Eisfuchs

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RITUAL

EIN PAAR MINUTEN außerhalb gibt es einen kleinen Sumpf in der Tundra. Er ist voller Sperrholzbretter, die der gnadenlose arktische Wind von den Baustellen hierher geweht hat. Die Winterwinde und der Permafrost lassen nur wenige Monate lang Bauarbeiten zu. Dann schuften die Bauarbeiter rund um die Uhr unter der Mitternachtssonne. Ein paar Sperrholzlatten hinterherzujagen, die von den heftigen Böen der Hoch arktis weggeweht worden sind, ist nicht Grund genug, um das Werkzeug sinken zu lassen.

Unter diesen Brettern finden unendlich viele Arten Schutz vor dem Wind. In der weiten Baumlosigkeit wird das Sperrholz zur Heimat. Eine dunkle Zuflucht, die Sicherheit vor den vielen Raubtieren bietet. Alle möglichen Lebewesen stöbern wir unter den Spanplatten auf: Käfer, Vogelküken, Lemminge. Die Lemminge mag ich am liebsten. Wenn ich das Dach von ihrem Unterschlupf reiße, erschrecken sie sehr und rennen blind los, um vor dem Monster zu fliehen, das ihre Welt kaputt gemacht hat.

Wenn ich einen gejagt und gefangen habe, halte ich ihn in meinen gewölbten Händen und singe ihm was vor, bis sein Herz wieder normal schlägt. Dann stecke ich mir die Lemminge in die Taschen. Bloß nicht mehr als einen pro Tasche, sonst fangen sie an, sich zu bekämpfen. Nur wenige Lebewesen bleiben friedlich, wenn der Platz knapp wird. Ich habe sechs Taschen in meiner Windjacke. Sechs Lemminge am Tag, Doktor gespart.

Auf dem Heimweg pfeife ich und platze fast vor Vorfreude auf mein tägliches Ritual; heute habe ich nur fünf Lemminge. An der Rückseite unseres Hauses gibt es einen kleinen Windfang. Niemand geht zur Hintertür hinaus, darum ist der Windfang mein Reich. Hier kann ich Sachen verstecken und so tun, als ob der Rest der Welt ebenfalls mir gehört. Ich hole ein paar Karotten und Selleriestangen aus dem Kühlschrank, dann setze ich die Lemminge in dem leeren Windfang auf den Boden. Die Karotten gehören in die Ecke. Erst haben die Tierchen Angst, aber so einem Buffet können sie nicht widerstehen. Ich lasse sie mümmeln, bis sie ruhig werden, und gehe rein.

Im Wohnzimmer steht ein Aquarium. Mit Molchen, Schnecken und Fischen. Die Schnecken vermehren sich zu schnell, deswegen beginnt mein Ritual damit, dass ich mindestens zehn von ihnen am Glas zerquetsche, mit Häuschen und allem. Ich finde es befriedigend, wenn ich die Häuser zerbrechen höre – wie wenn man beim Staubsaugen richtig viel Dreck aufsaugt, der in einer blechernen Symphonie das Rohr hinaufklimpert.

Der zweite Teil meines Rituals besteht darin, einen der Molche am Schwanz zu packen und in den Mund zu nehmen. Erst sitzt er auf meiner Zunge, die winzigen Saugnäpfe seiner Zehen heften sich an meine Geschmacksknospen. Ich schließe den Mund. Der Molch kriecht kurz verwirrt herum, dann macht er es sich in der dunklen Wärme bequem. Er windet sich unter meine Zunge und schläft normalerweise dort ein. Ich erledige ein bisschen was im Haushalt, während er sich ausruht, öffne ab und zu den Mund, damit er frische Luft bekommt. Ich gehe ins Bad und stelle mich vor den Spiegel. Der Molch schläft fast immer, seine niedlichen kleinen Augen sind geschlossen und entspannt, meine Zunge ist seine Bettdecke. Ich finde ihn süß. Ich setze ihn zurück ins Aquarium und gehe nach meinen felligen Freunden schauen.


