiberti. Seiner Ehe fehlten indes durchaus die Himmelstüren, – soviel läßt sich mit aller Bestimmtheit sagen. Und deshalb kam es zur Scheidung. Ja, mehr, die scharmante Frau (›scharmant‹ ist übrigens ein viel zu plebejes und minderwertiges Wort) hat in ihrer Empörung den Namen Ghiberti wieder abgetan, und alle Welt nennt sie jetzt nur noch bei ihrem Vornamen.«

»Und der ist?«

»Melusine.«

»Melusine? Hören Sie, Rex, das läßt aber tief blicken.«

Unter diesem Gespräch waren sie bis an den Cremmer Damm herangekommen. Es dunkelte schon stark, und ein Gewölk, das am Himmel hinzog, verbarg die Mondsichel. Ein paarmal indessen trat sie hervor, und dann sahen sie bei halber Beleuchtung das Hohenlohedenkmal, das unten im Luche schimmerte. Hinunterzureiten, was noch einmal flüchtig in Erwägung gezogen wurde, verbot sich, und so setzten sie sich in einen munteren Trab und hielten erst wieder in Cremmen vor dem Gasthause zum »Markgrafen Otto«. Es schlug eben neun von der Nikolaikirche.

Drinnen war man bald in einem lebhaften Gespräch, in dem sich Rex über die in der Stadt herrschende Gesinnung und Kirchlichkeit zu unterrichten suchte. Der Wirt stellte der einen wie der andern ein gleich gutes Zeugnis aus und hatte die Genugtuung, daß ihm Rex freundlich zunickte. Czako aber sagte: »Sagen Sie, Herr Wirt, Sie haben da ein so schönes Billard; ich habe mir jüngst erst sagen lassen, wenn's wirklich flott gehe, so könne man's im Jahr bis auf dreitausend Mark bringen. Natürlich bei zwölfstündigem Arbeitstag. Wie steht es damit? Für möglich halt ich es.«

Nach dem Eierhäuschen

Elftes Kapitel

Die Barbys, der alte Graf und seine zwei Töchter, lebten seit einer Reihe von Jahren in Berlin, und zwar am Kronprinzenufer, zwischen Alsen- und Moltkebrücke. Das Haus, dessen erste Etage sie bewohnten, unterschied sich, ohne sonst irgendwie hervorragend zu sein (Berlin ist nicht reich an Privathäusern, die Schönheit und Eigenart in sich vereinigen), immerhin vorteilhaft von seinen Nachbarhäusern, von denen es durch zwei Terrainstreifen getrennt wurde; der eine davon ein kleiner Baumgarten, mit allerlei Buschwerk dazwischen, der andre ein Hofraum mit einem zierlichen, malerisch wirkenden Stallgebäude, dessen obere Fenster, hinter denen sich die Kutscherwohnung befand, von wildem Wein umwachsen waren. Schon diese Lage des Hauses hätte demselben ein bestimmtes Maß von Aufmerksamkeit gesichert, aber auch seine Fassade mit ihren zwei Loggien links und rechts ließ die des Weges Kommenden unwillkürlich ihr Auge darauf richten. Hier, in eben diesen Loggien, verbrachte die Familie mit Vorliebe die Früh- und Nachmittagsstunden und bevorzugte dabei, je nach der Jahreszeit, mal den zum Zimmer des alten Grafen gehörigen, in pompejischem Rot gehaltenen Einbau, mal die gleichartige Loggia, die zum Zimmer der beiden jungen Damen gehörte. Dazwischen lag ein dritter großer Raum, der als Repräsentations- und zugleich als Eßzimmer diente. Das war, mit Ausnahme der Schlaf- und Wirtschaftsräume, das Ganze, worüber man Verfügung hatte; man wohnte mithin ziemlich beschränkt, hing aber sehr an dem Hause, so daß ein Wohnungswechsel, oder auch nur der Gedanke daran, so gut wie ausgeschlossen war. Einmal hatte die liebenswürdige, besonders mit Gräfin Melusine befreundete Baronin Berchtesgaden einen solchen Wohnungswechsel in Vorschlag gebracht, aber nur um sofort einem lebhaften Widerspruche zu begegnen. »Ich sehe schon, Baronin, Sie führen den ganzen Lennéstraßenstolz gegen uns ins Gefecht. Ihre Lennéstraße! Nun ja, wenn's sein muß. Aber was haben Sie da groß? Sie haben den Lessing ganz und den Goethe halb. Und um beides will ich Sie beneiden und Ihnen auch die Spreewaldsammen in Rechnung stellen. Aber die Lennéstraßenwelt ist geschlossen, ist zu, sie hat keinen Blick ins Weite, kein Wasser, das fließt, keinen Verkehr, der flutet. Wenn ich in unsrer Nische sitze, die lange Reihe der herankommenden Stadtbahnwaggons vor mir, nicht zu nah und nicht zu weit, und sehe dabei, wie das Abendrot den Lokomotivenrauch durchglüht und in dem Filigranwerk der Ausstellungsparktürmchen schimmert, was will Ihre grüne Tiergartenwand dagegen?« Und dabei wies die Gräfin auf einen gerade vorüberdampfenden Zug, und die Baronin gab sich zufrieden.

