Nach Hause kommen zu sich selbst

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Drei Tore zur Zuflucht

Manchmal hörst du eine Stimme durch die Tür, die dich ruft,

wie ein Fisch auf dem Trockenen die Wellen hört …

Komm zurück. Komm zurück.

Diese Wendung hin zu dem, was du zutiefst liebst, rettet dich.

Rumi

Das große Geschenk eines spirituellen Pfades liegt in dem wachsenden Vertrauen, einen Weg zu wahrer Zuflucht finden zu können. Wir erkennen, dass wir genau dort beginnen können, wo wir sind, inmitten unseres eigenen Lebens, und unter allen Umständen Frieden erfahren können. Selbst in jenen Augenblicken, wo wir meinen, den Boden unter den Füßen zu verlieren – wie bei einem Verlust, der unser Leben für immer verändert –, können wir uns darauf verlassen, den Weg nach Hause zu finden. Dies ist möglich, weil wir mit der zeitlosen Liebe und Bewusstheit in Berührung gekommen sind, die unserem Sein zu eigen sind.

Im Verlauf der Menschheitsgeschichte und in vielen religiösen und spirituellen Traditionen tauchen immer wieder drei archetypische Tore zum universellen Weg des Erwachens auf. Aus meiner Sicht lässt sich der Geist dieser Tore am besten mit den Begriffen Wahrheit, Liebe und Gewahrsein erfassen. Wahrheit ist die lebendige Wirklichkeit, die sich im gegenwärtigen Augenblick offenbart; Liebe ist das Empfinden von Verbundenheit oder Einheit mit der Gesamtheit des Lebens; und Gewahrsein meint jene stille Wachheit, die den Hintergrund aller Erfahrung bildet; das Bewusstsein, welches diese Worte liest, Geräusche hört, Empfindungen und Gefühle wahrnimmt. Jedes dieser Tore bildet einen wesentlichen Teil dessen, was uns ausmacht; jedes ist eine Zuflucht, denn sie sind immer da, unserem Dasein selbst innewohnend.

Wer mit dem buddhistischen Weg vertraut ist, erkennt diese Begriffe vielleicht wieder. Traditionell lauten sie:

• Zuflucht zu Buddha (dem »Erwachten« oder unserem eigenen reinen Gewahrsein)

• Zuflucht zum Dharma (der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks; den Lehren; dem Weg)

• Zuflucht zum Sangha (der Gemeinschaft der spirituellen Freunde oder der Liebe)

In den folgenden Kapiteln habe ich diese Tore jedoch so angeordnet, wie sie nach meiner Erfahrung am zugänglichsten sind. Für viele Menschen, vor allem für jene, die Meditation üben, bildet der Kontakt mit der Wahrheit des gegenwärtigen Augenblicks die erste Öffnung zu innerer Zuflucht. Für andere ist es das Erwachen der Liebe. Wenn wir uns mit diesen Toren der Wahrheit und der Liebe vertraut gemacht haben, entsteht daraus eine Hinwendung zu formlosem Gewahrsein. Im Laufe der Zeit wird die Zuwendung zu jedem dieser Tore auf natürliche Weise zu den anderen führen. Sie sind wahrhaft unzertrennlich.

Im Hinduismus sind dieselben Tore zentral, und sie heißen auf Sanskrit: Sat (ultimative Wahrheit oder Wirklichkeit), Ananda (Liebe oder Seligkeit) und Chit (Bewusstsein oder Gewahrsein). Und wir finden sie auch in manchen Interpretationen der christlichen Dreifaltigkeit wieder: Vater (der Ursprung oder das Gewahrsein), Sohn (das formgewordene Gewahrsein oder die lebendige Wirklichkeit/Wahrheit) und Heiliger Geist (Liebe, die Liebe zwischen Vater und Sohn).

Scheint das alles sehr abstrakt und unzugänglich, wenn wir mit unserem Alltag ringen? Wie können wir zu diesen Toren in unserem Alltag Zugang finden? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass jeder dieser Zufluchtsbereiche einen inneren und einen äußeren Aspekt hat. In ihren äußeren Erscheinungsformen sind uns diese Zufluchten weltliche Quellen der Heilung, der Unterstützung und der Inspiration. Wir können aus weisen Lehren lernen (Wahrheit). Wir können mit Freunden und Verwandten Wärme und Zuneigung genießen (Liebe). Wir können uns von spirituellen Vorbildern inspirieren lassen (Gewahrsein). Jede Religion und jeder spirituelle Weg enthält Angebote solcher äußerer Zufluchten. Wenn wir uns auf sie einlassen, bieten sie uns direkte, konkrete Hilfen für unser tägliches Leben. Doch die äußeren Zufluchten offerieren noch mehr: Sie sind Zugang zu den inneren Zufluchten des reinen Gewahrseins, des lebendigen Flusses der Wahrheit und der grenzenlosen Liebe. Wenn wir uns diese Ausdrucksformen unserer wahren Natur zu eigen machen, löst sich die Trance der Getrenntheit auf und wir sind frei.

