Za darmo

Der Stechlin

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»Eine merkwürdige Kindermuhme,« sagte Stechlin. »Und erschraken Sie nicht, Komtesse?«

»Nein, von Erschrecken, solange Susan bei mir war, war keine Rede. Sie hätte mich gegen eine Welt verteidigt.«

»Das söhnt wieder aus.«

»Und kurz und gut, wir blieben auf unserm Weg und stiegen alsbald in ein zweirädriges Cab, aus dem heraus wir sehr gut sehen konnten, und jagten die Oxfordstraße hinunter in die City hinein, in ein immer dichter werdendes Straßengewirr, drin ich nie vorher gekommen war und auch nachher nicht wieder gekommen bin. Bloß vor zwei Jahren, als wir auf Besuch drüben waren und ich den alten Plätzen wieder nachging.«

»Ich glaube,« sagte Melusine, »daß du bei diesem zweiten Besuch eine gute Anleihe machst. Denn von dem mit Susan Gesehenen wirst du zurzeit nicht mehr viel zur Verfügung haben.«

»Doch, doch. Und nun hielt unser Hansom-Cab vor einem großen Hause, das halb wie ein Palast und halb wie ein griechischer Tempel aussah und unter dessen Säulengang hinweg wir in eine große, mit vielen hundert Menschen erfüllte Halle traten. Über ihren Köpfen aber lag es wie ein Strom von Licht, und ganz nach hinten zu, wo die Lichtmasse sich zu verdichten schien, standen auf einem Podium zwei in rote Röcke gekleidete Bedienstete mit ein paar großen Behältern links und rechts neben sich, die wie Futterkisten mit weit aufgeklapptem Deckel aussahen.«

»Und nun laß Stechlin raten, was es war.«

»Er braucht es nicht zu raten,« fuhr Armgard fort, »er weiß es natürlich schon. Aber er muß trotzdem aushalten. Denn er hat es selber so gewollt. Also Podium und Rotröcke samt aufgeklappter Kiste links und rechts. Und die hell erleuchtete Uhr darüber zeigte, daß es nur noch eine Minute bis sechs war. An ein Sichherandrängen war nicht zu denken, und so flogen denn die Brief- und Zeitungspakete, die noch mit den letzten Postzügen fort sollten, in weitem Bogen über die Köpfe der in Front Stehenden weg; was aber dabei statt in die Behälter bloß auf das Podium fiel, das wurde von den Rotröcken mit einer geschickten Fußbewegung in die Futterkisten wie hineingeharkt. Und nun setzte der Uhrzeiger ein, und das Fliegen der Pakete steigerte sich, bis genau mit dem sechsten Schlag auch der Deckel jeder der beiden Kisten zuschlug.«

»Reizend, Komtesse. Natürlich seh ich mir das an, und wenn ich ein Rendezvous mit der Königin darüber versäumen müßte.«

»Nichts Antimonarchisches,« lachte der alte Graf. »Und so kommen Susans Untaten schließlich noch ans Licht.«

»Und meine eignen dazu. Glücklicherweise durch mich selbst.«

Das Gespräch setzte sich noch eine Weile fort, und allerlei Schilderungen aus dem Klein- und Alltagsleben behielten dabei die Oberhand. Ein paarmal, weil er wohl sah, daß Woldemar gern auch andres zu hören wünschte, versuchte der alte Graf das Thema zu wechseln, aber beide Damen blieben bei »shopping« und »five o'clock tea«, bis Melusine, der Woldemars Ungeduld ebenfalls nicht entgangen war, mit einem Male fragte: »Haben Sie denn je von Traitors-Gate gehört?«

»Nein,« sagte Woldemar. »Ich kann es mir aber übersetzen und meine Schlüsse daraus ziehn.«

»Das reicht aus. Also natürlich Tower. Nun sehen Sie, Traitors-Gate, das war meine Domäne, wenn Besuch aus Deutschland kam und ich wohl oder übel den Führer machen mußte. Vieles im Tower langweilte mich, aber Traitors-Gate nie, vielleicht deshalb nicht, weil es ziemlich zu Anfang liegt, so daß ich, wenn wir's erreichten, immer noch bei Frische war, nicht abgestumpft durch all die Schrecklichkeiten, die dann weiterhin folgen.«

»Also Traitors-Gate muß ich sehn?«

»Unbedingt. Freilich, wenn ich dann wieder erwäge, daß an dieser berühmten Stelle nichts unmittelbar Wirkungsvolles zu sehn ist, so muß ich mich bei meinen Ratschlägen auf Ihre Phantasie verlassen können. Und ob das geht, weiß ich nicht. Wer aus der Mark ist, hat meist keine Phantasie.«