Die Lemminge sind satt und zufrieden. Ich lege mich in den kleinen Windfang. Wenn ich die Knie anziehe, passe ich der Länge nach in das Karree. Ich breite meine langen Haare auf dem Boden aus und warte. Liege ganz still da. Die Lemminge beruhigen sich und fangen dann an, herumzuwuseln. Sie finden mein Haar. Es weckt ihren Wühlinstinkt. Sie gelangen bis zu meiner Kopfhaut, wo sie Unterschlupf suchen. Winzige Pfötchen, die blitzschnell meinen Kopf massieren. Nie verlassen sie den Schutz meiner Haare. Sie machen etwa zehn Minuten lang so weiter, bis sie genug vom vermeintlichen Graben haben. Für mich sind es die schönsten zehn Minuten des Tages. Es ist die beste Massage, die ich je im Leben bekommen habe. Wenn die Lemminge müde geworden sind, stecke ich sie zurück in die Taschen und bringe sie dorthin zurück, wo ich sie gefunden habe. Ich muss sie wegbringen, bevor meine Eltern nach Hause kommen. Die Lemminge sind satt von den Karotten und glücklich. Morgen komme ich wieder. Einmal hat meine Mutter ein Bröckchen Lemmingkacke in meinen Haaren gefunden. Sie musste unglaublich lachen und fragte, wie es dorthin geraten sei. Ich erzählte ihr, ich hätte mich in der Tundra auf die Erde gelegt. Mein kleines Ritual habe ich immer für mich behalten, bis jetzt.

»Ich mache sie nur ein bisschen nass«, sagt er

Was meint er damit?

Da unten ist es nicht nass

Ich hatte ja noch nicht einmal Haare, da unten

Ich liege stocksteif

Sage Nein

Er versucht es immer wieder

Sein hartes Ding reinzuschieben

In ein Loch, wo kein Loch ist

Es ist trocken

Die ächzende Verzweiflung in seinem Atem

Die saure Angst in meinem

Endlich kommt jemand an die Tür

Und er springt von mir herunter

Als sei nie etwas geschehen

NINE MILE LAKE

DU WARST ERST SIEBEN JAHRE ALT, meine kleine Cousine. Ich war elf, die Große. Wir stibitzten ein bisschen Geld von unseren Eltern und gingen in den Laden. Der Resolute Bay Co-op verströmte einen ganz besonderen Geruch. Es roch trocken, ein bisschen schimmlig und sehr staubig. Wir waren noch klein, deswegen erschienen uns die Gänge unheimlich lang. Wir führten hitzige Diskussionen, was wir kaufen sollten, und kamen am Ende mit zwei Riesentüten Junkfood wieder heraus. Cola, M&Ms, Kartoffelchips mit Essiggeschmack, das komische rosa Popcorn mit dem Elefanten auf der Verpackung, Popeye-Zigaretten und sogar ein paar echte Zigaretten.

Die zündeten wir hinter dem alten Nurdachhaus beim Spielplatz an und hofften, unsere Mütter würden uns da nicht sehen. Im selben Sommer waren wir schon beim Rauchen unterm Windfang erwischt worden, dazu hatten wir eine Packung Flintstones-Vitamintabletten aufgefuttert. An dem Tag war keiner stolz auf uns. Mir war klar, dass ich als schlechter Einfluss angesehen wurde, aber ich konnte dich nicht davon abhalten, mir ständig hinterherzulaufen. Manchmal habe ich dich hereingelegt und bin weggerannt, aber dann hatte ich ein schlechtes Gewissen und kam zurück, weil ich mir herzlos vorkam, wenn ich an dein kleines, tränenüberströmtes Gesicht dachte. Wenn ich mit den großen Jungs unterwegs war, durftest du allerdings nicht mitkommen, weil wir immer irgendwelche schlimmen Sachen ausheckten. Für das ganze Chaos warst du noch zu klein. Ich versuchte ja, dich zu beschützen. Das versuche ich immer noch.