Die äußeren und inneren Aspekte der Zuflucht


ÄUSSERE ZUFLUCHTINNERE ZUFLUCHT
WAHRHEITMeditation Ethik LehrenDie Natur der Wirklichkeit erkennen; lebendige Präsenz verkörpern
LIEBEBewusste Beziehungen zu sich selbst und anderenEinheit erkennen; liebevolle Präsenz verkörpern
GEWAHRSEINInspirierende spirituelle PersonenDas leere, leuchtende Gewahrsein erkennen und verkörpern

Das Tor der Wahrheit

In Pali, der Sprache der frühesten buddhistischen Schriften, kann das Wort Dharma »Pfad«, »Weg« oder »Natur der Dinge« bedeuten. Wenn ich oder andere buddhistische Lehrer in unseren Kursen und Retreats »Dharma-Vorträge« anbieten, beziehen wir uns auf drei Wege, die wir einschlagen können, um Zuflucht zur Wahrheit zu nehmen: das Arbeiten mit unserem Innenleben durch eine Meditationspraxis; die innere Verpflichtung zu weisem, tugendhaftem Verhalten; und ein Verstehen der Lehren oder Wahrheiten, die uns auf dem spirituellen Weg leiten.

~ Meditation: Zur Wahrheit erwachen ~

Vielleicht sind Sie mit der Achtsamkeitspraxis in einer Klinik, in einer Psychotherapie oder in einer Fortbildung in Kontakt gekommen – ohne jeglichen Bezug zum Buddhismus. Allein die Erkenntnis, dass wir unsere Aufmerksamkeit bewusst steuern können, kann eine verblüffende, wundervolle Entdeckung sein. Auch ganz am Anfang der Praxis können wir die ruhige Zentriertheit erfahren, die sich einstellt, wenn wir aus unseren Gedanken aufwachen und im Atem ruhen und durch das achtsame Gewahrsein der Erfahrung des jeweiligen Augenblicks neue Klarheit gewinnen.

Viele Menschen kommen zunächst aus gesundheitlichen Gründen oder um Stress abzubauen zu meinem Meditationskurs am Mittwochabend. Manchmal machen sie dann überraschende Entdeckungen.

Terrance war Richter am Kammergericht in Washington D.C. Bei seinem ersten Besuch meines Kurses kam er am Ende der Veranstaltung auf mich zu, um über seine Arbeit zu reden. Er fühlte sich von den vollen Gerichtssälen und dem ganzen Ausmaß an Leiden, welchem er dort jeden Tag begegnete, oft überfordert. Er fragte mich, was er tun könne, um sich in alldem mehr Luft zu verschaffen. Ich nahm seinen Ausdruck »mehr Luft verschaffen« auf und schlug ihm eine tägliche Meditationspraxis vor, bei der ihm der Atem als Anker diente. So würde er dann selbst bei der Arbeit nur einen kurzen Moment brauchen, in dem er sich mit seinem Atem verbinden und so innere Klarheit und Gelassenheit finden könnte.

Terrance war diszipliniert. Er besuchte einen Kurs, den wir für eine Gruppe von Richtern anboten, und praktizierte jeden Tag eine halbe Stunde für sich allein. Am Ende des Kurses kam er wieder zu mir. »Es funktioniert, Tara«, erklärte er mir mit einem Lächeln, »aber nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Ja, ich bin auf jeden Fall ruhiger geworden. Aber da ist noch etwas. Jede Person, die jetzt vor meinen Richtertisch tritt, ist zu einem wirklichen Menschen geworden, der meinen Respekt verdient. Und mehr als das … Jeder ist auf eine ganz grundlegende Art ›mir gleich‹. Ich bin mit einer Liebe und einem Bewusstsein verbunden, welches ich zwar intellektuell verstanden, aber noch nie wirklich erlebt hatte.«

Die Praxis der Meditation führt zu konkreten, messbaren und äußerst wertvollen Ergebnissen, doch der Buddha hatte noch eine grundlegendere Absicht: Durch das Einüben eines entspannten, aufmerksamen Geistes gewinnen wir direkten Einblick in die Wahrheit dessen, wer wir sind. Terrance begann, die Erfahrung zu machen, dass Mitgefühl und Verbindung nicht nur Konzepte sind, sondern gelebte Erfahrungen.