Der alte Graf und Armgard schwiegen, und auch Melusine sah wohl, daß sie mit ihrer Bemerkung etwas zu weit gegangen war. Irgendeine Reparierung schien also geboten. »Ich will's aber doch mit Ihnen wagen,« nahm sie das Gespräch wieder auf und lachte. »Traitors-Gate. Nun sehen Sie, Sie kommen da vom Eingange her einen schmalen Gang entlang, und mit einem Male haben Sie statt der grauen Steinwand ein eisenbeschlagenes Holztor neben sich. Hinter diesem Tor aber befindet sich ein kleiner, ganz unten in der Tiefe gelegener Wasserhof, von dem aus eine mehrstufige Treppe heraufführt und an eben der Stelle mündet, an der Sie stehn. Und nun rechnen Sie dreihundert Jahre zurück. Wem sich die Pforte damals auftat, um sich hinter ihm wieder zu schließen, der hatte vom Leben Abschied genommen … Es sind da, verzeihen Sie das Wort, lauter glibbrige Stufen, und wer alles stieg diese Stufen hinauf: Essex, Sir Walter Raleigh, Thomas Morus und zuletzt noch jene Clanhäuptlinge, die für Prince Charlie gefochten hatten und deren Köpfe wenige Tage später von Temple-Bar herab auf die City niedersahen.«

»Liegt, Gott sei Dank, weit zurück.«

»Ja, weit zurück. Aber es kann wiederkommen. Und gerade das war es, was immer, wenn ich da so stand, den größten Eindruck auf mich machte. Diese Möglichkeit, daß es wiederkehre. Denn ich erinnere mich noch sehr wohl – ja, du warst es selbst, Papa, der es mir erzählte –, daß Lord Palmerston einmal, unwirsch über die koburgische Nebenpolitik (ich glaube während der Krimkriegtage) sich dahin geäußert hätte: ›Dieser Prince-Consort, er täte gut, sich unser Traitors-Gate bei Gelegenheit anzusehen. Es ist zwar schon lange, daß Könige da die glibbrige Treppe hinaufgestiegen sind, aber es ist doch noch nicht so lange, daß wir uns dessen nicht mehr entsinnen könnten. Und ein Prince-Consort ist noch lange nicht ein König.‹«

Woldemar, als Melusine dies mit überlegener Miene gesagt hatte, lächelte vor sich hin, was die Gräfin derartig verdroß, daß sie mit einer gewissen Gereiztheit hinzusetzte: »Sie lächeln. Da seh ich doch, wie sehr ich im Rechte war, Ihnen die Phantasie abzusprechen.«

»Verzeihen Sie mir …«

»Und nun werden Sie auch noch pathetisch. Das ist die richtige Ergänzung. Im übrigen, wie könnt ich mit Ihnen ernsthaft zürnen! Ein berühmter deutscher Professor soll einmal irgendwo gesagt haben: ›niemand sei verpflichtet, ein großer Mann zu sein.‹ Und ebensowenig wird er ›große Phantasie‹ als etwas Pflichtmäßiges gefordert haben.«

Woldemar küßte ihr die Hand. »Wissen Sie, Gräfin, daß Sie doch eigentlich recht hochmütig sind?«

»Vielleicht. Aber mancher entwaffnet mich wieder. Und zu diesen gehören Sie.«

»Das ist nun auch wieder aus dem Ton.«

»Ich weiß es nicht. Aber lassen wir's. Und versprechen Sie mir lieber, mir von Windsor oder London aus eine Karte zu schreiben … nein, eine Karte, das geht nicht … also einen Brief, darin Sie mir ein Wort über die Engländerinnen sagen, und ob Sie jede taillenlose Rotblondine drüben auch so schön gefunden haben werden, wie's von den Kontinentalen, wenn sie dies Thema berühren, fast immer versichert wird.«

»Es wird davon abhängen, an wen ich gerade denke.«

»Nach dieser Bemerkung ist Ihnen alles verziehn.«

Woldemar blieb bis neun. Er hatte gleich in den Zeilen, in denen er sich anmeldete, die Damen wissen lassen, daß er seinen Besuch auf eine kurze Stunde beschränken müsse. So war er denn bei guter Zeit wieder daheim. Auf seinem Tische fand er ein Briefchen vor und erkannte Rex' Handschrift. »Lieber Stechlin,« so schrieb dieser, »ich höre eben, daß Sie nach London gehn. In der Zeitung, wo's schon gestanden haben soll, hab ich es übersehn. Ich beglückwünsche Sie von Herzen zu dieser Auszeichnung und lege Ihnen eine Karte bei, die Sie (wenn's Ihnen paßt) bei meinem Freunde Ralph Waddington einführen soll. Er ist Advokat und einer der angesehensten Führer unter den Irvingianern. Fürchten Sie übrigens keine Bekehrungsversuche. Waddington ist ein durchaus feiner Mann, also zurückhaltend. Er kann Ihnen aber mannigfach behilflich sein, wenn Ihnen daran gelegen sein sollte, sich um das Wesen der englischen Dissenter, ihre Chapels und Tabernakels zu kümmern. Er ist ein Wissenschaftler auf diesem Gebiet. Und ich kenne ja Ihre Vorliebe für derlei Fragen.«

