Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht

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2.6.5.3 Latein

Latein ist die gemeinsame Basis und „Mutter“ der romanischen beziehungsweise europäischen Sprachen (vgl. Müller-Lancé 2012: 11). Stefan Kipf (2014) beispielsweise, führt aus, dass der Lateinunterricht den Schülerinnen und Schülern einen akribischen Zugang zur Tradition der europäischen Kultur gewähre, ihr historisches Bewusstsein fördere, und dass allgemein Latein einen grundlegenden Beitrag zur „Förderung einer gemeinsamen europäischen Identität“ leiste (Kipf 2014: 139). Allerdings befindet sich das Lateinische aus der Sicht der Schulsprachenpolitik weiterhin in einer eher kritischen Lage (vgl. Haag & Stern 2002: 523 sowie auch Jakisch 2015: 36f.), insofern als der Anspruch des Europarates – nebst der Muttersprache, Kenntnisse in zwei weiteren europäischen Sprachen zu erwerben – auf moderne Fremdsprachen und auf deren aktive Sprachverwendung in konkreten Begegnungssituationen zurückgreift. Dieser Erklärung zufolge wird Latein als alte Sprache ausgeschlossen (vgl. Jakisch 2015: 36). Während die lebenden Fremdsprachen die Entwicklung einer Kommunikationsfähigkeit und einer interkulturellen Handlungskompetenz anstreben, bei welchen rezeptive und produktive Fertigkeiten ausgebildet werden (vgl. Neveling 2010), schult das Lateinische dagegen eher kognitive und rezeptive Kompetenzen, im Besonderen die Sprachbewusstheit, die Reflexion und Betrachtung durch die Lernenden von Sprachstrukturen mittels antiker literarischer Texte, die umsichtig und kontrastiv mit dem Deutschen in Übersetzungsarbeit reflektiert und hermeneutisch erschlossen werden (vgl. dazu Haag & Stern 2002; Große 2013: 190f.; Kipf 2014). Sowohl das Hör-/Sehverstehen als auch die Sprechfähigkeit und das Schreiben werden dabei weitgehend außer Acht gelassen (vgl. Haag & Stern 2002: 524).

Transfereffekte lassen sich vorwiegend bei der Vokabelarbeit auf das Erlernen einer modernen, romanischen Sprache feststellen (Haag & Stern 2002: 523), denn die allermeisten Lexeme in den romanischen Sprachen haben einen lateinischen Ursprung. Ludwig Haag und Elsbeth Stern (2002), die untersucht haben, ob sich Französisch oder Latein besser als Brückensprache eignen würden, empfehlen – wie auch andere Sprachdidaktiker und Linguisten (z.B. Meißner 2000, 2003; Müller-Lancé 2001; Neveling 2006) – das Erlernen von Latein nur als freiwillige dritte oder sogar vierte Fremdsprache (vgl. Haag & Stern 2002: 525). Ihrer Ansicht nach liefere Latein nur wenige Transferbasen, die Morphosyntax sei typologisch unterschiedlich zu betrachten und der panromanische Basiswortschatz differiere ebenfalls; es bestünde nur ein minimal wahrnehmbares Verwandtschaftsverhältnis betreffend der sprachlichen Ähnlichkeiten (vgl. Haag & Stern 2002: 524f.). Darüber hinaus schule es als tote Sprache zudem die kommunikative Kompetenz nicht.

Die möglichen Nachteile des Lateinischen als Brückensprache bedeuten aber nicht, dass ihr Erlernen überhaupt keine positiven Auswirkungen mit sich brächte. Im Laufe der Jahre hat sich das Fach positiv weiterentwickelt (Kipf 2014: 139; Große 2015: 189; Siebel 2011, 2017), so wie es das statische Bundesamt 2013 in einer Statistik attestiert hat (vgl. Hinweis in Kipf 2014: 139).