~ Ethik: Leben im Einklang mit der Wahrheit ~

Der tibetischen Lehre zufolge sollten wir unserem Geist erlauben, so weit zu sein wie der Himmel, doch in unserem täglichen Umgang sollten wir so fein sein wie ein Sandkorn. Darin spiegelt sich eine grundsätzliche Wahrheit wider: Die Art, wie wir leben – unser Umgang mit anderen, die Energie hinter unseren Worten, unsere gewohnheitsmäßige Beziehung zur Erde –, prägt unser Bewusstsein und wirkt sich in unserer Umgebung aus. Mit allem, was wir in jedem Augenblick sagen und tun, pflanzen wir Samen für unsere Zukunft. Wenn wir uns dieser Wahrheit bewusst sind und ihr erlauben, unser Handeln zu bestimmen, öffnen sich unser Geist und unser Herz für die innere Zuflucht der Wahrheit.

Wie viele spirituelle Leitfiguren lehrte auch der Buddha eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben und eine innere Verpflichtung, niemandem Schaden zuzufügen. Seinen Grundsätzen zufolge sollen wir nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, keine Drogen missbrauchen und niemandem durch sexuelle Aktivitäten schaden. Er ruft uns auf, mitfühlend zu leben: das Leben zu schützen und zu würdigen, großzügig zu sein, freundlich und gütig die Wahrheit auszusprechen, uns gut um unseren Körper und Geist zu kümmern und bewusste, respektvolle Beziehungen zu pflegen.

Ich habe oft erlebt, wie diese Lehren in stürmischen Zeiten Menschen als Rettungsboot dienten. Mein Meditationsschüler Manny war Projektleiter in einem innovativen Unternehmen, welches eine Reihe erfolgreicher Software-Anwendungen entwickelt hatte. Der größte Teil der kreativen Brillanz dieser Anwendungen stammte von einem jungen Mann und einer jungen Frau aus Mannys Team, doch in seinen Treffen mit den Leitern des Unternehmens hatte er ihren Anteil nie erwähnt. Als Manny über sein Handeln nachsann, durchlief ihn eines Tages eine Welle des Selbstekels: Das war Diebstahl. Er hatte die Lorbeeren selbst eingeheimst, die eigentlich anderen gebührten. Und es war Lüge: Er hatte es vermieden, die Wahrheit zu sagen. Von diesem Tag an bemühte er sich bewusst darum, die Beiträge seiner Mitarbeiter zu würdigen, sowohl im Team als auch gegenüber seinen Vorgesetzten. Er merkte, dass er sich dadurch innerlich klarer und mehr mit sich selbst im Reinen fühlte.

 

Eine Freundin von mir meinte einmal scherzhaft, wenn wir den ganzen Tag über lügen, stehlen und andere niedermachen, könnten wir nicht erwarten, uns am Abend zu einer netten, friedlichen Meditation hinsetzen zu können. Gewaltvolles oder manipulatives Verhalten wirkt sich direkt auf unser Nervensystem und unsere Stimmung aus. Dementsprechend fördert ein tugendhaftes Leben ein glückliches, zufriedenes Herz. Selbst wenn wir keinen Zugang zu unserer ganzen Weisheit und unserem vollen Mitgefühl haben – allein das bewusste Bemühen um ein hilfsbereites, freundliches Verhalten wirkt sich auf unser Innenleben aus. Wir werden energetisch ausgeglichener und sind mehr im Frieden damit, wie wir mit dem Leben in uns und um uns herum umgehen.

Die innere Verpflichtung, niemandem zu schaden, bedeutet jedoch nicht, dass wir uns geißeln sollten, wenn wir etwas Verletzendes gesagt oder einen über den Durst getrunken haben. Unsere innere Verpflichtung kann uns dann vielmehr anregen, inmitten unseres Tuns innezuhalten und zu bemerken, was gerade vor sich geht. Wenn wir lernen, unsere Aufmerksamkeit auf diese Weise zu vertiefen, verbinden wir uns immer tiefer mit der uns innewohnenden Ehrfurcht vor dem Leben.