Es war schon spät, aber das spielte keine Rolle. Die Mitternachtssonne leuchtete taghell, und der kalte Wind hielt uns wach. Drei Monate ununterbrochener Helligkeit bedeuteten, dass wir nicht mehr zu bestimmten Uhrzeiten zu Hause sein mussten. Wir waren auf der Suche nach Abenteuern, und die waren am besten außerhalb zu finden. In der riesigen Tundra gab es ein paar interessante Orte, zu denen wir einen Ausflug machen konnten. Der Fluss war relativ nah, dort legten wir an den Stromschnellen ein Brett über die spitzen Felsen und beteten, dass unsere selbst gebaute Brücke hielt, wenn wir darüberbalancierten. Wir konnten auch an den Strand gehen. Dort gab es jede Menge Seetang und darunter verborgene Schätze. Weißt du noch, wie wir die Seeschlange gefunden haben, deren aufgedunsener Leichnam uns so kalt und einsam vorkam? Auf dem Spielplatz war es eigentlich auch nicht schlecht, bloß tauchte da unweigerlich ein besonders beknackter Benzinschnüffler auf und nervte uns. Dann lieber raus aus dem Kaff.

Wir marschierten allein los und kamen uns wie große Mädchen vor, wie Jugendliche. Du bist auf deinen kurzen Beinen hinterhergezockelt. Wir waren auf dem Weg zum Signal Hill. Es bis zum Funkturm zu schaffen war gut, aber ich wollte unbedingt zu den Klippen. Der Aufstieg war steil, und wir atmeten schwer, als wir den Gipfel erreichten. Oben angekommen aßen wir die Hälfte unseres Proviants und ließen die Füße über dem Abgrund baumeln, während wir Ausschau nach Eisbären hielten. Den Steilhang ist mein Onkel im Winter oft heruntergerodelt. Ich weiß noch genau, dass ich ihn immer unglaublich cool fand und hoffte, ich würde als Erwachsene genauso mutig sein wie er.

Wir beschlossen, bis zum Nine Mile Lake weiterzulaufen. Von oben sah es aus, als wären es nur ein paar Kilometer. An diesem Tag lernte ich, dass in der Tundra alles viel näher scheint, als es in Wirklichkeit ist. Die baumlose Weite sorgt für diese optische Täuschung. Aber wir würden es schaffen. Am schwierigsten war es, unbeschadet an den Möwennestern vorbeizukommen. Außen herumgehen war unmöglich; wir mussten durch die Zone mit den Nestern hindurch. Einen solchen Mut brachte man nicht leicht auf, und wir rannten so schnell wir konnten, deine kleine Hand in meiner.

Die Möwen kreischten und stürzten sich auf jeden, der ihren Nestern zu nahe kam. Ich reckte die Faust in den Himmel und schwenkte sie beim Rennen, damit die Möwen auf den höchsten Punkt einhackten. Durch die dünnen Handschuhe hindurch spürte ich die spitzen Schnäbel. Wir rannten so schnell wir konnten, so schnell, dass wir sogar ein paar kostbare Chipstüten aus unserem Proviant verloren. Als wir die Nester hinter uns hatten, lachten wir mit roten, erhitzten Gesichtern. Dein niedliches, kleines Gesicht an jenem Tag werde ich nie vergessen, voller Stolz und Aufregung über das, was wir geschafft hatten. Ich trug dein Herz in meinem. Das tue ich immer noch.

Die Tundra ist nur spärlich bewachsen, voller Felsen, ohne Bäume und fast ohne Erde. Die Flechten brauchen Jahrhunderte zum Wachsen. Sie wachsen, sterben irgendwann ab und bilden schließlich den wenigen Humus. Überall gibt es trockenes, bröseliges Schiefergestein. Das hohle, knirschende Rieseln unter jedem Schritt ist immer noch eins meiner liebsten Geräusche.