Das Fach Latein hat die Prinzipien der Mehrsprachigkeits- und Interkomprehensionsdidaktik mitaufgenommen (vgl. Kipf 2014: 141) und kann dabei als „reflexionsbasierte neutrale Brücke zwischen Erst- und Zweitsprache“ fungieren (Große 2015: 195). Im Sprachvergleich ergeben sich hierbei sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in Bezug auf die moderne Zielsprache. Das Fach schult im Besonderen die Sprachbewusstheit und die Sprachreflexion seiner Lernenden (vgl. Große 2015: 192ff.). Man kann dem Lateinischen also im Hinblick auf die Ausbildung rezeptiver Kompetenzen keineswegs sein Transferpotenzial absprechen.

Abschließend betrachtet ist es nicht zwingend notwendig, Latein im Sinne der Mehrsprachigkeitsdidaktik zu erlernen. Jedoch leistet die Sprache auch eine bedeutende Stützfunktion für alle weiteren (Fremd-)sprachen.

2.6.5.4 Spanisch

Das Spanische als Zielsprache ist in aller Regel die dritte Fremdsprache für deutschsprachige Schülerinnen und Schüler1 und somit haben diese bereits Kenntnisse in bis zu zwei zuvor erlernten Fremdsprachen: Englisch und eine romanische Sprache. Demzufolge bietet Spanisch als Tertiärsprache den Vorteil, dass sein Erwerb keine größeren Schwierigkeiten mehr darstellt beziehungsweise darstellen sollte. Vielmehr bringen die Lernenden zahlreiche Voraussetzungen mit: sie verfügen über vorhandene schulische und auch herkunftsbedingte sprachliche Ressourcen sowie über Verarbeitungsstrategien des Fremdsprachenlernens und Kenntnisse betreffend des strukturellen Aufbaus von Sprachen. Durch ihr reichliches Erfahrungswissen wird der Erwerb des Spanischen erleichtert und beschleunigt; ihre Kenntnisse in einer ersten romanischen Sprache können demzufolge unter Anleitung ihrer Lehrperson die Funktion der Transfer- oder Brückensprache einnehmen.

2.6.5.5 Italienisch

Vorteil des Italienischen als dritte bzw. spätbeginnende Sprache in der gymnasialen Oberstufe ist, dass der linguistische Hintergrund aus den zuvor erlernten Sprachen beachtlich ist, und dass die Schülerinnen und Schüler entsprechende Bezüge zu diesen Fremdsprachen in Form von interlingualen Parallelen bei grammatikalischen oder lexikalischen Phänomenen erkennen können. Ähnlich dem Spanischen respektive dem Französischen bietet deshalb das Italienische als romanische Sprache den Lernenden ein großes Potenzial, welches sich in der Vielzahl von Transferbasen im lexikalischen, phonetisch-graphischen oder noch morphosyntaktischen Bereich widerspiegelt. Italienischlernende haben insgesamt wenige Einstiegsprobleme oder noch unüberwindbare Schwierigkeiten (vgl. Reimann 2016: 512). Sowohl aktive als auch rezeptive, bewusste und unbewusste Kompetenzen können durch die Lernenden entwickelt werden. Durch die Nähe von Laut- und Schriftbild können sie sich schnell in die neue Sprache hineinfinden, demzufolge sehr rasch Fortschritte machen und somit auch motivierende Erfolgserlebnisse haben.