~ Lehren der Wahrheit: Die Wirklichkeit annehmen ~

Vor etwa zwanzig Jahren fuhr ich mit einem Freund nach Süd-Virginia, um an einem Retreat des vietnamesischen Zen-Lehrers Thich Nhat Hanh teilzunehmen. Während der Schlusszeremonie forderte er uns auf, einen Partner auszuwählen – ich wandte mich meinem Freund zu – und uns voreinander zu verneigen. Dann wies er uns an, einander zu umarmen und dabei drei Mal bewusst und vollständig ein- und auszuatmen. Während des ersten Atemzugs sollten wir uns vergegenwärtigen: »Ich werde sterben«; während des zweiten Atemzugs: »Du wirst sterben«; und während des dritten Atemzugs: »Und uns bleiben nur diese kostbaren Augenblicke.« Nachdem wir uns langsam aus der Umarmung gelöst hatten, sahen mein Freund und ich uns durch Tränenschleier in die Augen. Thich Nhat Hanh hatte uns auf wundervolle Weise zur Zuflucht der Wahrheit geführt.

Es ist nicht so leicht, uns den Realitäten unserer Existenz zu stellen und sie anzunehmen. Wir sind zutiefst darauf konditioniert, uns vor Schmerz zu schützen und uns an jede Hoffnung zu klammern, die uns Sicherheit und Annehmlichkeiten verspricht. Aus diesem Grund verharrte auch mein Freund Paul zwei Jahrzehnte lang in einer konfliktreichen Ehe. Paul war ein extrovertierter Mensch, der in der Gesellschaft anderer aufblühte und der sich von seiner Frau Karen »ausgegrenzt« fühlte. »Sie zog sich lieber mit unserer Katze und ihren Gedichten zurück, als Zeit mit mir zu verbringen«, klagte er. In seiner Verletztheit und seinem Ärger warf er ihr vor, ihn emotional zu vernachlässigen, sich nicht um ihn zu kümmern, nicht für ihn da zu sein. Sie reagierte darauf mit noch mehr Rückzug.

An einem Wochenende, das Karen bei ihrer gemeinsamen erwachsenen Tochter verbrachte, hatte Paul eine verblüffende Erkenntnis. »Woche um Woche, Jahr um Jahr war ich immer davon ausgegangen, dass sie anders sein sollte, dass unsere Beziehung anders sein sollte … Aber Karen ist einfach so, wie sie ist.« Ihm wurde bewusst, dass er seinen Traum von Nähe und Intimität mit Karen nie erreichen würde. Je mehr er sich seinem eigenen Schmerz und seiner Einsamkeit unmittelbar öffnete, desto mehr konnte er Karen so akzeptieren, wie sie war. Die Spannung wich aus ihrer Beziehung, und sie fingen an, aufrichtiger, respektvoller und sorgsamer miteinander umzugehen. »Als wir uns entschieden, uns zu trennen, geschah dies nicht, weil wir miteinander im Streit lagen«, erklärte mir Paul. »Es geschah, weil wir aufrichtig waren …, weil wir akzeptierten, wie es war.« Und dann fügte er wehmütig hinzu: »Es ist traurig, zu erkennen, wie unser Bestreben, der andere möge anders sein, unsere Liebe jahrelang verdeckte.«

Wenn wir durch das Tor der Wahrheit gehen, beginnen wir mit der Erkenntnis dessen, was wirklich ist, und streben danach, es anzunehmen. Dieses Annehmen bedeutet nicht passive Resignation, sondern ein mutiges Sich-Einlassen auf die Realität unserer Erfahrung. Vielleicht gefällt uns nicht, was wir dabei entdecken, aber wir können es mit mitfühlender Präsenz umfangen. Je mehr wir in dieser Präsenz ruhen, desto heller und klarer wird unsere Aufmerksamkeit. Dann sehen wir das, was jenseits des wechselhaften Spiels der Gedanken, Gefühle und Empfindungen liegt, und entdecken unsere innere Zuflucht – jene wache Offenheit und Feinfühligkeit, in die jede Erfahrung eingebettet ist.