Stechlin legte den Brief unter den Briefbeschwerer und sagte: »Der gute Rex! Er überschätzt mich. Dissenterstudien. Es genügt mir, wenn ich einen einzigen Quäker sehe.«

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Was Rex da schrieb, hatte doch ein Gutes gehabt; Woldemar, erheitert bei dem Gedanken, sich durch Ralph Waddington in ein Tabernakel eingeführt zu sehn, sah sich mit einemmale einer gewissen Abspannung entrissen und war froh darüber, denn er brauchte durchaus Stimmung, um noch einige Briefe zu schreiben. Das ging ihm nun leichter von der Hand, und als elf Uhr kaum heran war, war alles erledigt.

Der andre Morgen sah ihn selbstverständlich früh auf. Fritz war um ihn her und half, wo noch zu helfen war. »Und nun, Fritz,« so waren Woldemars letzte Worte, »sieh nach dem Rechten. Schicke mir nichts nach; Zeitungen wirf weg. Und die drei Briefe hier, wenn ich fort bin, die tue sofort in den Kasten … Ist die Droschke schon da?«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister.«

»Na, dann mit Gott. Und jeden Tag lüften. Und paß auf die Pferde.«

Damit verabschiedete sich Woldemar.

Von den drei Briefen war einer nach Stechlin hin adressiert. Er traf, weil er noch mit dem ersten Zuge fort konnte, gleich nach Tische bei dem Alten ein und lautete:

»Mein lieber Papa. Wenn Du diese Zeilen erhältst, sind wir schon auf dem Wege. ›Wir,‹ das will sagen, unser Oberst, unser zweitältester Stabsoffizier, ich und zwei jüngere Offiziere. Aus Deinen eignen Soldatentagen her kennst Du den Charakter solcher Abordnungen. Nachdem wir ›Regiment Königin von Großbritannien und Irland‹ geworden sind, war dies ›uns drüben vorstellen‹ nur noch eine Frage der Zeit. Dieser Mission beigesellt zu sein ist selbstverständlich eine große Ehre für mich, doppelt, wenn ich die Namen, über die wir in unserm Regiment Verfügung haben, in Erwägung ziehe. Die Zeiten, wo man das Wort ›historische Familie‹ betonte, sind vorüber. Auch an Tante Adelheid hab ich in dieser Sache geschrieben. Was mir persönlich an Glücksgefühl vielleicht noch fehlen mag, wird sie leicht aufbringen. Und ich freue mich dessen, weil ich ihr, alles in allem, doch so viel verdanke. Daß ich mich von Berlin gerade jetzt nicht gerne trenne, sei nur angedeutet; Du wirst den Grund davon unschwer erraten. Mit besten Wünschen für Dein Wohl, unter herzlichen Grüßen an Lorenzen, wie immer Dein Woldemar.«

 

Dubslav saß am Kamin, als ihm Engelke den Brief brachte. Nun war der Alte mit dem Lesen durch und sagte: »Woldemar geht nach England. Was sagst du dazu, Engelke?«

»So was hab ich mir all immer gedacht.«

»Na, dann bist du klüger gewesen als ich. Ich habe mir gar nichts gedacht. Und nu noch drei Tage, so stellt er sich mit seinem Oberst und seinem Major vor die Königin von England hin und sagt: ›Hier bin ich.‹«

»Ja, gnädger Herr, warum soll er nich?«

»Is auch 'n Standpunkt. Und vielleicht sogar der richtige. Volksstimme, Gottesstimme. Na, nu geh mal zu Pastor Lorenzen und sag ihm, ich ließ ihn bitten. Aber sage nichts von dem Brief; ich will ihn überraschen. Du bist mitunter ne alte Plappertasche.«

Schon nach einer halben Stunde war Lorenzen da.

