Goldmond

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EINEN MONAT SPÄTER

LEANDER

Ich saß gerade am Frühstückstisch, mein Lesestein lag, gemeinsam mit meiner leider noch nötigen Stirnelektrodenspange, neben meinem Teller. Ein Omelett, ein Toast und eine Tasse Schwarztee mit Milch standen vor mir.

Ich legte meine Hand auf den Lesestein, um ein Buch auszuwählen, und fing an zu lesen. Ich liebte es, wie die Welt vor meinen Augen verschwand und durch Buchseiten ersetzt wurde. Ich streckte meine Finger aus und plötzlich wurde meine Teetasse mitten in der Seite sichtbar, kaum, dass ich daran gedacht hatte, etwas zu trinken. Ich nahm einen Schluck und stellte die Tasse wieder ab. Als meine Finger den Henkel losgelassen hatten, überdeckten die Buchseiten wieder die Tasse. Mein Vater saß mir gegenüber und räusperte sich. Sein Gesicht ersetzte die Buchseiten und ich setzte widerwillig die Elektrodenspange ab. Er hatte soeben sein Besteck ordentlich auf den Teller gelegt. Nun musterte er mich mit seinen grauen Augen.

»Leander, ich würde gerne nach dem Frühstück mit dir sprechen, wenn es nicht gerade sehr ungelegen kommt.«

Ich sah sehnsüchtig auf meinen Lesestein. Ich las gerade alte Klassiker – aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Na ja, mein Vater nannte sie Klassiker, aber eigentlich waren es Fantasy-Bücher. Und ich war gerade mitten im dritten Harry-Potter-Band.

»Klar, Dad. Das sollte kein Problem sein«, sagte ich und lächelte. Er nickte zufrieden, dann lehnte er sich zurück und wartete darauf, dass Henry seinen Teller abdeckte.

Ich aß unter den strengen Augen meines Vaters auf und schickte Merlin, um die Küche aufzuräumen. Dann schnappte ich mir meinen Lesestein und folgte meinem Vater in sein Arbeitszimmer.

Sein Büro war ganz anders eingerichtet als das meiner Mutter. Sie hatte es hauptsächlich in Gelb gehalten, damit es heller wirkte. Ihr Sofa war orange und ihr Schreibtisch rotbraun. Es sah sehr sonnig, warm und freundlich aus. Es spiegelte ihren Charakter wider. Das war auch bei dem Büro meines Vaters so, doch es war weiß und wirkte stets klinisch sauber. Der große Lehnstuhl war mit grauem Kunstfaserstoff bezogen und sein geräumiger Schreibtisch war ebenfalls weiß und makellos. Meine Mutter hatte eine kleine Taschentuchbox für mich, ein paar Stifte, die sorgfältig in einem Becher steckten, und eine rote Lampe. Bei meinem Vater war alles farblos und fast schon pedantisch geordnet.

»Setz dich«, sagte mein Vater und ging hinüber zu seinem grauen Schreibtischstuhl. Ich setzte mich in seinen Lehnstuhl und wartete. Er würde schon mit dem herausrücken, was er von mir wollte. Was immer es war.

»Leander, ich wollte noch mit dir über die Planung der nächsten paar Wochen reden. Nächste Woche ist der große Tag, wie du weißt, aber ich wollte dich fragen, wann du den Zug ins Felix Austria nimmst. Es fährt einer drei Tage danach, eine Woche danach oder zehn Tage danach.« Er pausierte kurz und legte dann die Spitzen seiner blassen, eleganten Hände aneinander, wie es die Detektive in den alten Romanen immer taten. »Selbstverständlich kannst du auch erst später fahren, wenn du möchtest. Es eilt schließlich nicht.«

»Ich denke, dass Norman den zweiten Zug nimmt, also werde ich den auch nehmen, er geht schließlich auch ins Felix Austria.«

»Natürlich. Dann ist das also geklärt, aber ich wollte dich noch fragen, ob du schon fertig gepackt hast …« Er wurde immer leiser und sah zur Tür. Ich drehte meinen Kopf und sah, dass meine Mutter ihren Kopf hereingesteckt hatte. Auf ihrer Stirn waren tiefe Sorgenfalten zu sehen.