2.6.6 Lebensweltliche Sprachen als Brückensprachen und ihr Potenzial für das Erlernen einer Schulfremdsprache
2.6.6.1 Türkisch

Die türkische Sprache ist in ihrer geschichtlichen Entwicklung von Sprachkontakten wie das Arabische und das Persische und im 19. und 20. Jahrhundert das Französische auf der lexikalischen Ebene geprägt und weist zahlreiche französische Lehnwörter auf (vgl. Brüser & Wojatzke 2010: 122; Thiele 2015: 139). Die türkische Schrift basiert seit einem knappen Jahrhundert auf der lateinischen Graphie und stellt deshalb keine zusätzlichen Schwierigkeiten bei der Entzifferung der Wörter dar, wie dies im Russischen oder Arabischen der Fall ist (vgl. Thiele 2015: 140)1. Im Gegenteil, die relative typologisch-lexikalische Nähe zwischen Französisch und Türkisch kann von den Lernenden als Transferstrategie durchaus bewusst eingesetzt werden, um unbekannte Wörter gewinnbringend zu erschließen und zu verstehen. Deshalb plädieren Brüser und Wojatzke (2010) dafür,

„[…] die türkische Sprache als Brückensprache beim Wortschatzerwerb des Französischen in den Unterricht einzubeziehen […].“ (Brüser & Wojatzke 2010: 122)

Die Integration der herkunftssprachlichen Türkischkenntnisse der Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen hat den positiven Effekt, dass deren Mehrsprachigkeit sichtbar wird, indem die Schule das Türkische neben den anderen gesprochenen (Schul-)Sprachen zulässt. Somit erlebt die lebensweltliche Mehrsprachigkeit türkischstämmiger Schülerinnen und Schüler Wertschätzung und Anerkennung. Das vorhandene, sprachliche Repertoire und die Plurikulturalität dieser Schülerschaft werden gefördert. Nebst der Präsenz zahlreicher französischer Lexeme im Türkischen können – so exemplarisch Reissner (2015) und Thiele (2015) – landeskundlich-kulturelle Themen in verschiedenen Unterrichtsaktivitäten genutzt und in den Fremdsprachenunterricht eingebunden werden (vgl. Reissner 2015: 216f.; Thiele 2015: 137ff.).

Bereits Ingrid Gogolin (2008) hat – allerdings mit dem Blick auf die Primarstufe – darauf hingewiesen, dass die Alphabetisierung der deutsch-türkischen Kinder insofern an eine Grenze stößt, als sie weiterhin in Fächergrenzen gedacht wird und damit die genannten möglichen Transferaspekte reduziert bleiben.

„Das Experiment der deutsch-türkisch-bilingualen Alphabetisierung beispielsweise sprengt den Rahmen des hierzulande Üblichen zwar insofern, als es eine Sprache einbezieht, der gewöhnlich der Status des schulisch Behandelns- und Lehrenswerten nicht zugebilligt wird. Aber sie bleibt zugleich in diesem Rahmen, weil sie in den üblichen Fächergrenzen gedacht ist […].“ (Gogolin 2008: 264)

2.6.6.2 Russisch

Russisch ist eine indoeuropäische Sprache und gehört der slawischen Sprachfamilie an. Der Wortschatz des Russischen enthält vor allem allgemein- und ostslawische Lexeme, verwendet das kyrillische Alphabet und ist eine der sechs offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen (vgl. Mehlhorn 2016: 534). Es beinhaltet eine große Anzahl von Lehnwörtern aus verschiedenen Sprachen, z.B. im 18. Jahrhundert aus dem Holländischen, im 18. und 19. Jahrhundert aus dem Deutschen und Französischen und seit dem 20. Jahrhundert auch aus dem Englischen (vgl. Mehlhorn 2016).

„In Deutschland ist Russisch mit derzeit mindestens 4,5 Mio. russischsprachigen – russlanddeutschen Spätaussiedlern, jüdischen Zuwanderern und Ausländern aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion – die meist gesprochen Migrantensprache.“ (Mehlhorn 2016: 535)

 

Ähnlich den türkischen Schülerinnen und Schülern, die als Erstsprache Türkisch sprechen, verfügen die russischstämmigen Lernenden mit ihrer Muttersprache beim Erlernen einer neuen Sprache bereits über ein größeres Repertoire an phonetisch-phonologischen Parametern, an Lernstrategien und metalinguistischem Wissen. Hierdurch können sie – im Gegensatz zu ihren monolingualen Mitschülerinnen und -schülern – einen bewussten und erleichternden, positiven Transfer in der weiteren Fremdsprache L3, L4, Lx ausführen.