»Haben befohlen …«

»Haben befohlen. Ja, das ist gerade so das Richtige; sieht mir ähnlich … Nun, Lorenzen, schieben Sie sich mal nen Stuhl ran, und wenn Engelke nicht geplaudert hat (denn er hält nicht immer dicht), so hab ich eine richtige Neuigkeit für Sie. Woldemar ist nach England …«

»Ah, mit der Abordnung.«

»Also wissen Sie schon davon?«

»Nein, ausgenommen das eine, daß eine Deputation oder Gesandtschaft beabsichtigt sei. Das las ich, und dabei hab ich dann freilich auch an Woldemar gedacht.«

Dubslav lachte. »Sonderbar. Engelke hat sich so was gedacht, Lorenzen hat sich auch so was gedacht. Nur der eigne Vater hat an gar nichts gedacht.«

»Ach, Herr von Stechlin, das ist immer so. Väter sind Väter und können nie vergessen, daß die Kinder Kinder waren. Und doch hört es mal auf damit. Napoleon war mit zwanzig ein armer Leutnant und an Ansehn noch lange kein Stechlin. Und als er so alt war wie jetzt unser Woldemar, ja, da stand er schon zwischen Marengo und Austerlitz.«

»Hören Sie, Lorenzen, Sie greifen aber hoch. Meine Schwester Adelheid wird sich Ihnen übrigens wohl anschließen und von heut ab eine neue Zeitrechnung datieren. Ich nehm es ruhiger, trotzdem ich einsehe, daß es nach großer Auszeichnung schmeckt. Und ist er wieder zurück, dann wird er auch allerlei Gutes davon haben. Aber so lang er drüben ist! Ich trau der Sache nicht. Von Behagen jedenfalls keine Rede. Die Vettern sind nun mal nicht zufriedenzustellen; vielleicht ärgern sie sich, daß es draußen in der Welt auch noch ein ›Regiment Königin von Großbritannien und Irland‹ gibt. Das besorgen sie sich lieber selbst und nehmen so was, wenn andre damit kommen, wie ne Prätension. Wie stehen denn Sie dazu? Sie haben die Beefeaters vielleicht in Ihr Herz geschlossen wegen der vielen Dissenter. Ein Kardinal, der freilich auch noch Gourmand war, soll mal gesagt haben: ›Schreckliches Volk; hundert Sekten und bloß eine Sauce.‹«

»Ja,« lachte Lorenzen, »da bin ich freilich für die ›Beefeaters‹, wie Sie sagen, und gegen den Kardinal. Das mit den hundert Sekten laß ich auf sich beruhn (mein Geschmack, beiläufig, ist es nicht), aber unter allen Umständen bin ich für höchstens eine Sauce. Das ist das einzig Richtige, weil Gesunde. Die Dinge müssen in sich etwas sein, und wenn das zutrifft, so ist eigentlich jede Sauce, und nun gar erst die Sauce im Plural, von vornherein schon gerichtet. Aber lassen wir den Kardinal und seine Gewagtheiten und nehmen wir den Gegenstand seiner Abneigung: England. Es hat für mich eine Zeit gegeben, wo ich bedingungslos dafür schwärmte. Nicht zu verwundern. Hieß es doch damals in dem ganzen Kreise, drin ich lebte: ›Ja, wenn wir England nicht mehr lieben sollen, was sollen wir dann überhaupt noch lieben?‹ Diese halbe Vergötterung hab ich noch ehrlich mit durchgemacht. Aber das ist nun eine hübsche Weile her. Sie sind drüben schrecklich runtergekommen, weil der Kult vor dem goldenen Kalbe beständig wächst; lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und dabei so heuchlerisch; sie sagen ›Christus‹ und meinen Kattun.«

»Is leider so, wenigstens nach dem bißchen, was ich davon weiß. Und alles in allem, und neuerdings erst recht, bin ich deshalb immer für Rußland gewesen. Wenn ich da so an unsern Kaiser Nikolaus zurückdenke und an die Zeit, wo seine Uniform als Geschenk bei uns eintraf und dann als Kirchenstück in die Garnisonskirche kam. Natürlich in Potsdam. Wir haben zwar die Reliquien abgeschafft, aber wir haben sie doch auf unsre Art, und ganz ohne so was geht es nu mal nicht. Mit dem alten Fritzen fing es natürlich an. Wir haben seinen Krückstock und den Dreimaster und das Taschentuch (na, das hätten sie vielleicht weglassen können), und zu den drei Stücken haben wir nu jetzt auch noch die Nikolaus-Uniform.«

Lorenzen sah verlegen vor sich hin; etwas dagegen sagen ging nicht, und zustimmen noch weniger.