»Was ist, Mary?«, fragte mein Vater und stand in einer flüssigen Bewegung auf, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen.

»Es geht um Merlin. Er ist abgestürzt. Ich habe Sally schon gebeten, ihn zu reparieren, aber er schaltet sich immer wieder ab.« Sie seufzte. Die Falten auf ihrer Stirn wurden ausgeprägter.

»Ich werde es mir ansehen. Leander, hast du nun schon gepackt, oder noch nicht?«

»Merlin hat bereits alles, was ich nicht mehr benötige, eingepackt. Den Rest werde ich wohl ohne Merlin einpacken müssen … Aber ich denke, dass ich das schaffen werde.«

Mein Vater nickte und ging ins Wohnzimmer, um sich Merlin anzusehen. Ich folgte ihm, doch meine Mutter packte mich nach ein paar Schritten am Arm. »Sag ihm, dass er Henry um Hilfe bitten soll. Er kennt sich da gut aus.«

Ich nickte und eilte dann hinaus. Henry war der begabteste Roboter in unserer Familie, was Reparaturen anbelangte. Obwohl er ziemlich alt war, da mein Vater alte Sachen liebte, war er von guter Qualität. Mein Vater hatte sich geweigert, unser Haus komplett gedankensteuerbar zu machen und fand, dass ein Roboter ein Freund fürs Leben und nicht ein gedankengesteuerter Körper sein sollte. Freund fürs Leben. Ich seufzte.

Ich fand meinen Vater im Wohnzimmer. Er und Henry standen über Merlins starren Körper gebeugt und wirkten hochkonzentriert. Also hatte mein Vater die gleiche Idee gehabt wie meine Mutter. Seelenverwandte, dachte ich. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und ging dann in mein Zimmer, um meine restlichen Sachen einzupacken.

Ich machte mir zwar ein bisschen Sorgen, dass Merlin bis zur Abreise nicht repariert sein würde, aber ich konnte ihn immer noch bitten, nachzukommen, oder im schlimmsten Fall selbst später fahren. Es würde niemanden stören. Ob in den Kursen 20 oder 21 Leute saßen, machte kaum einen Unterschied. Zum Glück gab es keinen einheitlichen Zeitpunkt, zu dem das Schuljahr anfing oder aufhörte. So konnte jeder – und jetzt auch ich – kommen, wann er wollte.

Ich seufzte und begann, meine Kleider in einen Koffer zu packen. Hoffentlich konnte Andy, Normans Roboter, mir helfen, den Koffer in den Zug zu heben. Er war ganz schön schwer.

***

Einige Zeit später kam Henry herein und bat mich, mit nach draußen zu kommen. Er und mein Vater hatten einen Virus entdeckt. Ich folgte Henry bis zu dem Wrack, zu dem Merlin geworden war und das hoffentlich bald wieder mein bester Freund sein würde.

»Du kennst ihn am besten, Leander. Ich wollte, dass du mir hilfst, ihn neu zu starten«, sagte mein Vater, ohne sich umzudrehen. Ich fragte mich, woher er wusste, dass ich schon da war. Supergehör vermutlich. »Wenn wir Glück haben, dann startet er einfach neu, ohne uns Fragen zu stellen, aber ich weiß nicht, wie viel der Virus beschädigt hat. Ich habe ihn deinstalliert, aber Merlin hat sich zum Schutz abgeschaltet …« Mein Vater redete weiter, doch ich war mir nicht mehr sicher, ob er nicht mit sich selbst redete.