Abschließend zu diesen Überlegungen halte ich Hufeisens Stellungnahme (2004) zur Gestaltung des (Fremd-)Sprachenunterrichts an dieser Stelle für wichtig:

„[Im Mittelpunkt jeglicher Unterrichtsaktivitäten steht] die Bewusstmachung, die Bewusstmachung über die verschiedenen Sprachen (Sprachbewusstsein), über den Vergleich, den Kontrast, die Beschreibung der Sprachen und die eigene Distanz zu den Sprachen (metalinguistisches Bewusstsein) und die Bewusstmachung des eigenen Lerntyps und der eigenen verwendeten und bevorzugten Lernstrategien in Bezug auf Fremdsprachen (Lernbewusstsein).“ (Hufeisen 2004: 21)

Les professeurs qui m’ont sauvé – et qui ont fait de moi un professeur – n’étaient pas formés pour ça […]. Ils étaient des adultes confrontés à des adolescents en péril. Ils se sont dit qu’il y avait urgence. Ils ont plongé. […] Ils ont fini par me sortir de là. Et beaucoup d’autres avec moi. Ils nous ont littéralement repêchés. Nous leur devons la vie. (Daniel Pennac 2007: Chagrin d’école, pp. 41–42)

3. Zur Erforschung der Binnensicht von Fremdsprachenlehrkräften
3.1 Terminologische Vielfalt: Subjektive Theorien – Einstellungen

Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, einen Einblick in die Binnensicht einer Probandengruppe von Lehrpersonen zu ermöglichen und ihre Einstellungen zur Mehrsprachigkeit aufzuzeigen. Wenn es Ziel des Fremdsprachenunterrichts und damit die professionelle Aufgabe der Lehrpersonen ist, Einstellungen von Lernenden als persönlichkeitsbezogene Teilkompetenzen auszubilden (vgl. Venus 2015), etwa in Michael Byrams Sinne des „savoir-être“ (Byram 1997: 34f.), dann sind auch die Einstellungen und das Expertenwissen eben dieser Lehrpersonen damit untrennbar verbunden und von besonderem Interesse für die heutige, empirische fremdsprachendidaktische Forschung (vgl. Caspari 2014).

Diese wichtigen Beziehungen zwischen Lehrereinstellungen im Allgemeinen und Lernleistungen und Verhalten von Lernenden stellt John Hattie in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer (2014) auf der Basis tausender empirischer Studien unter anderem dar:

„[…] wenn wir uns die […] Lehrpersonen anschauen: ihre Erwartungen und ihre Unterrichtskonzepte. Kinder werden in eine Welt der Erwartungen hineingeboren. Ähnlich treten sie in die Klasse mit eigenen Erwartungen ein, die denen der Lehrperson gegenüberstehen. Auch Lehrpersonen kommen in die Klasse mit Auffassungen bezüglich des Lehrens, des Lernens, der Benotung und der Lernenden. Wir müssen diese Vorstellungen besser verstehen, denn sie sind offenbar starke Moderatorvariablen für den Erfolg dieser Lehrpersonen. Wenn man geringe Erwartungen an den Erfolg der Lernenden hat, wird dies zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.“ (Beywl & Zierer 2014: 43)

Zum beruflichen Selbstverständnis von Fremdsprachenlehrpersonen liegen umfassende Arbeiten vor, die Daniela Caspari in ihrer Dissertation von 2003 und dann 2014 in einem Überblicksartikel zusammenfasst (Caspari 2014: 20–35). Allerdings konzentriere ich mich in meiner Untersuchung nur auf einen Teilaspekt dieses Selbstverständnisses, die schon benannten Einstellungen zur Mehrsprachigkeit. Zur Grundlegung dieser explorativen Studie und um eine Binnensicht auf die oben genannten Einstellungen zu erreichen, eignet sich das theoretische Konstrukt, das in der Sozialpsychologie und der Erziehungswissenschaft seit Jahrzehnten beforscht wird: „Subjektive Theorie“.

