Verschwunden

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Hinter Glas. Lachen

Beschränkte Auskünfte

Im Stadtarchiv erfahre ich von der Leiterin, sie habe die Akten des DDR-Jugendamtes vernichten lassen. Die aus den Stadtteilen Südost oder Ost seien in einem Keller untergebracht und schimmlig gewesen, »das ging nicht mehr«. Einen Moment lang fällt mir nichts ein, das ich darauf sagen könnte. Auch sie schweigt. Schimmel? Schimmel sei gesundheitsschädlich. Sie wird ein wenig rot im Gesicht.

Anruf im Jugendamt und Frage nach dem Archiv. Das stimmt erst ratlos, »aber ich gebe Sie mal weiter«, heißt es, so lande ich bei einer Mitarbeiterin, die es betreue.

»Bei mir lesen Sie gar nichts! Alle vor Sechsundvierzig Geborenen sind im Container. Sie finden nichts. Fünf Jahre nach der Volljährigkeit kam alles weg in der DDR. Adoptionen: sechzig Jahre nach Geburt. Das ist der heutige Stand. Wenn ich nach bin mit DDR in zwei Jahren, gibt es überhaupt nichts mehr.«

Sie mag meine Fragen nicht, antwortet abgehackt.

»1994 bis 1998 ist alles weggekommen. Das Stadtarchiv hat sein Okay gegeben.«

»Wohin kamen die Akten? Was heißt weg?«

»Das wurde im Neuen Rathaus vernichtet. 1996 ist das Turmzimmer geräumt worden.«

Ich frage nach Adoptionen.

»Selbst das kriegen Sie nicht raus.«

»Das glaube ich nicht.«

»Viele Adoptionsakten sind wegen Zecken weggeschmissen worden. Sie waren verzeckt.«

»Verzeckt?«

»Verzeckt, und Wasserschaden.«

»Wer hat das entschieden?«

»Das Stadtarchiv. Sie können ruhig in die Adoptionsvermittlungsstelle gehen, Sie finden nichts.«

Ich sage, ich hätte den Eindruck, dass sie das freut.

»Von mir kriegen Sie gar nichts.«

Sie lässt keine nachdenkliche Ebene zu. Zwei Dinge verstärken sich gegenseitig: Die Breitseite der Verweigerung und der Grobianismus der DDR, authentisch wie am ersten Tag. Es scheint kein Gespräch möglich.

»Alles ist weg. Sie finden nirgends was. Es hat in der DDR keine Zwangsadoptionen gegeben. Es gab eine einzige, in Berlin. Eine. Gab es nicht. Hat’s nicht gegeben.«

Im allgemeinen Sozialdienst der Stadt explodiert eine Stimme, als ich frage, wie ich Frau N., das damalige amtliche Gegenüber von Herrn K. und Frau S., finden könne.

»Das dürfen Sie nicht, solche Fragen. Was weiß ich denn, wer Sie sind! Das ist alles Datenschutz. Sie dürfen gar nichts. Nichts.« Sie schreit. »Das Personalamt bewahrt Personalakten nur fünf Jahre nach Ausscheiden auf.«

Sie ist aufgeladen mit neuem Recht, versucht es laut bellend mit Einschüchterung. Neues Recht, neue Angst? Davor, die Demokratie nicht korrekt zu handhaben, ertappt, erkannt zu werden, die in der DDR innegehabte und heute fortgeführte Anstellung zu verlieren?

»Eine öffentliche Verwaltung gestattet zumindest Anfragen, auch nach einer ehemaligen Mitarbeiterin!«

»Gehen Sie zum Ordnungsamt. Zum Einwohnermeldeamt.«

»Mit nur einem Nachnamen?«

»Hier bekommen Sie nichts.«

Die lange zurückliegenden Geschichten von Herrn K. und Frau S. treiben mich an. Sie sind frisch, stechend, nichts daran ist abgeschliffen. Ich dränge, insistiere, frage weiter. Ignoriere, dass ich abgestoßen werden soll. Absurd. Nach all den Wagnissen, Verfolgungen, illegalem und offenem Widerstand in der DDR möchte man lieben, nicht erneut ankämpfen. Außerdem gibt es doch gar keine Gegenseite mehr. Oder?