Schließlich drückte mein Vater den Einschaltknopf am Rücken des Roboters und Merlin erwachte zum Leben. Seine blauen Augen öffneten sich und er blickte uns einem nach dem anderen ins Gesicht. »Systemneustart. Bitte geben Sie Ihr Passwort ein.« Mein Vater seufzte. »Leander?«

Ich kniete mich hin und gab auf der holografischen Tastatur mein Passwort ein. »Sie sind eingeloggt als Leander Soleil Merrywith. Ihre Daten werden geladen.« Merlin machte eine kurze Pause und mein Vater bemerkte: »Wirkt ganz gut. Immerhin ist das Personalgedächtnis noch intakt. Gut, dass er sich von selbst abgeschaltet hat, sonst hätten wir jetzt ein ernsthaftes Problem. Bleib aber bitte trotzdem noch da, Leander. Er wird dich identifizieren wollen. Du weißt schon, Iris-Scan und so weiter.« Ich nickte.

Die nächsten paar Stunden brachte ich damit zu, Merlin mein Gesicht scannen zu lassen, Merlins Fragen zu beantworten und Virenscans durchzuführen. Merlin schien einwandfrei zu funktionieren. Ich konnte nur hoffen, dass das auch so bleiben würde.

ELENA

Grace kommt in zwei Wochen!«, jubelte meine Mutter und wedelte mit dem Brief vor meiner Nase herum. Mein Vater hinter mir fing an zu lachen und schloss meine Mutter in die Arme. Ich lächelte und griff nach dem Brief.

Liebe Mama, lieber Papa, liebe Elena!

Luke und ich haben beschlossen, in zwei Wochen zu kommen. Luke geht es schon besser und voraussichtlich wird sich das gut ausgehen. Allerdings solltet ihr nicht vor Freitag mit uns rechnen, denn wir müssen noch eine Woche hierbleiben, bevor wir uns auf den Weg machen dürfen, sagt der Arzt, am besten eineinhalb.

Wir hoffen, dass es euch gut geht, und wünschen euch schöne eineinhalb Wochen!

Liebe Grüße,

Grace und Luke

Ich las den Brief zweimal, um ganz sicher zu gehen, dass ich mich nicht verlesen hatte, dann gab ich ihn meiner Mutter zurück und machte mich lachend auf den Weg, um Wasser zu holen.

Als ich durch die Straßen ging, dachte ich über meine Schwester nach. Ich hatte sie immer als Vorbild betrachtet. Sie war ausgeglichen, fröhlich, meistens höflich und erledigte ihre Arbeiten, ohne zu klagen. Wie machte sie das nur?

Ich lächelte. Vermutlich war sie einfach ein besserer Mensch als ich. Egal, was es war, ich musste sie einfach liebhaben. Sie brachte immer etwas Sonne ins Haus. Und das hatten wir alle dringend nötig.

Ich fing an zu hopsen, als der Brunnen in Sicht kam. Ich hängte meinen Kübel auf und wartete, bis die Maschine ihn vollgefüllt und wieder hinaufgezogen hatte. Dann machte ich mich auf den Rückweg durch die Straßen.

In Gedanken immer noch bei meiner Schwester, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir grölen. »Denen werden wir es zeigen, verdammte Tyrannen. Wir sind auch Menschen. Rotes Blut zählt!«

Ich fror mitten in der Bewegung ein und blieb stehen. Ich hörte Gelächter und zustimmendes Gemurmel und mir fiel auf, dass es eine größere Gruppe sein musste. Bevor ich meine Beine wieder bewegen konnte, rempelte mich einer der Männer von hinten an. Das Wasser im Kübel schlackerte und spritzte auf meine löchrigen Sandalen. Die Männer lachten einstimmig und gingen rechts und links an mir vorbei.

 

»Ich will blaues Blut sehen«, zischte der eine und ich sah, wie ihm einer der anderen auf die Schulter klopfte.

»Wohin sollen wir nochmal?«, fragte ein anderer.

»Der Fuchs hat gesagt, dort lang.« Ein schwarzhaariger Mann zeigte in die Ferne. Ich sah dort nur Hütten, aber alle nickten, so als wäre das jetzt geklärt.