Ein solcher Abend war auch heute; die Balkontür stand auf, und ein kleines Feuer im Kamin warf seine Lichter auf den schweren Teppich, der durch das ganze Zimmer hin lag. Es mochte die sechste Stunde sein, und die Fenster drüben an den Häusern der andern Seite standen wie in roter Glut. Ganz in der Nähe des Kamins saß Armgard, die jüngere Tochter, in ihren Stuhl zurückgelehnt, die linke Fußspitze leicht auf den Ständer gestemmt. Die Stickerei, daran sie bis dahin gearbeitet, hatte sie, seit es zu dunkeln begann, aus der Hand gelegt und spielte statt dessen mit einem Ballbecher, zu dem sie regelmäßig griff, wenn es galt, leere Minuten auszufüllen. Sie spielte das Spiel sehr geschickt, und es gab immer einen kleinen hellen Schlag, wenn der Ball in den Becher fiel. Melusine stand draußen auf dem Balkon, die Hand an die Stirn gelegt, um sich gegen die Blendung der untergehenden Sonne zu schützen.

»Armgard,« rief sie in das Zimmer hinein, »komm; die Sonne geht eben unter!«

»Laß. Ich sehe hier lieber in den Kamin. Und ich habe auch schon zwölfmal gefangen.«

»Wen?«

»Nun natürlich den Ball.«

»Ich glaube, du fingst lieber wen anders. Und wenn ich dich so dasitzen sehe, so kommt es mir fast vor, als dächtest du selber auch so was. Du sitzt so märchenhaft da.«

»Ach, du denkst immer nur an Märchen und glaubst, weil du Melusine heißt, du hast so was wie eine Verpflichtung dazu.«

»Kann sein. Aber vor allem glaub ich, daß ich es getroffen habe. Weißt du, was?«

»Nun?«

»Ich kann es so leicht nicht sagen. Du sitzt zu weit ab.«

»Dann komm und sag es mir ins Ohr.«

»Das ist zuviel verlangt. Denn erstens bin ich die ältere, und zweitens bist du's, die was von mir will. Aber ich will es so genau nicht nehmen.«

Und dabei ging Melusine vom Balkon her auf die Schwester zu, nahm ihr das Fangspiel fort und sagte, während sie ihr die Hand auf die Stirn legte: »Du bist verliebt.«

»Aber Melusine, was das nun wieder soll! Und wenn man so klug ist wie du … Verliebt. Das ist ja gar nichts; etwas verliebt ist man immer.«

»Gewiß. Aber in wen? Da beginnen die Fragen und die Finessen.«

In diesem Augenblicke ging die Klingel draußen, und Armgard horchte.

»Wie du dich verrätst,« lachte Melusine. »Du horchst und willst wissen, wer kommt.«

Melusine wollte noch weiter sprechen, aber die Tür ging bereits auf und Lizzi, die Kammerjungfer der beiden Schwestern, trat ein, unmittelbar hinter ihr ein Gersonscher Livreediener mit einem in einen Riemen geschnallten Karton. »Er bringt die Hüte,« sagte die Kammerjungfer.

»Ah, die Hüte. Ja, Armgard, da müssen wir freilich unsre Frage vertagen. Was doch wohl auch deine Meinung ist. Bitte, stellen Sie hin. Aber Lizzi, du, du bleibst und mußt uns helfen; du hast einen guten Geschmack. Übrigens, ist kein Stehspiegel da?«

»Soll ich ihn holen?«

»Nein, nein, laß. Unsre Köpfe, worauf es doch bloß ankommt, können wir schließlich auch in diesem Spiegel sehen … Ich denke, Armgard, du läßt mir die Vorhand; dieser hier mit dem Heliotrop und den Stiefmütterchen, der ist natürlich für mich; er hat den richtigen Frauencharakter, fast schon Witwe.«

Unter diesen Worten setzte sie sich den Hut auf und trat an den Spiegel. »Nun, Lizzi, sprich.«

»Ich weiß nicht recht, Frau Gräfin, er scheint mir nicht modern genug. Der, den Komtesse Armgard eben aufsetzt, der würde wohl auch für Frau Gräfin besser passen – die hohen Straußfedern, wie ein Ritterhelm, und auch die Hutform selbst. Hier ist noch einer, fast ebenso und beinah noch hübscher.«

Beide Damen stellten sich jetzt vor den Spiegel; Armgard, hinter der Schwester stehend und größer als diese, sah über deren linke Schulter fort. Beide gefielen sich ungemein, und schließlich lachten sie, weil jede der andern ansah, wie hübsch sie sich fand.