 

Wir hoben eine Spanplatte hoch und fanden das Nest einer Schneeammer. Drei nackte Vogelküken piepsten uns entgegen. Sie waren gerade erst geschlüpft und noch ganz klein. Die Adern unter ihren noch nicht geöffneten Augen pochten violett, die Hälse waren kaum stark genug, um die Köpfe hochzuhalten. Schrille Schreie erfüllten die Luft, Panik entstand. Wir wollten ihnen was Gutes tun! Hatten sie Hunger? Wir rissen die Tüte mit Elefanten-Popcorn auf und steckten etwas davon in die aufgerissenen Schnäbel. Entsetzt sahen wir zu, wie sich ein Vogeljunges nach dem anderen am Popcorn verschluckte und starb. Wir sahen den Puffmais in den durchsichtigen, dünnen Kehlen. Aber wir konnten nichts tun. Die Mutter kehrte von der Insektenjagd zurück, und wir weinten noch bitterlicher. Niedergeschlagen zogen wir ab, kamen uns vor wie Dämonen und hofften, dass keiner von uns darüber reden würde. Mit dir zusammen beging ich die größten Fehler. Das tue ich immer noch.

Als wir endlich am Nine Mile Lake ankamen, waren wir dankbar und erleichtert, dass der Wind sich ein wenig gelegt hatte, weil man dann nicht so leicht von den Eisbären gerochen wird. Die Wasserfläche war riesig und sauber. Frisches, arktisches Süßwasser löscht schnell den Durst. Um den See herum gab es kleinere Tümpel, in denen junge Forellen herumschwammen. Ich fing eine und steckte sie in den Mund. Ich ließ sie meine Speiseröhre hinabschwimmen; ihre Schwanzflosse kitzelte mich bis ganz hinunter in den Bauch. Es war köstlich. Das Fleisch war so frisch. Etwas erwachte in mir, eine alte, eine uralte Erinnerung: das Essen von etwas Lebendigem. Das ist die wahre Vereinigung von Fleisch mit Fleisch. Meine Wirbelsäule richtete sich auf. Wird Fleisch lebendig verzehrt, verleibt man sich zusammen mit der Energie auch den Geist ein. Deswegen sind wilde Raubtiere so stark. Je länger der Augenblick des Todes zurückliegt, desto weniger Energie enthalten Fisch oder Fleisch. Wir machten es wie die Möwen, kauten die kleinen Fische gar nicht, sondern ließen sie einfach unsere Kehle hinunterschwimmen. Wir fraßen uns voll. Die Energie des Fischlebens wurde mühelos von meinem Körper aufgenommen, und das Todeszappeln der Forellen war wie ein schimmernder, schwimmender Wegweiser in den Himmel. Wenn wir es den Möwen gleichtaten, konnten wir vielleicht auch segelnde, kreischende Vögel werden. Wir würden nach Hause fliegen.

DIE TOPOGRAFIE DES MITLEIDS

Betrachte die Menschen voller Mitleid

Warum sind sie so geknechtet?

Was mag mit ihnen passiert sein?

Was mag mit dir passiert sein?

Vielleicht sind wir am Konsum erkrankt

Vielleicht sind wir am Stolz erkrankt

Vielleicht sind wir an Apathie erkrankt

Dein Besitz wird dich nicht retten

Dein Geld wird dich nicht retten

Selbst wenn du deine Ersparnisse rettest

Das Geld wird nie reichen und du wirst nie reichen

Wir betrachten die vernarbte Erde voller Mitleid

Was haben wir ihr angetan?

Hat sie uns nicht mit Mineralien versorgt

Und mit Elektrizität

Hat sie uns nicht ausgespuckt

Und das Leben geschenkt?

Nur um uns wieder zu verschlucken

Und mit den Jahreszeiten zu atmen?

Damit wir zu ihrer Humusschicht werden?