Ein Überfall. Den Archivaren ist entgangen, dass sie mir Aktenkopien über Immobilienbewegungen in der DDR ausgehändigt haben. Aufzeichnungen über Verkäufe, zweifelhafte staatliche Vorgänge, politischen Druck, der ausgeübt wurde, um zu Grundstücksaneignungen zu gelangen. Nun haben sie es entdeckt. Überstürzt werde ich aufgefordert, zwei Mitarbeitern zu folgen. Es geht in eine enge Glaskabine, die ansonsten der Überwachung des Lesesaals zu dienen scheint. Hocherregt folgt eine Belehrung. Ich dürfe nichts »verwenden« von dem Gelesenen, keinen der Namen nennen, vor allem nichts über Immobilien. Ich verweise auf meine Bücher über die Friedliche Revolution und über vertriebene Juden der Stadt Leipzig, um Vertrauen herzustellen. Ein langjähriger Leiter des Archivs hat Letzteres positiv rezensiert, die Titel sind ihnen bekannt, scheinen die Bestürzung aber noch zu steigern. Ich muss an Jürgen Fuchs denken, dessen Mitarbeit in der Gauck-Behörde wegen »zu erwartender Veröffentlichungen« und »Indiskretionen sattsam bekannter Art und Weise«11 verhindert werden sollte. Und wie er selbst sich sah mit den Augen der Gegenseite: »Staatsfeind«, »schriftstellernder Dissident«, »Einzelkämpfer«, »einer von denen, die gefährlich waren und vielleicht noch sind«,12 »Menschenrechtler, leidgeprüfter Federfuchser«,13 »selbsternannter Stasijäger von der Straße«14.

Die Atmosphäre in dem Glaskasten bleibt irrational. Ich mache darauf aufmerksam, dass nicht ich verantwortlich sei für Akten, die mir ausgehändigt wurden. Wir kleben in der Vitrine, erstickend für alle, physisch und psychisch, wobei ich offenkundig die weniger Erschrockene bin. Angespannte Menschen. War die Freundlichkeit, Gelöstheit aller Offiziellen nach dem Herbst 1989 tatsächlich nur eine Momentsache? Ein historischer Augenblick, wie es so schön hieß, und jetzt ist nervöse Angst historisch?

Institutionen. Diese deutsche Lehre über Unmöglichkeit.

Als der Himmel am Nachmittag grau wird nach der weißen Sommerglut, hellgrau wie das Archiv, als draußen endlich Wind aufkommt, frage ich am Desk, ob man die Fenster im Lesesaal öffnen könne. Schweigend wird überlegt. Ziemlich lange. Tiefernste Augen sehen mich an. Jemand gestattet eine halbe Stunde Durchzug.

Ich lese mich erneut in Aktenmappen ein, deren Umschläge an Farben alter Klassenzimmer erinnern, verblichen wie abgegriffenes Holz, grünlich wie zerkratzte Wände.

»Erinnerung ist Krankheit, Empfindsamkeit, Pathologie.« Einer der Sätze, die Jürgen Fuchs hinterließ.

Ich schwitze, muss wischen, reiben, ständig, unbeschreiblich.

Rita Jorek, Kunsthistorikerin und Autorenkollegin, bringt mich in Kontakt mit Frau B., einer Koordinatorin in der Jugendamtsleitung Leipzig. Sie und andere Kolleginnen würden den Mangel an Aufarbeitung der Geschichte des Jugendamts beklagen, sagt sie, und wären bereit, mit mir zu sprechen. Journalisten aus alten wie neuen Bundesländern, erfahre ich im darauffolgenden persönlichen Gespräch, stellten ständig Anträge auf Recherchen, ohne Antwort. Zu Adoptionen in der DDR käme mindestens eine Anfrage pro Woche. »Es wird alles abgeblitzt.« Hinter vorgehaltener Hand werde gedeckelt, die Mitarbeiterinnen sprechen von Verdunkelung. Sie fühlen sich alleingelassen. Eine gestaute Situation.

Sie will meine Recherche beim Jugendamtsleiter unterstützen, er könne eine Sondergenehmigung erteilen, erfahre ich. Seit langem erwarten die Mitarbeiterinnen eine rechtliche Begründung für die Abweisungen. Das Rechtsamt sei gefragt, rühre sich jedoch nicht, lehne einfach ab. Ich solle die Amtsleitung mit den eigenen Ansprüchen konfrontieren, Rechtsamt, Pressereferat, nicht lockerlassen.

Eine andere Mitarbeiterin erzählt von Demütigungen damals. Von Fürsorgerinnen wüssten sie, dass abtreibungswillige Frauen vor Kommissionen erscheinen mussten, auch Vergewaltigte wurden gezwungen, Kinder auszutragen, sie seien sogar mit Häme konfrontiert worden, in dem Sinn, sie seien »selber schuld!«.

Sie nennt mir eine Abteilungsleiterin im jetzigen Landesjugendamt Chemnitz, sie habe das meiste Fachwissen nach jahrzehntelanger Praxis in der DDR.