Das Tor der Liebe

Teil einer bewussten Gemeinschaft zu sein, ist eine wunderbare äußere Zuflucht und ein kraftvoller Weg zu wahrer Geborgenheit. In der buddhistischen Tradition bezog sich das Wort Sangha ursprünglich auf die Gemeinde der Mönche und Nonnen, die dem Weg des Buddha folgten. Heutzutage verstehen wir hier im Westen Sangha oft in einem umfassenderen Sinn. Der wesentliche Unterschied zwischen einem Sangha oder einer bewussten Gemeinschaft und anderen sozialen Organisationen ist die hingebungsvolle Verpflichtung zu bestimmten gemeinsamen Werten und Praktiken oder Ritualen, die dem spirituellen Erwachen dienen. Zu den bekanntesten Sanghas unserer Kultur gehören die Zwölf-Schritte-Gruppen, in denen sich die Mitglieder gegenseitig darin unterstützen, sich von Süchten und Abhängigkeiten zu befreien und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Alle Religionen und Glaubensrichtungen haben ihre eigenen Formen solcher spirituellen Gemeinschaften, aber man braucht keinen formellen Zutritt zu einem Glauben, um diese Art der Zugehörigkeit zu erfahren. Unserer Meditationsgemeinschaft gehören Anhänger vieler verschiedener Traditionen und auch ausgesprochen säkulare Menschen an. In ihrem weiteren Umfeld haben sich über fünfundzwanzig kleinere Gruppierungen gebildet, sogenannte Kalyana Mitta oder spirituelle Freundeskreise, die gemeinsam erforschen, wie sie die Lehren in ihrem täglichen Leben umsetzen können. Diese Gruppen stehen jedem offen, der daran interessiert ist. Andere haben sich mit Menschen zusammengetan, die ähnliche Merkmale aufweisen wie sie selbst – Jugendliche und junge Erwachsene, Farbige, Menschen mit Suchtproblemen, Lesben, Schwule und Zweifelnde.

Natürlich können wir die Vorzüge eines Sangha auch genießen, wenn wir nicht Teil einer spirituellen Gruppierung sind. Häufig erfahren wir gerade in der Familie oder im Freundeskreis ständige Herausforderungen und tiefes Erwachen. Unsere Herzen öffnen sich weit, wenn wir Geburten oder Hochzeiten feiern, den Verlust lieber Menschen betrauern, uns für ein Festmahl versammeln, anderen eine schwierige Wahrheit anvertrauen oder einander in Zeiten der Krankheit und des Stresses helfen. In der unmittelbaren Nähe, die in diesen Momenten entsteht, erhaschen wir eine Ahnung davon, wer wir jenseits der Trance des kleinen Selbst sind.

Die Zuflucht der Liebe wird für mich immer wieder auf ergreifende und einfache Weise lebendig. Ich erlebe sie, wenn ich einem Freund oder einer Freundin im Schmerz still beistehe, wenn mein Mann Jonathan mich und meinen Computer sicher durch ein technologisches Minenfeld führt, wenn der Vorstand unserer Gemeinschaft tagt und einander auch dann respektvoll zuhört, wenn die Meinungen auseinandergehen. Ich erlebe sie, wenn ich an einem gemeinsamen Ziel mit anderen zusammenarbeite, sei es, um einen Text zu verfassen, ein Problem zu lösen, eine Mahlzeit zuzubereiten oder unserer Welt auf eine geringfügige, aber konkrete Art zu helfen. Mein »Ich«-Empfinden wird dabei lockerer und durchlässiger. Ich bin Teil von etwas Größerem, stehe nicht mehr im Bann des Schmerzes und der Angst vor Trennung.

Menschen kommen oft mit der Erwartung in unsere Meditationsgemeinschaft, dass hier alle freundlich, rücksichtsvoll und großzügig seien. Schließlich sind wir ja eine spirituelle Gruppe! Wenn ihre Mitmeditierenden dann gedankenlose oder verurteilende Bemerkungen machen, darauf bestehen, »recht« zu haben, oder sich in Konflikte verwickeln, kommt es leicht zu Enttäuschungen. Und wenn sie immer wieder mit ihren eigenen Gefühlen der Verletztheit und mit ihnen vertrauten Arten der Verteidigung und des Auf-Distanz-Gehens konfrontiert werden, fühlen sie sich oft desillusioniert.

Doch selbst wenn Gewohnheiten wie Schuldzuweisung oder Abwehr auftauchen, kann sich etwas zutiefst verändern, wenn die Betroffenen dem Geschehen mit hingebungsvoller Präsenz begegnen. Dann wird die Gemeinschaft zur Zuflucht – zu einem Ort wahren Erwachens.