Vielleicht betrachtet sie uns nicht mit der Liebe einer Mutter

Sondern mit derselben Gleichgültigkeit

Die wir für unsere Lunge empfinden

Mit derselben Gleichgültigkeit

Die wir für den Menschen ohne Obdach empfinden

ALS ES DAS ERSTE MAL GESCHAH

IN DIESEM HAUS herrschen die Kinder. In einer kalten Sommernacht rotten wir uns zusammen. Aluminiumfolie gegen die Sonne vor den Fenstern, eine Socke im Loch, in dem einmal ein Türknauf war, damit die Kleinen nicht spionieren können. Es ist unser Schutzhaus, in dem niemand trinkt. Keine Erwachsenen, keine Vorschriften.

Wir sind sechs oder sieben Kinder, lungern herum, unsere Fantasien und Träume im Kopf. Alles ist ganz einfach. Wir leben von einem Moment zum nächsten. Ich bin elf. Ein paar spielen Fangen, rennen herum und juchzen vor Freude. Drei von uns sitzen mit dem Rücken zur Wand, mit dem Rücken zur Welt auf den blanken Matratzen. Eine Blondie-Kassette läuft auf Endlosschleife. Die Älteren kommandieren die Jüngeren herum, frotzeln, sie sollen die Ältesten respektieren. Wir spielen Flaschendrehen und Verstecken. Wir messen uns darin, wer am besten einen auf Blondie machen kann, und plündern die Küchenregale. Wir schmieren uns Erdnussbutter ins Haar und brüllen grundlos vor Lachen. Wir sind schon so lange wach, dass ein süßes Delirium eingesetzt hat. Einer furzt, und wir lachen uns eine Viertelstunde lang tot. Einem anderen schießt bei einem Lachanfall Kool-Aid aus der Nase, ein riesiger Popel kommt mit heraus, und wir lachen so lang und heftig, bis es wehtut.

Ich spüre, wie etwas in den Raum eindringt, von der oberen rechten Ecke her. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß trotzdem ganz genau, dass es da ist. Mein echtes Ich erkennt das Gefühl, es kennt den Ort, wo dieses Wesen herkommt, wo es lebt. Es gibt noch andere Wirklichkeiten, die neben unserer existieren; das nicht zu glauben wäre reine Dummheit. Das Universum hat ein Bewusstsein. Dieses Etwas entstammt den Energiesphären jenseits unserer körperlichen Wahrnehmung. Es kommt von dort, wo wir hingehen, wenn wir sterben, von dort, wo wir waren, bevor wir gezeugt wurden. Jahrtausendelang halten wir uns an diesen Orten auf – Jahrtausende der Universumzeit. Hier auf der Erde und in unserem Körper haben wir nur einen kurzen Augenblick. Bevor wir geboren werden, muss Energie zu Geist gewoben und dann in einen Körper geflößt werden. Wenn wir gestorben sind, muss der Geist nach den traumatischen Erlebnissen im Körper getröstet und dann wieder in Energie aufgetrennt werden. Sich an diesen jenseitigen Ort zu erinnern hat sein Gutes, aber das Etwas, das sich hier eingeschlichen hat, ist alles andere als gut.

Dieses Wesen so deutlich zu spüren entsetzt mich. Wenn es ein Ton wäre, dann wäre es ein leiser Ton, der lauter und lauter wird, bis man an nichts anderes mehr denken kann. Die Bedrohung kriecht mir unter die Haut. Das Etwas wird größer und lässt seine Absichten erkennen. Es ist noch nicht fertig mit dem Fleisch: Es will in mich eindringen! Ein Gefühl, als ob sich ein Riese in meinen Körper winden will, er bohrt von außen an meiner Haut und will sie aufbrechen. Er sucht nach Rissen, Löchern, Poren, jeder Weg ins Fleisch ist ihm recht. Ich bin neugierig und frage mich, was wohl geschehen würde, wenn ich ihn einließe. Ich frage mich, wie dieses Hereinlassen, Einlassen aussehen würde. Angst empfinde ich nicht, nur Neugier. Ich sehe mich nicht als Beute. Ich bin auch ein Räuber.