Caspari (2014) systematisiert in ihrem Überblicksartikel die unterschiedlichen Forschungsansätze und -arbeiten zu „subjektiven Sichtweisen“ oder „Innensicht“ nach inhaltlichen, forschungsmethodologischen zielgruppenspezifischen Kriterien.

Hier stichwortartig verkürzt unterscheidet sie fünf Kategorien:

1 Innensicht und Lehrerhandeln;

2 Innensicht plus Einzelaspekte / Themen;

3 nach dem Forschungskonzept;

4 nach Zielgruppen;

5 nach dem Forschungsparadigma. (vgl. Caspari 2014: 22)

Dabei weist sie darauf hin, dass sich die vorherrschende Forschungsrichtung seit den 1980er Jahren insgesamt stärker den Wahrnehmungen der Akteure des Fremdsprachenlernens zuwandte, und dass sich seit der Jahrtausendwende praktisch keine Arbeiten zum Lehrerhandeln mehr finden lassen, die sich nicht mit der Binnensicht der Lehrkräfte beschäftigen. Zudem sei die Mehrzahl dieser Forschungsarbeiten dem qualitativen Paradigma zuzuordnen (vgl. Caspari 2016a: 43–45).

In der vorliegenden Studie werden Einstellungen von Lehrpersonen zum Thema Mehrsprachigkeit in gleicher Weise empirisch-qualitativ untersucht, damit reiht sich die Arbeit in genannte Forschungsrichtung ein, die sich seit der Jahrtausendwende mit einzelnen Aspekten der subjektiven Sichtweisen beschäftigt. Neben dem bilingualen Sachfachunterricht, der Grammatik und den kommunikativen Kompetenzen, beschäftigten sich Arbeiten darüber hinaus auch mit der Evaluation von Lernerleistungen und schließlich der Mehrsprachigkeit, Multikulturalität und dem interkulturellen Lernen (vgl. Caspari 2014: 25ff.).

Die Arbeiten von Christiane Kallenbach (1996) und Daniela Caspari (2003) waren bahnbrechend für den Blick auf die Einstellungen von Fremdsprachenlehrpersonen, da sie inhaltlich und forschungsmethodologisch den Weg für qualitative Untersuchungen dieses komplexen Feldes geebnet haben. Diesen Untersuchungen kommt für die vorliegende Arbeit eine zentrale Bedeutung zu.