Charlie war in seinem letzten Collegejahr, als er zu mir zur Beratung kam. Seine Mutter hatte ihn vernachlässigt, sein Vater hatte ihn misshandelt. Als er der Selbsthilfegruppe der Anonymen Drogensüchtigen beitrat, fühlte er sich unfähig, darauf zu vertrauen, dass sein Wohl seinem Sponsor wirklich wichtig war oder dass die Mitglieder seiner Gruppe ihn wirklich dabeihaben wollten. Ich ermutigte Charlie, dranzubleiben und sich nicht nur der Abstinenz zu verpflichten, sondern sich auch ganz auf die Begegnung mit den anderen Teilnehmern des Programms einzulassen. Es brauchte viele Monate regelmäßiger Treffen, aber schließlich konnte Charlie spüren, dass er endlich eine richtige Familie gefunden hatte.

Manche von uns haben immer wie Charlie im Abseits gestanden und auf die anderen geschaut. Andere brauchten das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, und waren aus diesem Grund nicht in der Lage, sich ihren Mitmenschen wirklich nahe zu fühlen. Manche sind ständig in Konflikte verwickelt und anderen gegenüber sehr aggressiv oder ausgesprochen defensiv. Wie unsere persönliche Geschichte auch immer verlaufen ist, uns allen wohnt die Fähigkeit zu innigen, authentischen Beziehungen inne, und sie lässt sich mit etwas Übung zum Leben erwecken, indem wir lernen, uns im gegenwärtigen Augenblick uns selbst und unserem Gegenüber bewusst zuzuwenden. Das ist in jeder Form von Beziehung möglich, in der sich die Beteiligten verbindlich darauf eingelassen haben, »zu bleiben«, freundlich zu sein und miteinander zu erwachen.

Spirituelle Freunde zu haben, ist keine oberflächliche Annehmlichkeit. Es hilft uns, aus der Trance der Getrenntheit zu erwachen, die oft so tief ist, dass wir sie nicht bemerken. In bewussten Beziehungen werden die verschiedenen Schichten unserer Gefühle von Minderwertigkeit und Einsamkeit genauso beleuchtet wie die Wahrheit unserer Zugehörigkeit. Wir fangen an, mit dem Leiden der Welt mitfühlender und aktiver umzugehen. Wir entdecken, dass unsere wahre Gemeinschaft alle Lebewesen umfasst. Wenn wir uns in diese Zugehörigkeit zu dem Netzwerk des Lebens hinein entspannen und ihr vertrauen, erkennen wir das eine Gewahrsein, welches durch jedes Wesen strahlt. Unsere spirituellen Freunde ebnen uns den Weg zu der inneren Zuflucht der bedingungslos liebenden Präsenz.

Das Tor des Gewahrseins

Kurz nach seiner Erleuchtung machte sich der Buddha auf den Weg, seine Erkenntnisse anderen mitzuteilen. Die Menschen staunten über seine außergewöhnliche Ausstrahlung und seine friedvolle Präsenz. Ein Mann fragte ihn, wer er sei. »Seid Ihr ein himmlisches Wesen oder ein Gott?« – »Nein«, antwortete der Buddha. – »Seid Ihr ein Heiliger oder Weiser?« Wieder verneinte der Buddha. »Seid Ihr eine Art Magier oder Zauberer?« – »Nein.« – »Aber was seid Ihr dann?« Der Buddha antwortete: »Ich bin erwacht.«

Ich erzähle diese Geschichte gerne, weil sie uns daran erinnert, dass spirituelles Erwachen – so außerordentlich es auch scheinen mag – eine den Menschen innewohnende Fähigkeit ist. Siddhartha Gautama (so lautete der Geburtsname des Buddha) war ein Mensch, kein Gott. Wenn Buddhisten zum historischen Buddha (der Name bedeutet »der Erwachte«) Zuflucht nehmen, lassen sie sich von einem Mitmenschen inspirieren, der seine innere Freiheit verwirklichen konnte. Genau wie wir erlebte Siddhartha körperliche Schmerzen und Krankheiten, und genau wie wir musste er sich mit inneren Konflikten und Widrigkeiten auseinandersetzen. Das Nachsinnen über sein mutiges Erforschen der Wirklichkeit und sein Erwachen zu einer zeitlosen und mitfühlenden Präsenz nährt in seinen Anhängern das Vertrauen, dass dieses Potenzial auch jedem von uns innewohnt.

 

Auf dieselbe Art können wir dem Leben Jesu oder Lehrern oder Heilern anderer Traditionen nachspüren. Jeder spirituell erwachte Mensch hilft uns, darauf zu vertrauen, dass auch wir erwachen können.