Erst als die Gruppe um eine Ecke verschwunden war, setzte ich meine zitternden Beine in Bewegung. Ich hatte das Gefühl, meine Gedanken und mein Magen drehten sich um die Wette. Ich konnte nicht sagen, was es war, das mich so krank machte. Vielleicht die raue, unverschleierte Brutalität, die fühlbare Mordlust in ihren Augen. Oder vielleicht die Tatsache, dass sie diese Augen auf mich gerichtet hatten. Ich fragte mich benommen, ob sie mich wohl als mögliches Mitglied ihrer Gruppe sahen. Schließlich waren wir alle Redbloods. Trotzdem fühlte ich mich ihnen nicht näher als den Adeligen.

Mir wurde klar, dass die Revolution, die sie laut meinem Vater anzetteln wollten, sie wohl alle das Leben kosten würde. Und nicht nur sie. Es würden auch Unschuldige für ihr Verhalten bezahlen müssen.

Als ich vor unserer Hütte angekommen war, fühlte sich mein Kopf an, als wäre ich vier und würde das Drehspiel mit meinem Vater spielen. Das, wo er mich an den Händen nahm und sich dann so schnell drehte, dass ich mich fühlte, als könnte ich fliegen.

Meine Mutter stand am Ofen und drehte sich nicht einmal um, als ich hereinkam.

»Stell das Wasser hierhin, ich brauch’s. Und wenn du schon dabei bist, geh doch Holzhacken in den Garten.« Ich zögerte, und als ich nicht antwortete, wurde meine Mutter ungeduldig. Sie schmiss ihren Fetzen auf den Tisch.

»Wie. Oft. Muss. Ich. Dir. Noch. Sagen. Dass. Ich. Das. Nicht. Zum. Spaß. Mache. Ich. Muss. Diese. Familie. Ernähren.« Sie drehte sich zu mir um, um mit ihrer Strafpredigt fortzufahren. »Und. Ich. Erwarte. Von. Dir …« Sie stockte, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »Was ist los?«

»Hat Dad dir von dieser Gruppe erzählt, die die Adeligen stürzen will?«, fragte ich tonlos und stellte den halbvollen Kübel ab.

»Ich habe euch gehört, letztens.« Meine Mutter starrte mich mit blitzenden Augen an. Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Ich habe gerade welche von denen getroffen«, fuhr ich rasch fort, in der Hoffnung, sie abzulenken. »Und …« Mir blieben die Worte im Hals stecken. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, so als könnten sie fliegen …

Meine Mutter schlug die Hände zusammen. Zuerst dachte ich schon, sie würde mich schlagen. »Das ist doch gut. Wird Zeit, dass sich mal jemand für uns einsetzt. Die haben nämlich ganz recht, rotes Blut zählt.«

Ich hörte, wie sie weitersprach, doch die Worte erreichten mich nicht mehr. »Wie … Wie kannst du sie verteidigen?«, fragte ich schließlich entsetzt. »Sie wollen sie alle ermorden! Sie … Sie werden mit den Adeligen einen Krieg anzetteln! Einen Krieg, den wir verlieren werden! Überleg doch mal!«, schrie ich mit schriller Stimme. »Denen ist es egal, was mit uns passiert! Die würden sich über jede Ausrede freuen, um uns abzuschlachten!«

Meine Mutter zuckte mit den Schultern. »Was wir hier haben, ist kein Leben, Elena. Wir werden kämpfen, und wenn wir verlieren, dann verlieren wir eben. Mach dir nichts vor, die Adeligen sind keine Götter, die Blitze auf die Sterblichen schleudern.« Sie schnaubte verächtlich.

»Und jetzt geh raus. Die Frau Schwarzmann von gegenüber hat uns wieder ihre Ration Holz geschenkt. Ich habe ihr schon einen Teller Reis rübergebracht.« Und damit schnappte sie sich meinen Wasserkübel und sagte in einem harten Ton: »Und wenn ich höre, dass du noch einmal private Gespräche zwischen deinem Vater und mir belauschst, dann knallt’s. Aber richtig.« Und damit stellte sie sich wieder an den Ofen.