Die Zeit steht still; zwischen jedem Ticken der Uhr vergehen Minuten. Mir wird bewusst, dass nicht alle das Wesen wahrnehmen, niemand sonst ist unruhig geworden. Der Blick meiner Cousine trifft meinen in dieser Pause im Fluss der Zeit. Sie spürt es auch! Sie sitzt im Schneidersitz auf der Matratze, mir zugewandt. Beide wissen wir instinktiv, was zu tun ist. Woher kommt dieses Wissen? Niemand hat uns beigebracht, was wir zu tun haben, aber das Ritual steckt uns als lebendiges Erbe in den Knochen. Wie beim Gebären verhalten wir uns unwillkürlich richtig, damit etwas, das wir nicht verstehen, möglich werden kann. Meine Cousine beugt sich vor und legt ihren Kopf in meinen Schoß. Ich spüre einen Ruck, als würden zwei Puzzleteile an einem nicht-materiellen Ort ineinandergefügt. Meine Cousine überträgt mir ihre Energie, und wir werden ein Wesen: WIR. Sie ist die Absicht, die die Hand bewegt. Ich bin die Tür. Sie ist der Akkupack und liefert den Antrieb; ich bin das Leuchtfeuer, das die Energie ruft, das Licht entzündet und den Weg ebnet, um aus unserer Wirklichkeit auszubrechen. Ein lautes Knacken ertönt, als würde ein Rückgrat gebrochen.

Es ist seltsam, an diesem Neuen Ort zu sein. Ich kann alles hören, aber gedämpft, wie durch einen schmalen, wattierten Schlauch. Um mich herum ist kein Licht, ich bin schwerelos. Die Freiheit von den Sorgen des Bewusstseins ist eine große Erleichterung. Ich bin nicht in meinem Körper. Die Zeit ist auf einmal ein leichtes, freundliches Ding geworden, weil sie nicht mehr durch meine körperliche Gestalt jagt. Es ist die Zeit, die uns aufzehrt und zurück in die Erde treibt. Ohne einen Körper haben Zeit und Schwerkraft keine Macht über uns.

Nach einer halben Ewigkeit, in der ich mich an diesem Neuen Ort einfinde und ausbreite, bemerke ich rechts von mir eine leise Bewegung. Eine leichte Regung, ungefähr einen Meter entfernt. Zwei helle, mandelförmige Löcher schweben auf der Höhe meiner Augen. Sie entsenden ein Licht wie von einem Fernseher in einem dunklen Zimmer. Durch die mandelförmigen Löcher kann ich die anderen Kinder in dem Raum herumrennen sehen, in dem mein Körper sitzt; ich kann die fadenscheinigen Decken auf der Matratze sehen. Ich kann meinen Körper als das sehen, was er wirklich ist. Es sind die Augen meines eigenen Körpers, durch die ich schaue.

Die Erkenntnis überrascht mich nicht, weil die Leichtigkeit des Seins außerhalb des Körpers unser wahrer Daseinszustand ist. Die Ruhe wird zu einem leisen Grauen, als ich die Nähe des Wesens spüre, das in den Raum eingedrungen war. Jetzt, da ich meinen Körper verlassen habe, kann ich sehen, was es ist.

Es ist missgestalt, männlich, hündisch, voll scharfer Kanten, halb verwest, mit langen Reißzähnen. Es war einmal ein Mensch. Er ist riesig und gekrümmt, ein Wust aus Muskeln und Knorpeln. An den meisten Stellen hat er keine Haut, und er ist blind vor grauem Star und Hass. Ich kann spüren, dass dieser Mann auf entsetzliche Art und Weise gestorben ist, vielleicht sogar mehr als einmal. Schwer trägt er am Nachhall der Rache, die er stetig wetzt. Die Mordlust brennt in ihm. Ich fühle ihn, und er ist randvoll mit Bitterkeit. Er will wieder körperliche Gestalt annehmen, weil etwas Entsetzliches geahndet werden muss. Ich weiß, dass er auf barbarische Art und Weise gestorben ist. Er geifert und will blitzschnell zuschlagen. Eines der Kinder im Raum ist mit jemandem verwandt, an dem er sich rächen will. Er will das Kind töten, und jeden, an den er sonst noch herankommt. Das Töten wird seinem Hass ein Ventil verschaffen und ihm Haut, Augenlicht und Ehre zurückgeben. Es wird die DNA seiner Familie heilen; es wird seinen lebenden Brüdern und Schwestern Glück bringen. Es wird das Gleichgewicht wiederherstellen. Mord kann heilen, wenn er sparsam eingesetzt wird. Mord kann uns nähren. Das Leben mordet uns jeden Tag.