Eine Ahnung dieser äußeren Zuflucht kann uns auch durch zugewandte, weise Lehrer oder Mentorinnen zukommen. Meine sechsundachtzig Jahre alte Tante, eine Spezialistin für Bluterkrankungen bei Kindern, führt ihre Liebe zur Natur und ihre Entschlossenheit, Ärztin zu werden, auf eine Naturkundelehrerin zurück, die sie in der Mittelstufe hatte. Zu jener Zeit waren Frauen auf der medizinischen Hochschule eine Seltenheit, aber diese Lehrerin, eine Frau mit einem leidenschaftlichen Intellekt, vermittelte meiner Tante die wichtige Botschaft: »Vertraue auf deine Intelligenz und lass deiner Neugier freien Lauf!« Ein afroamerikanischer Freund von mir, der in Unternehmen Diversity-Trainings durchführt, ließ sich durch seinen Pfarrer inspirieren, der sich stark in der Bürgerrechtsbewegung engagierte und ein Vorbild an Großzügigkeit, Humor und Weisheit war. Ich selbst fand in meinem ersten Meditationslehrer Stephen Zuflucht: Seine große Liebe zur Meditation und seine sich ständig weiter entfaltende Klarheit und Güte trugen dazu bei, meine Hingabe an den spirituellen Weg zu erwecken. Wir reagieren auf unsere Mentoren, weil sie Qualitäten des Herzens und des Geistes, Qualitäten des Gewahrseins ansprechen, die wir bereits in uns tragen. Ihr Geschenk besteht darin, dass sie uns daran erinnern, was alles möglich ist, und es hervorrufen. In ganz ähnlicher Weise fühlen wir uns zu spirituellen Figuren hingezogen, die uns helfen, uns mit unseren inneren Qualitäten zu verbinden.

Vor etwa zehn Jahren begann ich, mit einer einfachen, selbst entwickelten Meditation zu experimentieren. Ich rief die Präsenz der göttlichen Mutter (des heiligen Weiblichen) an und spürte dann innerhalb einer Minute oder so, wie mich eine strahlende Offenheit umgab. Ich stellte mir den Geist dieses erwachten Wesens vor und spürte dabei eine große Weite und Klarheit. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Herzen der göttlichen Mutter zu, und diese Offenheit füllte sich mit Wärme und Empfindsamkeit. Zum Schluss richtete ich meine Aufmerksamkeit dann nach innen, um zu erkennen, wie diese zartfühlende, strahlende, alles umfassende Bewusstheit in mir lebte. Ich spürte, wie mein Körper, mein Herz und mein Geist aufleuchteten, als ob der sonnendurchflutete Himmel jede Zelle meines Körpers durchdrang und durch alle Zellzwischenräume schien.

Inzwischen habe ich erkannt, dass ich mit dieser Meditation die Bewegung von der äußeren zur inneren Zuflucht erforschte. Indem ich mich regelmäßig mit diesen Facetten heiliger Präsenz in mir verband, vertiefte ich mein Vertrauen in mein eigenes essenzielles Sein.

Zu erkennen, wer wir sind, erfüllt unser menschliches Potenzial. Wir spüren intuitiv, dass wir mysteriöser und umfassender sind als das kleine Selbst, welches wir durch unsere Geschichten und unsere wechselhaften Emotionen erfahren. Wenn wir lernen, uns unserem Gewahrsein direkt zuzuwenden, entdecken wir den zeitlosen und wachen Zustand unserer wahren Natur. Diese innere Zuflucht zum reinen Gewahrsein ist die höchste Form unserer Heimkehr. Sie ist die Frucht jeder spirituellen Praxis und verleiht unserem Leben Schönheit und Bedeutung.

Beginnen Sie, wo Sie sind

Unabhängig davon, ob wir auf dem Weg schon viele Erfahrungen gesammelt haben oder ob er uns ganz neu ist: Immer wieder gilt es, für sich selbst herauszufinden, wo wir unsere Aufmerksamkeit zu diesem Zeitpunkt unseres Lebens am sinnvollsten hinlenken. Je nach Umständen, Temperament und vergangenen Erfahrungen erscheint uns die eine oder die andere der äußeren Zufluchten gerade günstiger oder zugänglicher. Manche Menschen blühen auf, wenn sie sich durch irgendeine Art spiritueller Gruppe unterstützt fühlen. Anderen hilft es, zu den wöchentlichen Kursen zu gehen, und wieder andere fühlen sich vielleicht zum Studium der klassischen buddhistischen Texte hingezogen. Wo auch immer Sie anfangen oder welcher Zuflucht Sie sich gerade zuwenden mögen, Sie können sich darauf verlassen, dass es für Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt der richtige Ort sein wird.