Ich ging stumm hinaus. Ich wollte weit weg sein, wenn sie sah, dass ich die Hälfte des Wassers verschüttet hatte. Ich würde später nochmal gehen müssen.

Ich holte mir das Holz der gebrechlichen alten Nachbarin, das vor ihrer Tür lag. Sie war zu schwach, um mit ihrem noch etwas anzufangen und heizte nur mit dem elektrischen Ofen. Ich trug die ihr zugeteilten Scheite hinter unser Haus. Frau Schwarzmann tauschte ihr Holz schon seit Jahren gegen Reis oder Brot oder etwas anderes zu essen.

Ich genoss das Holzhacken. Es tat gut, meinen Ärger an den dicken Scheiten auszulassen. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass meine Mutter die Revolution verteidigt hatte. Ich konnte mich noch erinnern, dass mein Vater einmal gesagt hatte, kein Zweck würde die Mittel heiligen.

Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, das Ganze mit meinem Vater zu besprechen. Oder mit Grace oder mit irgendjemand anderem. Mehr als je zuvor sehnte ich mich nach einem Gesprächspartner. Ich wollte in den Arm genommen und gestreichelt werden. Ich wollte, dass man mir sagte, dass alles gut werden würde. Ich wollte ein echtes Kind sein, nicht eine Redblood.

Doch so eine Kindheit hatte ich nie gehabt. Keiner hier hatte je Zeit gehabt, um mich in die Arme zu nehmen. »Wir sind doch hier nicht bei den Adeligen«, würde man sagen und mir ungestüm die Tränen von den Wangen wischen. Und am besten noch fest in den Rücken stoßen: »Geh spielen.« Nicht wie bei den Adeligen, dachte ich bitter und spaltete noch ein Stück Holz.

LEANDER

Merlin, meine Eltern und ich saßen im Auto. Henry flog, damit Merlin sich noch etwas ausruhen konnte. Ich konnte Henrys Hand sehen, sie schwebte seit zehn Minuten unbeweglich über dem Notfall-Knopf. Es war nicht so, dass Merlin das nicht auch gekonnt hätte, aber wir konnten nicht sicher sein, ob der Virus gänzlich gelöscht war. Mein Vater hatte versprochen, mit ihm zu einem Spezialisten zu fahren.

Unter uns zog die verschneite Schweizer Landschaft vorbei. Wälder, Wiesen, Häuser, Dörfer, Baracken. Ich sah nichts davon, obwohl ich hinaussah. Meine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich dachte daran, was jetzt gleich passieren würde. Unsterblichkeit. Das hier waren meine letzten sterblichen Minuten. Es war still im Auto. Man hörte absolut nichts.

Nach einer halben Stunde griff meine Mutter, die vor mir saß, nach meiner Hand. Sie schloss ihre kleinen Finger um meine Faust.

»Es ist so weit«, flüsterte sie.

Ich sagte nichts. Das Auto landete lautlos auf einem Parkplatz vor einem langgestreckten, neumodischen Holzhaus. Im ersten Stock waren nur kleine Fenster, doch es gab eine Glasfront im zweiten Stock. Da wir von Wald umgeben waren, hatte man von dort aus bestimmt einen guten Ausblick. Doch hineinsehen konnte ich nicht, denn feinste Vorhänge verdeckten die Fenster. Das Gebäude hatte ein zum Teil begrüntes Flachdach. Die andere Hälfte war mit Solarzellen ausgestattet.

Meine Mutter nahm mich an der Hand. Sie sah unglaublich schön aus in ihrem hellblauen Kleid. Doch sie schien nicht zu frieren. Verlieh Unsterblichkeit auch Immunität gegen Kälte? Ich hatte merkwürdigerweise noch nie darüber nachgedacht. Mein Vater trug einen schlichten Anzug, der etwas wärmer war.

Vor der Tür blieben wir stehen. Meine Mutter sah mich an.

»Ich hab dich lieb«, flüsterte sie und schloss mich in ihre Arme.

Mein Vater räusperte sich und sie ließ los, nahm jedoch meine schweißnasse Hand in ihre.