Dubslav aber fuhr fort: »Und dann sind sie da forscher in Petersburg und geht alles mehr aus dem Vollen, auch wenn die besten Steine mitunter schon rausgebrochen sind. So was kommt vor; is eben noch ein Naturvolk. Ich kann das ›Schenken‹ eigentlich nicht leiden, es hat so was von Bestechung und sieht aus wie'n Trinkgeld. Und Trinkgeld ist noch schlimmer als Bestechung und paßt mir eigentlich ganz und gar nicht. Aber es hat doch auch wieder was Angenehmes, solche Tabatiere. Wenn es einem gut geht, ist es ein Familienstück, und wenn es einem schlecht geht, ist es ne letzte Zuflucht. Natürlich, ein ganz reinliches Gefühl hat man nicht dabei.«

Lorenzen blieb eine volle Stunde. Der Alte war immer froh, wenn sich ihm Gelegenheit bot, sich mal ausplaudern zu können, und heute standen ja die denkbar besten Themata zur Verfügung: Woldemar, England, Kaiser Nikolaus und dazwischen Tante Adelheid, über die zwar immer nur kurze Worte fielen, aber doch so, daß sie, weil spöttisch, die gute Laune des Alten wesentlich steigerten.

Und in dieser guten Laune war er auch noch, als er um die fünfte Stunde seinen Eichenstock und seinen eingeknautschten Filzhut vom Riegel nahm, um am See hin, in der Richtung auf Globsow zu, seinen gewöhnlichen Spaziergang zu machen. Unmittelbar am Südufer, da wo die Wand steil abfiel, befand sich eine von Buchenzweigen überdachte Steinbank. Das war sein Lieblingsplatz. Die Sonne stand schon unterm Horizont, und nur das Abendrot glühte noch durch die Bäume. Da saß er nun und überdachte sein Leben, Altes und Neues, seine Kindheits- und seine Leutnantstage, die Tage kurz vor seiner Verheiratung, wo das junge, blasse Fräulein, das seine Frau werden sollte, noch Lieblingshofdame bei der alten Prinzeß Karl war. All das zog jetzt wieder an ihm vorüber, und dazwischen seine Schwester Adelheid, in jenen Tagen noch leidlich gut bei Weg, aber auch schon hart und herbe wie heute, so daß sie den reizenden Kerl, den Baron Krech, bloß weil er über ein schon halbabgestorbenes ›Verhältnis‹ und eine freilich noch fortlebende Spielschuld verfügte, durch ihre Tugend weggegrault hatte. Das waren die alten Geschichten. Und dann wurde Woldemar geboren, und die junge Frau starb, und der Junge wuchs heran und lernte bei Lorenzen all das dumme Zeug, das Neue (dran vielleicht doch was war), und nun fuhr er nach England rüber und war vielleicht schon in Köln und in ein paar Stunden in Ostende.

Dabei sah er vor sich hin und malte mit seinem Stock Figuren in den Sand. Der Wald war ganz still; auf dem See schwanden die letzten roten Lichter, und aus einiger Entfernung klangen Schläge herüber, wie wenn Leute Holz fällen. Er hörte mit halbem Ohr hin und sah eben auf die von Globsow her heraufführende schmale Straße, als er einer alten Frau von wohl siebzig gewahr wurde, die, mit einer mit Reisig bepackten Kiepe, den leis ansteigenden Weg heraufkam, etliche Schritte vor ihr ein Kind mit ein paar Enzianstauden in der Hand. Das Kind, ein Mädchen, mochte zehn Jahr sein, und das Licht fiel so, daß das blonde wirre Haar wie leuchtend um des Kindes Kopf stand. Als die Kleine bis fast an die Bank heran war, blieb sie stehn und erwartete da das Näherkommen der alten Frau. Diese, die wohl sah, daß das Kind in Furcht oder doch in Verlegenheit war, sagte: »Geih man vorupp, Agnes; he deiht di nix.«

Das Kind, sich bezwingend, ging nun auch wirklich, und während es an der Bank vorüberkam, sah es den alten Herrn mit großen, klugen Augen an.

Inzwischen war auch die Alte herangekommen.