Die größte Illusion über einen Weg der Zuflucht besteht darin, dass wir auf einem Weg irgendwohin seien, dass es darum ginge, ein anderer Mensch zu werden. Letztendlich liegt unsere Zuflucht nicht außerhalb von uns und nicht irgendwo in der Zukunft – sie ist immer und bereits hier. Wie Sie in den folgenden Kapiteln immer wieder sehen werden, lässt sich die Wahrheit nur in der Lebendigkeit des gegenwärtigen Augenblicks entdecken; lässt sich Liebe nur in diesem Herzen, hier und jetzt erfahren; und lässt sich Gewahrsein nur verwirklichen, wenn wir in die Wachheit unseres eigenen Geistes eintauchen.

Geführte Besinnung

Das Wichtigste erinnern

Wir wenden uns der Zuflucht zur Wahrheit, der Liebe und des Gewahrseins zu, indem wir auf den Ruf unseres Herzens lauschen. Jenseits aller Meditationstechniken erweckt und befreit unseren Geist vor allem die Erinnerung an das, was uns am wichtigsten ist. Ich zitiere nochmals Zen-Meister Suzuki Roshi: »Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.« Die meisten Menschen brauchen etwas Zeit und Aufmerksamkeit, um ihre tiefste Sehnsucht zu erkennen und sich damit zu verbinden. Es gilt vielleicht, etliche Schichten unmittelbarerer Wünsche und Ängste abzutragen, bevor wir zur Quelle gelangen, zum Licht reinen Strebens. Das Verkörpern dieser Sehnsucht wird zum Kompass des Herzens, der uns den Weg nach Hause weist.

Setzen Sie sich bequem hin und nehmen Sie sich einen Moment Zeit, sich zu lösen und zu entspannen. Werden Sie sich mit empfänglicher Präsenz des Zustands Ihres Herzens gewahr. Fühlt es sich eher offen oder eher angespannt an? Spüren Sie eher Frieden oder eher Besorgnis? Zufriedenheit oder Unzufriedenheit? Wenn gerade etwas in Ihrem Leben vor sich geht, was Ihnen besondere Sorge bereitet oder Sie sehr beschäftigt, oder wenn einfach eine starke Emotion spürbar ist, nehmen Sie es wahr und lassen Sie es zu. Vielleicht bemerken Sie zuerst, dass Sie sich wünschen, Ihr Partner möge anders mit Ihnen umgehen. Vielleicht spüren Sie deutlich, wie sehr Sie eine besonders anstrengende Arbeit gerne hinter sich hätten. Oder Sie sehnen sich danach, einen chronischen Schmerz los zu sein. Vielleicht liegt es Ihnen sehr am Herzen, dass eines Ihrer Kinder mehr Selbstvertrauen entwickeln möge.

Was sich auch zeigt, geben Sie ihm Raum und fragen Sie sich dann neugierig: »Wenn ich hätte, was ich will, was würde mir das dann eigentlich geben?« Wenn Ihr Partner anders mit Ihnen umgehen würde, stellen Sie sich vielleicht vor, Sie wären weniger gereizt und könnten freier lieben. Oder wenn der chronische Schmerz nicht mehr da wäre, könnten Sie sich entspannen und das Leben besser genießen.

Setzen Sie Ihre Untersuchung fort, indem Sie dann direkt fragen: »Wonach sehnt sich mein Herz wirklich?« Manchmal ist auch die Frage hilfreich: »Was ist mir im Leben am wichtigsten?«, oder: »Wenn ich vom Ende meines Lebens aus Rückschau halten würde, was wäre mir in Bezug auf mein heutiges Leben, auf diesen Moment, am wichtigsten?« Richten Sie alle diese Fragen direkt an Ihr Herz.

Lauschen Sie nach dem Fragen einfach in sich hinein und achten Sie auf Worte, Bilder oder Empfindungen, die aufsteigen. Üben Sie sich in Geduld – es kann etwas dauern, bis sich der Geist aus seinen gewohnten Vorstellungen über das Leben löst und sich mit dem Lebendigsten, Wahrsten verbindet. Möglicherweise müssen Sie verschiedene Versionen von »Wonach sehnt sich mein Herz am meisten?« mehrfach wiederholen und sich dann immer wieder empfänglich der Stille öffnen und darauf lauschen, was erscheint. Achten Sie während des Lauschens darauf, was Sie in Ihrem Körper fühlen, vor allem im Herzen.