»Mom, ich hab dich auch lieb!«, flüsterte ich zurück.

Mein Vater räusperte sich noch einmal und erst, als meine Mutter sich die Tränen von der Wange wischte, wurde mir klar, warum. Er mochte es nicht, wenn sie Gefühle zeigte.

Doch dann ließ meine Mutter meine Hand los, trat einen Schritt zurück und mein Vater nahm mich unvermittelt in seine kräftigen Arme.

»Ich hoffe, wir konnten dir viel beibringen, Leander. Ich bin stolz auf dich und jetzt geh. Geh!«, sagte er eindringlich. Seine Stimme klang laut nach der langen Stille.

Er ließ mich los und nervös trat ich einen Schritt auf das Gebäude zu. Ich sah zurück. Meine Eltern standen Händchen haltend nebeneinander und lächelten mich liebevoll an. Die Wangen meiner Mutter waren nass. Merlin stand etwas abseits. Er würde auf mich warten. Wie lange, wusste ich nicht. Wie lange dauerte es, unsterblich zu werden?

Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. Ich öffnete das schwere Holztor und atmete einmal tief durch, dann flüsterte ich: »Ich hab euch lieb«, ohne mich umzudrehen. Meine Eltern würden es trotzdem hören. Dann machte ich einen Schritt in den dunklen Flur.

In dem Moment, in dem das Holztor mit einem lauten Knall zufiel und der Raum in Finsternis zu versinken drohte, gingen Lichter an. Eine nach der anderen erleuchteten die grellen Neonröhren den Gang vor mir. Es war völlig still. Im Gang gab es mehrere Türen, von denen aber nur eine offen stand.

Meine Schritte hallten auf dem polierten Marmorboden. Als ich schließlich bei der Tür ankam und sie aufdrückte, war es wieder völlig still. Und doch war ich nicht allein.

In dem Zimmer saß, gekleidet in Schwesterntracht, eine hübsche junge Frau, wobei ihr junges Aussehen natürlich nichts über ihr wahres Alter verriet. Sie lächelte, als sie mich sah, sagte aber nichts, sondern gab mir Zeit, mich umzuschauen.

Das Zimmer sah aus wie eine Mischung aus Zahnarztpraxis und Kaffeehaus. In der rechten hinteren Ecke war ein Sofa in L-Form zu einem weißen, polierten Tisch geschoben worden. Die Ärztin saß auf einem Rollhocker, der vermutlich normalerweise dem Sofa gegenüberstand. In der linken hinteren Ecke wand sich eine Wendeltreppe ins Obergeschoss. Auch sie war in Weiß gehalten. An der linken Wand stand ein langer, etwa ein Meter hoher Kasten. An der hinteren Wand war ein kleines, abgedunkeltes Fenster zu sehen.

Den Raum dominierte ein verstellbarer Stuhl, der mich so sehr an eine Zahnarztpraxis erinnert hatte. Es gab jedoch keine Bohrer und auch keine OP-Lampe. Das Zimmer wurde durch eine wunderschöne Deckenlampe erhellt, die die gesamte Decke ausfüllte.

Die Ärztin lächelte.

»Hallo, ich bin Maria.« Sie sprach ihren Namen, wie so viele Leute heutzutage, englisch aus. Englisch war schließlich die Weltsprache. Englisch war die Sprache der Klima-Verhandlungen gewesen, es war die Sprache der neuen, weltweit geltenden Verfassung und es war auf der ganzen Welt Amtssprache. »Lass dir nur Zeit. Wenn du das Zimmer eingehend untersucht hast, kannst du dich zu mir setzen. Ach ja, du kannst du zu mir sagen, wenn du willst.«

Dann rollte sie ihren Stuhl zu dem Tisch an genau die Stelle, die ich mir vorgestellt hatte. Ich lächelte, ließ meinen Blick noch einmal schweifen und setzte mich dann auf das Sofa.