Das Wesen ist jetzt in der oberen linken Ecke des Raums, dann stürzt es sich plötzlich auf mich, hin zum Licht. Es ist schnell, so schnell, dass ich es kaum sehen kann. Er stürzt auf die Augenlöcher zu. Er muss sich mit seinem Bewusstsein in meine Augenlöcher drücken, um meinen Körper zu übernehmen. Sobald er sein Gesicht an die Augen meines Körpers presst, werden sie seine. Wenn es ihm gelingt, meine Augen für sich zu beanspruchen, wird mein ganzer Körper seiner, das weiß ich. Er befindet sich direkt neben meinem Geistkörper, stürzt auf mein Fleisch zu, hat seine neue Verkörperung fast schon erreicht. Seine Macht, seine glasklare Schönheit und sein Hass sind unfassbar. Noch nie habe ich etwas so Scharfes gespürt.

In allerletzter Sekunde erwache ich aus der Trance und wende meine ganze Willenskraft auf, um ihn von mir zu stoßen und selbst in meine Augen zurückzukehren. Es ist einfacher, einen nassen, brodelnden Berg zu verschieben, als ihn von mir fernzuhalten. Jede Berührung brennt. Ihn wegzustoßen kostet mich meine gesamte geistige und spirituelle Kraft. Um wieder eins mit mir selbst zu werden, bette ich meine Augen in die Augenlöcher. Es ist, als würde blaues Licht auf mein Gesicht gegossen, und mein Körper fühlt sich an wie eine Tonne dunkle Materie. Die Zeit ist zurück, und sie fühlt sich an wie der Tod. Es ist unerträglich. Als sich der Geist wieder vollständig im Fleisch einnistet, ertönt erneut ein lautes Knacken, und ein Stromstoß durchfährt mich.

Äußerlich ist davon nur ein leichtes Zucken in meinen Armen zu sehen. Die Kinder im Raum schreien entsetzt auf, als ich mich bewege. Es muss eine unnatürliche Bewegung gewesen sein, der Junge neben mir versteckt sich hinter einem Kissen und beginnt zu weinen. Ein paar Kinder rennen nach draußen. Auch wenn es nicht danach ausgesehen hat, als stimme etwas nicht, wissen sie instinktiv, dass es besser ist, vor mir zu fliehen. Ich bin völlig benommen. Meine Cousine schaut wie aus einem Traum zu mir herauf, und wir grinsen uns verschwörerisch an. Sie war die ganze Zeit über bei mir. Sie hat alles gesehen. Es war ein gutes Gefühl, die Angst zur Waffe zu machen.

 

Etwas lauert

Etwas Krummes

Etwas Hohles

Etwas Teigigseichtes

Etwas Zappelndes

Etwas Träges

Es frisst Schlamm und

Ist voller Gram

Etwas regt sich

Etwas Volles

Etwas Dickes Kaltes

Etwas Unhörbares

Etwas Unsichtbares

Etwas Kriegsgesteuertes

Etwas Obszönes

Es weckt in mir den Wunsch mich unter Decken zu verkriechen und falsche Entscheidungen zu treffen

Es weckt in mir den Wunsch das zu zerstören was direkt vor mir ist

Es kann nur durch Tränen befreit werden

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