»Na, Buschen,« sagte Dubslav, »habt Ihr denn auch bloß Bruchholz in Eurer Kiepe? Sonst packt Euch der Förster.«

Die Alte griente. »Jott, jnädiger Herr, wenn Se doabi sinn, denn wird he joa woll nich.«

»Na, ich denk auch; is immer nich so schlimm. Und wer is denn das Kind da?«

»Dat is joa Karlinens.«

»So, so, Karlinens. Is sie denn noch in Berlin? Und wird er sie denn heiraten? Ich meine den Rentsch in Globsow.«

»Ne, he will joa nich.«

»Is aber doch von ihm?«

»Joa, se seggt so. Awers he seggt, he wihr et nich.«

Der alte Dubslav lachte. »Na, hört, Buschen, ich kann's ihm eigentlich nich verdenken. Der Rentsch is ja doch ein ganz schwarzer Kerl. Un nu seht Euch mal das Kind an.«

»Dat hebb ick ehr ook all seggt. Und Karline weet et ook nich so recht un lacht man ümmer. Un se brukt em ook nich.«

»Geht es ihr denn so gut?«

»Joa; man kann et binah seggen. Se plätt't ümmer. Alle so'ne plätten ümmer. Ick wihr oak dissen Summer mit Agnessen (se heet Agnes) in Berlin, un doa wihr'n wi joa tosamen in'n Zirkus. Ud Karline wihr ganz fidel.«

»Na, das freut mich. Und Agnes, sagt Ihr, heißt sie. Is ein hübsches Kind.«

»Joa, det is se. Un is ook en gaudes Kind; se weent gliks un is immer so patschlich mit ehre lütten Hänn'. Sünne sinn immer so.«

»Ja, das is richtig. Aber Ihr müßt aufpassen, sonst habt Ihr nen Urenkel, Ihr wißt nicht wie. Na, gu'n Abend, Buschen.«

»'n Abend, jnädger Herr.«

Vierundzwanzigstes Kapitel

Der Baron Berchtesgadensche Wagen fuhr am Kronprinzenufer vor, und die Baronin, als sie gehört hatte, daß die Herrschaften oben zu Hause seien, stieg langsam die Treppe hinauf, denn sie war nicht gut zu Fuß und ein wenig asthmatisch. Armgard und Melusine begrüßten sie mit großer Freude. »Wie gut, wie hübsch, Baronin,« sagte Melusine, »daß wir Sie sehn. Und wir erwarten auch noch Besuch. Wenigstens ich. Ich habe solch Kribbeln in meinem kleinen Finger, und dann kommt immer wer. Wrschowitz gewiß (denn er war drei Tage lang nicht hier) und vielleicht auch Professor Cujacius. Und wenn nicht der, so Doktor Pusch, den Sie noch nicht kennen, trotzdem Sie ihn eigentlich kennen müßten, – noch alte Bekanntschaft aus Londoner Tagen her. Möglicherweise kommt auch Frommel. Aber vor allem, Baronin, was bringen Sie für Wetter mit? Lizzi sagte mir eben, es neble so stark, man könne die Hand vor Augen nicht sehn.«

»Lizzi hat Ihnen ganz recht berichtet, der richtige London fog, wobei mir natürlich Ihr Freund Stechlin einfällt. Aber über den sprechen wir nachher. Jetzt sind wir noch beim Nebel. Es war draußen wirklich so, daß ich immer dachte, wir würden zusammenfahren; und am Brandenburger Tor, mit den großen Kandelabern dazwischen, sah es beinah aus wie ein Bild von Skarbina. Kennen Sie Skarbina?«

»Gewiß,« sagte Melusine, »den kenn ich sehr gut. Aber allerdings erst von der letzten Ausstellung her. Und was, außer den Gaslaternen im Nebel, mir so eigentlich von ihm vorschwebt, das ist ein kleines Bild: langer Hotelkorridor, Tür an Tür, und vor einer der vielen Türen ein paar Damenstiefelchen. Reizend. Aber die Hauptsache war doch die Beleuchtung. Von irgendwoher fiel ein Licht ein und vergoldete das Ganze, den Flur und die Stiefelchen.«

»Richtig,« sagte die Baronin. »Das war von ihm. Und gerade das hat Ihnen so sehr gefallen?«

»Ja. Was auch natürlich ist. In meinen italienischen Tagen – wenn ich von ›italienischen Tagen‹ spreche, so meine ich übrigens nie meine Verheiratungstage; während meiner Verheiratungstage hab ich Gott sei Dank so gut wie gar nichts gesehn, kaum meinen Mann, aber freilich immer noch zu viel –, also während meiner italienischen Tage hab ich vor so vielen Himmelfahrten gestanden, daß ich jetzt für Stiefeletten im Sonnenschein bin.«

»Ganz mein Fall, liebe Melusine. Freilich bin ich jetzt nebenher auch noch fürs Japanische: Wasser und drei Binsen und ein Storch daneben. In meinen Jahren darf ich ja von Storch sprechen. Früher hätt ich vielleicht Kranich gesagt.«

 

»Nein, Baronin, das glaub ich Ihnen nicht. Sie waren immer für das, was sie jetzt Realismus nennen, was meistens mehr Ton und Farbe hat, und dazu gehört auch der Storch. Deshalb lieb ich Sie ja gerade so sehr. Ach, daß doch das Natürliche wieder obenauf käme.«

»Kommt, liebe Melusine.«

Melusinens kribbelnder kleiner Finger behielt recht. Es kam wirklich Besuch, erst Wrschowitz, dann aber – statt der drei, die sie noch nebenher gemutmaßt hatte – nur Czako.