Mit dem qualitativen Forschungsansatz soll erforscht werden, was Fremdsprachenlehrkräfte im Zusammenhang mit ihrer Unterrichtspraxis über die Biografien und die eventuelle lebensweltliche und schulische Mehrsprachigkeit ihrer Schülerschaft wissen, und wie sich dieses Wissen auf ihre Überzeugungen auswirkt und möglicherweise ihr Handeln bestimmt. Auf die Kluft zwischen Wissen und Handeln wird weiter unten noch einzugehen sein. Wissen ist somit nicht allein auf Denkprozesse bezogen, das heißt im rein kognitiven Sinne zu verstehen, sondern Affektivität in Form von Einstellungen, Werthaltungen und Intentionen spielt eine wichtige Rolle (vgl. Kallenbach 1996: 18). In der qualitativen Forschung ist dieses Anwendungsfeld der Analyse von Alltagswissen der Forschungsperspektive „Zugänge zu subjektiven Sichtweisen“ zuzuordnen (vgl. im Überblick Flick et al. 2000: 18f.). Die Frage nach den subjektiven Theorien der Lehrerinnen und Lehrer hat im Übrigen seine Wurzeln in der Abkehr vom behavioristischen Menschenbild im Rahmen der kognitiven Wende in der Psychologie. Als Ersatz für dieses überkommene, weitgehend mechanistische Menschenbild wurde ein epistemologisches Subjektmodell formuliert (vgl. Groeben und Scheele 1977, 2000) und in der Erziehungswissenschaft (vgl. Klafki 1973) wurden die subjektiven Perspektiven der Lehrenden zum Forschungsgegenstand gemacht. Die gängigste Methode zur Erhebung von subjektiven Theorien ist das Interview1 (vgl. Kallenbach 1996: 82–85) und deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die individuellen Einstellungen, Argumentationen, Bezüge und Überzeugungen für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind, bieten sich als Forschungsmethode fragengeleitete, explorative Interviews an, um die subjektiven Theorien bzw. Einstellungen herauszuarbeiten. Über die Schilderungen ihrer jeweils subjektiv erlebten, empfundenen und reflektierten Erfahrungen im Klassenraum mit Mehrsprachigkeit sollen die Einstellungen der Lehrpersonen dann kategoriengeleitet rekonstruiert werden (vgl. Kallenbach 1996: 75). Somit betont der Ansatz zum Einen die Subjektivität der Ausführungen einer befragten Person, zum Anderen kann ihnen Theoriestatus zugesprochen werden, weil sie Erklärungs- und Vorhersagepotenzial, Kohärenz und erfahrungsbasierte Abstrahierung und Strukturierungen enthalten (vgl. Kallenbach 1996: 12).

Seit der Arbeit von Christiane Kallenbach (1996) hat sich bis heute weiterhin eine große terminologische Vielfalt in Bezug auf die kognitiven Strukturen, Erklärungs- und Verhaltensmuster, Konstruktionen und Modifikationen des Wissens und der handlungsleitenden Theorien, kurz: der Binnensicht des Individuums und seiner subjektiven Theorien gehalten:

„Die Begrifflichkeiten sind ausgesprochen vielfältig und nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt. Ich benutze den Begriff ‚Subjektive Theorien’ nicht nur weil er am festesten etabliert ist, sondern auch, weil sich in ihm die personenbezogenen Herangehensweisen und der Status, der dem subjektiven Wissen zugesprochen werden soll, am besten widerspiegeln.“ (Kallenbach 1996: 17)

Weitere Begriffe zur Erforschung subjektiver Wissensbestände von Lehrkräften und Lernenden finden sich auch in der Übersicht von Grotjahn 1998 (Grotjahn 1998: 44). Die Begriffsdefinitionen ähneln sich jedoch im Wesentlichen, denn Sprachlehrforscher wie Rüdiger Grotjahn und Britta Viebrock (2007: 41) gehen von der

„[…] Innensicht des Lehrers bzw. des Lerners [aus] und [sehen] die jeweiligen individuellen Kognitionen als potentielle explanative Konstrukte im Bereich des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen [an].“ (Grotjahn 1998: 44)

Die Innenperspektive von Lehrpersonen ist auch heute immer noch terminologisch nur sehr komplex zu fassen, worauf auch Caspari in der Folge von Simon Borg (2003) hinweist (vgl. Caspari 2014). In dieser weiterhin unklaren terminologischen Lage arbeitet Schart (2003) mit dem Begriff des subjektiven Wissens von Lehrenden und beschreibt es als ein

„[…] sehr komplexes und heterogenes Bündel aus Überzeugungen, Vorstellungen und Metaphern, Beurteilungstendenzen, Rezepten, Emotionen und Selbstrechtfertigungen […].“ (Schart 2003: 25)