»Ich möchte doch beinah glauben …« sagte Melusine, kam aber nicht weiter, denn in eben diesem Augenblicke trat ein in schwarzen Frack und Escarpins gekleideter alter Diener ein und meldete: »Rittmeister von Stechlin.«

Unmittelbar darauf erschien denn auch Woldemar selbst und verbeugte sich gegen die Damen. »Ich fürchte, daß ich zu sehr ungelegener Stunde komme.«

»Ganz im Gegenteil, lieber Stechlin. Um wessentwillen quälen wir uns denn überhaupt mit solchen Sachen? Doch bloß um unsrer Gebieter willen, die man ja (vielleicht leider) auch noch hat, wenn man sie nicht mehr hat.«

»Immer die liebenswürdige Frau.«

»Keine Schmeicheleien. Und dann, diese Hüte sind wichtig. Ich nehm es als eine Fügung, daß Sie da gerade hinzukommen; Sie sollen entscheiden. Wir haben freilich schon Lizzis Meinung angerufen, aber Lizzi ist zu diplomatisch; Sie sind Soldat und müssen mehr Mut haben; Armgard, sprich auch; du bist nicht mehr jung genug, um noch ewig die Verlegene zu spielen. Ich bin sonst gegen alle Gutachten, namentlich in Prozeßsachen (ich weiß ein Lied davon zu singen), aber ein Gutachten von Ihnen, da laß ich all meine Bedenken fallen. Außerdem bin ich für Autoritäten, und wenn es überhaupt Autoritäten in Sachen von Geschmack und Mode gibt, wo wären sie besser zu finden als im Regiment Ihrer Kaiserlich Königlichen Majestät von Großbritannien und Indien? Irland laß ich absichtlich fallen und nehme lieber Indien, woher aller gute Geschmack kommt, alle alte Kultur, alle Schals und Teppiche, Buddha und die weißen Elefanten. Also antreten, Armgard; du natürlich an den rechten Flügel, denn du bist größer. Und nun, lieber Stechlin, wie finden Sie uns?«

»Aber, meine Damen …«

»Keine Feigheiten. Wie finden Sie uns?«

»Unendlich nett.«

»Nett? Verzeihen Sie, Stechlin, nett ist kein Wort. Wenigstens kein nettes Wort. Oder wenigstens ungenügend.«

»Also schlankweg entzückend.«

»Das ist gut. Und zur Belohnung die Frage: wer ist entzückender?«

»Aber Frau Gräfin, das ist ja die reine Geschichte mit dem seligen Paris. Bloß, er hatte es viel leichter, weil es drei waren. Aber zwei. Und noch dazu Schwestern.«

»Wer? Wer?«

»Nun, wenn es denn durchaus sein muß, Sie, gnädigste Frau.«

»Schändlicher Lügner. Aber wir behalten diese zwei Hüte. Lizzi, gib all das andre zurück. Und Jeserich soll die Lampen bringen; draußen ein Streifen Abendrot und hier drinnen ein verglimmendes Feuer, – das ist denn doch zu wenig oder, wenn man will, zu gemütlich.«

Die Lampen hatten draußen schon gebrannt, so daß sie gleich da waren.

»Und nun schließen Sie die Balkontür, Jeserich, und sagen Sie's Papa, daß der Herr Rittmeister gekommen. Papa ist nicht gut bei Wege, wieder die neuralgischen Schmerzen; aber wenn er hört, daß Sie da sind, so tut er ein übriges. Sie wissen, Sie sind sein Verzug. Man weiß immer, wenn man Verzug ist. Ich wenigstens hab es immer gewußt.«

 

»Das glaub ich.«

»Das glaub ich! Wie wollen Sie das erklären?«

»Einfach genug, gnädigste Gräfin. Jede Sache will gelernt sein. Alles ist schließlich Erfahrung. Und ich glaube, daß Ihnen reichlich Gelegenheit gegeben wurde, der Frage ›Verzug oder Nichtverzug‹ praktisch näherzutreten.«