Der Empfang des einen wie des andern der beiden Herren hatte vorn im Damenzimmer stattgefunden, ohne Gegenwart des alten Grafen. Dieser erschien erst, als man zum Tee ging; er hieß seine Gäste herzlich willkommen, weil er jederzeit das Bedürfnis hatte, von dem, was draußen in der Welt vorging, etwas zu hören. Dafür sorgte denn auch jeder auf seine Weise: die Baronin durch Mitteilungen aus der oberen Gesellschaftssphäre, Czako durch Avancements und Demissionen und Wrschowitz durch »Krittikk.« Alles, was zur Sprache kam, hatte für den alten Grafen so ziemlich den gleichen Wert, aber das Liebste waren ihm doch die Hofnachrichten, die die Baronin mit glücklicher Ungeniertheit zum besten gab. Wendungen wie »ich darf mich wohl Ihrer Diskretion versichert halten« waren ihr gänzlich fremd. Sie hatte nicht bloß ganz allgemein den Mut ihrer Meinung, sondern diesen Mut auch in betreff ihrer jedesmaligen Spezialgeschichte, von der man in der Regel freilich sagen durfte, daß sie desselben auch dringend bedürftig war.

»Sagen Sie, liebe Freundin,« begann der alte Graf, »was wird das jetzt so eigentlich mit den Briefen bei Hofe?«

»Mit den Briefen? O, das wird immer schöner.«

»Immer schöner?«

»Nun, immer schöner,« lachte hier die Baronin, »ist vielleicht nicht gerade das rechte Wort. Aber es wird immer geheimnisvoller. Und das Geheimnisvolle hat nun mal das, worauf es ankommt, will sagen den Charme. Schon die beliebte Wendung ›rätselhafte Frau‹ spricht dafür; eine Frau, die nicht rätselhaft ist, ist eigentlich gar keine, womit ich mir persönlich freilich eine Art Todesurteil ausspreche. Denn ich bin alles, nur kein Rätsel. Aber am Ende, man ist, wie man ist, und so muß ich dies Manko zu verwinden suchen … Es heißt immer, ›üble Nachrede, drin man sich mehr oder weniger mit Vorliebe gefalle, sei was Sündhaftes‹. Aber was heißt hier ›üble Nachrede‹? Vielleicht ist das, was uns so bruchstückweise zu Gehör kommt, nur ein schwaches Echo vom Eigentlichen und bedeutet eher ein Zuwenig als ein Zuviel. Im übrigen, wie's damit auch sei, mein Sinn ist nun mal auf das Sensationelle gerichtet. Unser Leben verläuft, offen gestanden, etwas durchschnittsmäßig, also langweilig, und weil dem so ist, setz ich getrost hinzu: ›Gott sei Dank, daß es Skandale gibt.‹ Freilich für Armgard ist so was nicht gesagt. Die darf es nicht hören.«

»Sie hört es aber doch,« lachte die Komtesse, »und denkt dabei: was es doch für sonderbare Neigungen und Glücke gibt. Ich habe für dergleichen kein Organ. Unsre teure Baronin findet unser Leben langweilig und solche Chronik interessant. Ich, umgekehrt, finde solche Chronik langweilig und unser alltägliches Leben interessant. Wenn ich den Rudolf unsers Portier Hartwig unten mit seinem hoop und seinen dünnen langen Berliner Beinen über die Straße laufen sehe, so find ich das interessanter als diese sogenannte Pikanterie.«

Melusine stand auf und gab Armgard einen Kuß. »Du bist doch deiner Schwester Schwester, oder mein Erziehungsprodukt, und zum erstenmal in meinem Leben muß ich meine teure Baronin ganz im Stiche lassen. Es ist nichts mit diesem Klatsch; es kommt nichts dabei heraus.«

»Ach, liebe Melusine, das ist durchaus nicht richtig. Es kommt umgekehrt sehr viel dabei heraus. Ihr Barbys seid alle so schrecklich diskret und ideal, aber ich für mein Teil, ich bin anders und nehme die Welt, wie sie ist; ein Bier und ein Schnaderhüpfl und mal ein Haberfeldtreiben, damit kommt man am weitesten. Was wir da jetzt hier erleben, das ist auch solch Haberfeldtreiben, ein Stück Feme.«