Weiterhin finden sich in der Literatur Termini wie „Subjektive Lehr-Lern-Überzeugungen“ (vgl. Pajares 1992), „pedagogical content beliefs“ (vgl. Staub & Stern 2002), „Lehrauffassung / Grundhaltung“ (vgl. Viebahn 2005 und 2009). Norten und Kollegen (2005) definieren ihrerseits „teachers’ beliefs“; Baumert und Kunter (2006) sprechen von „Überzeugungen / Werthaltungen“; Dubberke et alii (2008) untersuchen die „lerntheoretischen Überzeugungen“ und Luebeck bezeichnet dies als „intrapsychische Überzeugungsstrukturen“ (Luebeck 2009: 253f.). Niessen spricht von „Individualkonzept von Lehrenden“ (2008) und Fäcke schließlich allgemeiner von „mentalen Prozessen“ oder auch von Einstellungen (Fäcke 2006: 47f.).

Schließlich zählt Caspari ebenfalls die Vielzahl der verwendeten Begriffe auf (vgl. Caspari 2016b: 305f.) und benennt die Schwierigkeiten, diese trennscharf gegeneinander abzugrenzen. Sie stellt aber die Möglichkeiten der Erforschung mentaler Prozesse von Lehrenden positiv dar:

„Trotz der Schwierigkeit, die genannten Begriffe bzw. die damit bezeichneten Konzepte voneinander abzugrenzen, und der insgesamt begrenzten Reichweite qualitativer Forschung, erlauben diese Arbeiten eine Vielzahl von Einsichten in die subjektiven Sichtweisen von Lehrkräften.“ (Caspari 2016b: 307)

Auch die obige Aufzählung stellt eine Liste dar, die sich fortführen ließe und auf die genannte unsichere Terminologiesituation im Bereich der Subjektiven Theorien (ST) verweist, weil dieses Konzept auch üblicherweise synonym verwendet wird zu: „Einstellungen, Einschätzungen, Auffassungen, Überzeugungen“ (vgl. z.B. Pajares 1992; Wahl 2001). Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien wurde in den 1970er und 1980er Jahren von einer Forschergruppe um Norbert Groeben und Brigitte Scheele (1988) entwickelt. Grundlegend für diesen Ansatz waren drei Werke: Kellys Psychology of Personal Constructs (1955), Heiders Psychology of Interpersonal Relations (1958) und Lauckens Naive Verhaltenspsychologie (1974), in deren Tradition das Forschungsprogramm Subjektive Theorien neben einer theoretischen Fundierung vor allem einen methodischen Zugang darstellt, um diese empirisch erforschen zu können (vgl. Kallenbach 1996: 37).

Das Konzept der „subjektiven Theorien“ ist den Konzepten der amerikanischen Forschung – attitudes, beliefs – und der frankophonen Forschung – représentations, opinions, attitudes, stéréotypes – verwandt (vgl. Geiger-Jaillet 2006: 351f.).

 

Für den frankophonen Sprachraum hingegen scheinen sich vor allem die oben genannten Begriffe attitudes und représentations sociales durchgesetzt zu haben (vgl. z.B. Castelotti & Moore 2002; Carrasco Perea & Piccarda 2009).

Beide Termini – sowohl représentations als auch attitudes – haben vielerlei Berührungs- und Überschneidungspunkte und werden häufig deckungsgleich verwendet. Sie sind der Sozialpsychologie entlehnt und bezeichnen die Fähigkeit, auf adäquate, für den Handelnden vorteilhafte Weise auf eine Klasse von Objektanforderungen und -gegebenheiten reagieren oder nicht reagieren zu können. Es sind dies erworbene, psychische (Prä-)Dispositionen, über die ein Individuum verfügt und das seinen Vorrat an Einschätzungen (croyances) darstellt (vgl. Lüdi & Py 1986). Diese Einschätzungen wiederum können sowohl auf objektiven Informationen als auch auf Vorurteilen oder Stereotypen gründen. Andere Autoren bevorzugen eine Trennung beider Begriffe:

« […] une (pré)-disposition psychique latente, acquise, à réagir d’une certaine manière à un objet. » (Lüdi & Py 1986: 97)

Für die vorliegende Arbeit habe ich mich entschieden, mit dem Begriffskonzept der ‚Einstellung’ weiterzuarbeiten. Es wird in der Lehr-Lernforschung in Bezug auf den Lehrerberuf im Grunde synonym gebraucht zu beliefs und auch attitudes als „[…] jenes Geflecht aus Überzeugungen (beliefs), Meinungen und verallgemeinerten Erfahrungswissen“ zusammenfassend bezeichnet, welches zusammengenommen das Unterrichtshandeln der Lehrenden prägt (Woods 1996, zitiert in Krumm 2007: 356).