»Ich hatte einmal einen Patienten, der hat das wörtlich genommen. Er ist eine halbe Stunde hier auf und ab gegangen und hat in jeden Winkel geschaut.« Sie lachte bei dem Gedanken daran. »Entschuldige. Das ist vermutlich unhöflich. Er hat es schließlich mit viel Bedacht getan. Allerdings war es sehr amüsant, ihm dabei zuzusehen.«

»Ist schon okay. Es ist nur … viel zu verarbeiten.«

Sie nickte. »Kann ich verstehen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie es bei mir war. Die gleißend weißen, fluoreszierenden Lichter im Gang waren schrecklich.« Sie lächelte.

Irgendwie entspannte mich diese Schwester. Sie schien so offen und freundlich, dass ich zugab: »Sie sind wirklich hell.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe ihnen schon gesagt, dass sie die dimmen sollten, aber«, sie zuckte mit den Schultern, »das haben sie immer noch nicht gemacht. Obwohl sie, glaube ich, während meiner Studienzeit einmal gedimmt wurden.«

Da ich nicht sagen konnte, wie alt sie war, wusste ich auch nicht, wann das gewesen war. Vor fünf oder vor fünfzig Jahren? Na ja, ich schätzte zwar, dass es irgendwo dazwischen war, aber wer wusste das schon so genau?

Sie seufzte. »Ich habe ihnen auch schon gesagt, dass sie die Fenster größer machen sollen, und du siehst ja, wie viel Effekt das hatte.« Sie deutete sarkastisch auf das kleine Fenster. Dann lächelte sie. »Aber ich schätze, wer sich so sehr vor den Lampen im Gang und dem Fenster hier ängstigt, würde ohnehin nicht hierherkommen, ohne dass man ihn ziehen müsste.«

»Man kann dazu gezwungen werden?«, fragte ich verwundert und leicht entsetzt.

Sie riss die Augen auf und lachte. »Mein Gott, nein! Ich meinte doch nur. Theoretisch bist du verpflichtet, mit 18 Jahren in eine Klinik zu gehen, aber wenn du nicht willst, kannst du immer noch einen Teil deines Geldes nehmen und als Sterblicher leben. Allerdings verfällt dein Anrecht auf eine Initiation mit dreißig Jahren.«

Ich hörte aufmerksam zu.

 

»Wenn du Fragen hast, dann stell sie ruhig. Du kannst mich alles fragen. Mich hat zwar daraufhin einmal jemand gefragt, ob ich ihn heiraten würde, aber … du kannst mich trotzdem alles fragen.«

»Hast du Ja gesagt?«

Sie lachte. »Nein. Ich habe Nein gesagt.«

»Gibt es auch eine Initiation für Redbloods?«

Sie schürzte die Lippen. »Theoretisch ja. Wenn sich ein Adeliger oder eine Adelige in ein Redblood beziehungsweise eine Redblood verliebt, dann dürften beide an der Initiation teilnehmen. Das würden Adelige aber niemals tun, wie du weißt.«

»Und haben sie dann auch bessere Fähigkeiten?«

»Ja, natürlich.«

Ich nickte, so als würde mich das interessieren, und sah dann zu Boden. Schließlich beschloss ich, es zu versuchen. Sie wirkte so nett …

»Tut es weh?«

Sie wurde sofort ernst. »Manche sagen, dass sie ein bisschen was gespürt haben. Einen kurzen Stich. Ein Brennen. Aber die meisten spüren nichts. Es ist aber bei allen anders. Was weißt du denn schon über die Initiation?«

Ich musste das erst einmal verarbeiten. Aber hatte meine Mutter nicht so etwas Ähnliches schon angedeutet? Außerdem konnte ich es ohnehin nicht ändern …

»Also, nur die Grundlagen. Meine Mutter hat mir schon ein wenig darüber erzählt.«

Sie lächelte verständnisvoll. »Erst einmal bewirkt das Unsterblichkeitsserum, dass sich dein Körper verändert, das dauert ein paar Stunden. Wie lange genau, hängt von der Dosis ab. Die Dosis wiederum hängt davon ab, wie viel dein Körper verträgt und wie viel dein Körper braucht. Irgendwo zwischen diesen Werten liegt die Dosis. Ich werde dich dann noch untersuchen, um diese Werte zu bestimmen. Es gilt: Je mehr Serum, desto mehr Veränderung. Bis zu einem gewissen Maß ist das gut. Du wirst stärker …«

Wie auch meine Mutter konnte sie es nicht lassen, mir das vorzuführen. Doch sie nahm sich einen härteren Gegner vor: Es war ein Küchenmesser. Ich hielt die Luft an, als sie damit auf ihrem Handrücken ansetzte und lachte.