»Nur keine heilige.«

»Nein,« sagte die Baronin, »keine heilige. Die Feme war aber auch nicht immer heilig. Habe mir da neulich erst den Götz wieder angesehn, bloß wegen dieser Szene. Die Poppe beiläufig vorzüglich. Und der schwarze Mann von der Feme soll im Urtext noch viel schlimmer gewesen sein, so daß man es (Goethe war damals noch sehr jung) eigentlich kaum lesen kann. Ich würde mir's aber doch getrauen. Und nun wend ich mich an unsre Herren, die dies diffizile Kampffeld, ich weiß nicht ritterlicher- oder unritterlicherweise, mir ganz allein überlassen haben. Doktor Wrschowitz, wie denken Sie darüber?«

»Ich denke darüber ganz wie gnädige Frau. Was wir da lesen wie Runenschrift … nein, nicht wie Runenschrift … (Wrschowitz unterbrach sich hier mißmutig über sein eignes Hineingeraten ins Skandinavische) – was wir da lesen in Briefen vom Hofe, das ist Krittikk. Und weil es Krittikk ist, ist es gutt. Mag es auch sein Mißbrauch von Krittikk. Alles hat Mißbrauch. Gerechtigkeit hat Mißbrauch, Kirche hat Mißbrauch, Krittikk hat Mißbrauch. Aber trotzdem. Auf die Feme kommt es an, und das große Messer muß wieder stecken im Baum.«

»Brrr,« sagte Czako, was ihm einen ernsten Augenaufschlag von Wrschowitz eintrug. –

Als man sich nach einer halben Stunde von Tisch erhoben hatte, wechselte man den Raum und begab sich in das Damenzimmer zurück, weil der alte Graf etwas Musik hören und sich von Armgards Fortschritten überzeugen wollte. »Doktor Wrschowitz hat vielleicht die Güte, dich zu begleiten.«

So folgte denn ein Quatremains, und als man damit aufhörte, nahm der alte Barby Veranlassung, seiner Vorliebe für solch vierhändiges Spiel Ausdruck zu geben, was Wrschowitz, dessen Künstlerüberheblichkeit keine Grenzen kannte, zu der ruhig lächelnden Gegenbemerkung veranlaßte, daß man dieser Auffassung bei Dilettanten sehr häufig begegne. Der alte Graf, wenig befriedigt von dieser »Krittikk«, war doch andrerseits viel zu vertraut mit Künstlerallüren im allgemeinen und mit den Wrschowitzschen im besonderen, um sich ernstlich über solche Worte zu verwundern. Er begnügte sich vielmehr mit einer gemessenen Verbeugung gegen den Musikdoktor und zog, auf einer nebenstehenden Causeuse Platz nehmend, die gute Frau von Berchtesgaden ins Gespräch, von der er wußte, daß ihre Munterkeiten nie den Charakter »goldener Rücksichtslosigkeiten« annahmen.

Wrschowitz seinerseits war an dem aufgeklappten Flügel stehen geblieben, ohne jede Spur von Verlegenheit, so daß ein Sichkümmern um ihn eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Trotzdem hielt es Czako für angezeigt, sich seiner anzunehmen und dabei die herkömmliche Frage zu tun, »ob er, der Herr Doktor Wrschowitz, sich schon in Berlin eingelebt habe«.

»Hab ich,« sagte Wrschowitz kurz.

»Und beklagen es nicht, Ihr Zelt unter uns aufgeschlagen zu haben?«

»Au contraire. Berlin eine schöne Stadt, eine serr gutte Stadt. Eine serr gutte Stadt pour moi en particulier et pour les étrangers en général. Eine serr gutte Stadt, weil es hat Musikk und weil es hat Krittikk.«

»Ich bin beglückt, Doktor Wrschowitz, speziell aus Ihrem Munde so viel Gutes über unsre Stadt zu hören. Im allgemeinen ist die slawische, besonders die tschechische Welt …«

»O, die tschechische Welt. Vanitas vanitatum.«

»Es ist sehr selten, in nationalen Fragen einem so freien Drüberstehn zu begegnen … Aber wenn es Ihnen recht ist, Doktor Wrschowitz, wir stehen hier wie zwei Schildhalter neben diesem aufgeklappten Klavier, – vielleicht daß wir uns setzen könnten. Gräfin Melusine lugt ohnehin schon nach uns aus.« Und als Wrschowitz seine Zustimmung zu diesem Vorschlage Czakos ausgedrückt hatte, schritten beide Herren vom Klavier her auf den Kamin zu, vor dem sich die Gräfin auf einem Fauteuil niedergelassen hatte. Neben ihr stand ein Marmortischchen, drauf sie den linken Arm stützte.