"Subjektive Theorien stehen als mehr oder weniger bewußtes Wissen hinter dem (Sprach-)Handeln. Sie sind prinzipiell aktualisierbar, lassen sich jedoch nicht als systematisch strukturierte Theorie 'abrufen'. Vielmehr entwickeln sie sich Schritt für Schritt im Gespräch und können deshalb nur mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden erhoben werden, deren Verfahren auf Interpretations- und Verstehensprozessen beruhen." (Kallenbach 1996: 50; Hervorhebungen im Text)

So verwende ich den Begriff der Einstellungen als generellen Terminus und terminologische Klammer im Deutschen und der deutschen fachdidaktischen Literatur (vgl. Venus 2015). Dieses Konzept der ‚Einstellungen’ erscheint geeignet, die durch die Fragebogenerhebung gewonnene „Außenperspektive“ durch eine „Innenperspektive“ bzw. „Binnensicht“ zu erweitern und hat damit zum Ziel, die Perspektive der Befragten auf den Gegenstand, hier: ihre Einstellungen zur Mehrsprachigkeit, zu erhellen (vgl. Viebrock 2007: 103).

Im Zusammenhang mit den Anforderungen an das unterrichtliche Lehrerhandeln – hier Einbeziehung der Mehrsprachigkeit – weist Philippe Perrenoud darauf hin, dass eine immer größer werdende Lücke zwischen den gesellschaftlichen Ansprüchen und den realen Möglichkeiten und Kompetenzen der Lehrpersonen klafft. Er stellt das als eine Überbürdung des Berufsstands dar, die nicht mehr zu bewältigen sei, wie: Unterrichtseinheiten stringent planen, die den Lernenden bestmöglich an seinem Entwicklungsstand abholen; differenziert und individualisiert arbeiten; individuelle Lernprojekte stützen; kooperative und aktive Methoden anwenden; den Sinn schulischer Arbeit verdeutlichen; zu Toleranz in einer multiethnischen Lerngruppe erziehen und Vieles mehr.

« A l’échelle de la classe, l’écart s’est accru également entre ce qu’un enseignant moyen sait faire et ce qu’il est censé savoir faire, par exemple construire des séquences didactiques rigoureuses et des situations d’apprentissage atteignant l’apprenant dans sa „zone proximale de développement“, différencier son action pédagogique, individualiser les parcours de formation, pratiquer une observation formative, développer des méthodes actives […] faire de la classe une société multi-ethnique basée sur la tolérance, gérer la diversité des cultures ou simplement des familles. » (Perrenoud 1996: 80)

Hierbei spricht er von dem Unaussprechlichen, der non-dits (Perrenoud 1996: 69f.) des Lehrerberufs und führt unter anderem Angst, Verführung, Macht, Dilemma der Ordnung, Basteln und Improvisation, Langeweile und Routine und die unvermeidliche Differenz der Standpunkte zwischen Lehrenden und Lernenden auf. Die in diesen Dilemmata gefangenen Lehrpersonen werden möglicherweise im narrativen Interview ihre eigene berufsbiografische Selbstkonstruktion dergestalt darstellen, dass sie persönliche, unterrichtspraktische Lösungen für die genannten Probleme konstruieren, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, mit der erneuten Anforderung nach Einbeziehung der Mehrsprachigkeit überfordert zu sein.