»Gut herausgeredet. Aber nun, Armgard, sage dem Herrn von Stechlin (ich persönlich getraue mich's nicht), daß wir in einer halben Stunde fort müssen, Opernhaus, ›Tristan und Isolde‹. Was sagen Sie dazu? Nicht zu Tristan und Isolde, nein, zu der heikleren Frage, daß wir eben gehen, im selben Augenblick, wo Sie kommen. Denn ich seh es Ihnen an, Sie kamen nicht so bloß um ›five o'clock tea's‹ willen, Sie hatten es besser mit uns vor. Sie wollten bleiben …«

»Ich bekenne …«

»Also getroffen. Und zum Zeichen, daß Sie großmütig sind und Verzeihung üben, versprechen Sie, daß wir Sie bald wiedersehen, recht, recht bald. Ihr Wort darauf. Und dem Papa, der Sie vielleicht erwartet, wenn es Jeserich für gut befunden hat, die Meldung auszurichten, – dem Papa werd ich sagen, Sie hätten nicht bleiben können, eine Verabredung, Klub oder sonst was.«

Während Woldemar nach diesem abschließenden Gespräch mit Melusine die Treppe hinabstieg und auf den nächsten Droschkenstand zuschritt, saß der alte Graf in seinem Zimmer und sah, den rechten Fuß auf einen Stuhl gelehnt, durch das Balkonfenster auf den Abendhimmel. Er liebte diese Dämmerstunde, drin er sich nicht gerne stören ließ (am wenigsten gern durch vorzeitig gebrachtes Licht), und als Jeserich, der das also wußte, jetzt eintrat, war es nicht, um dem alten Grafen die Lampe zu bringen, sondern nur um ein paar Kohlen aufzuschütten.

»Wer war denn da, Jeserich?«

»Der Herr Rittmeister.«

»So, so. Schade, daß er nicht geblieben ist. Aber freilich, was soll er mit mir? Und der Fuß und die Schmerzen, dadurch wird man auch nicht interessanter. Armgard und nun gar erst Melusine, ja, da geht es, da redet sich's schon besser, und das wird der Rittmeister wohl auch finden. Aber soviel ist richtig, ich spreche gern mit ihm; er hat so was Ruhiges und Gesetztes und immer schlicht und natürlich. Meinst du nicht auch?«

Jeserich nickte.

»Und glaubst du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er was vorhat?«

»Glaub ich auch, Herr Graf.«

»Na, was glaubst du?«

»Gott, Herr Graf …«

»Ja, Jeserich, du willst nicht raus mit der Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkst du dir die Sache?«

Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter, weshalb dem alten Grafen nichts übrig blieb, als seinerseits fortzufahren. »Natürlich paßt Armgard besser, weil sie jung ist; es ist so mehr das richtige Verhältnis, und überhaupt, Armgard ist sozusagen dran. Aber, weiß der Teufel, Melusine …«

»Freilich, Herr Graf.«

»Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die. Wie denkst du dir nun den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen? Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?«

»Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie – vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das is all eins. Mit unsrer Lizzi is es gerad ebenso wie mit Gräfin Melusine. Wenn man denkt, es is so, denn is es so, und wenn man denkt, es is so, denn is es wieder so. Wie meine Frau noch lebte, Gott habe sie selig, die sagte auch immer: ›Ja, Jeserich, was du dir bloß denkst; wir sind eben ein Rätsel.‹ Ach Gott, sie war ja man einfach, aber das können Sie mir glauben, Herr Graf, so sind sie alle.«

»Hast ganz recht, Jeserich. Und deshalb können wir auch nicht gegen an. Und ich freue mich, daß du das auch so scharf aufgefaßt hast. Du bist überhaupt ein Menschenkenner. Wo du's bloß her hast? Du hast so was von nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?«

»Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu tun hat und immer Silber putzen muß.«

»Ja, Jeserich, das hilft doch nu nich, davon kann ich dich nicht freimachen …«

»Nein, so mein ich es ja auch nich, Herr Graf, und ich bin ja auch fürs Alte. Gute Herrschaft und immer denken, ›man gehört so halb wie mit dazu,‹ – dafür bin ich. Und manche sollen ja auch halb mit dazu gehören … Aber ein bißchen anstrengend is es doch mitunter, und man is doch am Ende auch ein Mensch …«

»Na, höre, Jeserich, das hab ich dir doch noch nicht abgesprochen.«

»Nein, nein, Herr Graf. Gott, man sagt so was bloß. Aber ein bißchen is es doch damit …«