»Hat dir deine Mutter das auch gezeigt?«

»Sie hat Papier zerknüllt.« Der Vorwurf war in meiner Stimme deutlich zu hören. Sie lachte noch einmal.

»Es hat tatsächlich einmal jemand versucht, mir das Messer wegzunehmen, um mich daran zu hindern, Selbstmord zu begehen.« Sie lachte wieder.

Ich lachte nicht. Ich war zwar beherrscht genug, um ihr das Messer nicht zu entreißen, aber ich war dennoch besorgt. Was hatte meine Mutter gesagt? Sie könnte sich kaum mit einem Küchenmesser schneiden. Kaum? Dieses Messer war wesentlich schärfer als ein normales Küchenmesser.

Doch sie zog das Messer kräftig über ihren Handrücken. Ich rechnete damit, Blut zu sehen, aber da war nur eine weiße Linie. Sie fuhr noch kräftiger darüber. Die weiße Linie wurde ausgeprägter und das Messer ächzte.

»Wie …?« Ich konnte die Frage nicht fertig stellen.

»Jeder und jede Unsterbliche ist einzigartig. Ich habe sehr feste Haut und eine sehr große physische Toleranz. Es kann also durchaus sein, dass ich die Haut deiner Mutter damit locker durchschnitten hätte.«

»Und meine Mutter hat behauptet, man wäre nicht Superman.«

Sie lachte. »Na ja, das stimmt auch so. Denn man kann mich zwar mit diesem Messer nicht verletzen, aber ich könnte mir beispielsweise immer noch das Genick brechen. Außerdem ist das für uns normal. Superman ist ja deswegen etwas Besonderes, weil er einzigartig ist.«

Wieder etwas zum Nachdenken. »Und was ist mit psychischen Dingen? Meine Mutter hat gesagt, dass man sozusagen schneller und effektiver denken kann, aber dass sich die Gedanken selbst nicht ändern.«

Maria nickte. »Da hat sie völlig recht. Jeder und jede Unsterbliche hat zwei Talente. Mein erstes hast du ja schon gesehen … Ich habe außerdem das Talent, psychischen Belastungen standzuhalten. Das heißt, du könntest mir eine Pistole an den Kopf halten und ich würde trotzdem – verhältnismäßig – klar denken können. Aber ja, man denkt schneller, bemerkt Dinge, die für ein normales Gehirn zu schnell sind. Außerdem ist dein Gedächtnis besser. Du kannst dir viel mehr merken.«

»Und wie stark ausgeprägt sind diese Begabungen?«

»Das ist unterschiedlich. Normalerweise halten sie sich in Grenzen. Viele wissen gar nicht, wo ihre Begabungen liegen, weil es etwas so Alltägliches für sie ist. Ich würde mir darüber keine Sorgen machen. Es gibt viele Studien und Fragebögen dazu, wenn du wirklich wissen willst, was für eine Begabung du hast. In der Regel entspricht sie immer deinem Charakter. Die meisten sind nicht so ausgeprägt wie meine, aber zur Sicherheit gibt es eine Liste mit den Namen aller Adeligen, die besonders mächtige oder gefährliche Talente haben. Sie werden dann speziell überwacht und dürfen je nach ihrer Gefährlichkeitsstufe bestimmte Tätigkeiten nicht ausführen und müssen sich an strikte Regelungen halten.«

Ich schwieg eine Weile.

»Noch Fragen? Sonst fange ich an, dich zu untersuchen.«