Das Jugendamt befindet sich im Leipziger Stadtteil Plagwitz. Dahingleitende Boote auf dem Kanal, die mittlerweile weltweit bekannte Wollkämmerei mit ihren Künstlern und Lofts. Dagegen die langen Häuserriegel des Amtes in der Naumburger Straße. Kasernenartige Gänge durchziehen das Gebäude. Der leichte Schritt wird langsamer, das, was Neunundachtzig nah schien, fraglicher. Umbrüche, Tempi, Energie, aufgebrochene Zeiten.

Ich schreibe an das Pressereferat, rufe im Landesjugendamt Chemnitz an. Die ehemalige Vertreterin der DDR-Jugendhilfe und heutige Abteilungsleiterin sieht keine Chancen, »Einzelfälle« zu untersuchen, nur in »wissenschaftlicher Verallgemeinerung«. Auch mit Forschungsaufträgen erfolge eine »Bloßlegung« nur in den zurückgenommenen Formen der Wissenschaft.

Was sie sagt, folgt postwendend auf meine Fragen und klingt routiniert.

»Was ist wissenschaftliche Verallgemeinerung ohne Einzelfälle?«, frage ich.

»Adoptionsunterlagen werden am erfolgten Ort aufbewahrt. Das Stadtarchiv besitzt auch Verwaltungsschriftgut. Es kann sein, dass es Einblick gibt. Wenn sie wollen«, betont sie. Eventuell sollten es die Eltern mit mir machen.

Abgeschnurrt, wie auf Knopfdruck. Dann macht sich etwas Luft in ihr.

»Aber Kindeswegnahme! Was denn für Zwangsadoptionen? Zeigen Sie mir mal eine. Nein.« Oft habe die »Jugendhilfe« Bescheide über den Entzug des Sorgerechts geschickt, die Eltern nicht ernstnahmen, das könne auch für Gespräche gelten. Sie will nie unangekündigten Kindesentzug erlebt haben und wird noch bestimmter. »Gucken Sie sich mal die Grausamkeiten des heutigen Rechts an. Wenn es so grausam für die Eltern war, dann hätten die sich ja nach der Wende gemeldet.«

Frau S. hat sich gemeldet. Trotz eines Traumas, das ihr amtlich zugefügt wurde, zog sie drei weitere Kinder groß. Sie alle haben Berufe, keines war in einem Heim. Sie selbst ist das Virulente an ihrem Fall. In ihrer Hintergründigkeit ist jeder einzelne Wartetag aufgehoben. Schlagfertig, sticht sie hervor aus dem erzwungenen Schweigen Anderer, die die Erwartung, sie mögen »sich melden«, wie Hohn anmuten muss.

 

Ich mache dennoch einen Versuch, der »Jugendhelferin« die Vereinsamung von Eltern vor Augen zu führen, die Bedeutung des »Einzelfalles«, der faktisch und seelisch bis heute unaufgelöst bleibt und zur Wissenschaft dazu gehöre. Ich spreche von Angst und gewaltsam erzeugten Schuldgefühlen, von denen sie womöglich umklammert waren oder noch sind, von Problemsituationen, bei denen keine Jugendhilfe half.

»Adoptionsakten dürfen eingesehen werden von dem adoptierten Kind und den Sorgeberechtigten. Die leiblichen Eltern haben kein Einsichtsrecht mehr. Nur im Verwaltungsverfahren StGB 1 und 10. Nach der Adoption hat sich das erledigt«, leiert sie.

Erledigt. Wo habe ich das gehört? »Das hat sich damit erledigt«, bekam Herr K. gesagt, damals, von der Frau im Jugendamt, die »eine Qual« war.

Die Abteilungsleiterin lacht ein altbekanntes Lachen über Zwangsadoptionen.

»Was? Wo sollen die denn sein?«

Das Lachen hat Kraft. Es ist sich sicher, dass niemand es widerlegt, daher der verächtliche Beiklang. Eine Gefahr, sagt es, ist historisch ausgestanden. Es hätte anders kommen können, aber nun ist es so, ein nahtloser, vollrunder Erfolg.

Ich lege auf.

Was sie sagt, ist nicht wahr. Dem Argument, Eltern hätten Benachrichtigungen übersehen oder unbeachtet gelassen, standen Behörden gegenüber, die nicht immer, doch oftmals zu verhärtet auf einflusslose Menschen herabblickten, um sie zu stützen oder auch nur lückenlos zu informieren. Diesbezügliche Akten werden hier immer wieder von amtlichen Versäumnissen sprechen. Während der Erzählung von Herrn K. meinte ich einen Moment lang, er müsse doch wissen, was er in einer so gravierenden Sache wie der Wegnahme seiner Tochter unterschrieben hat, was genau auf dem Papier vor ihm stand, schließlich war es lebensentscheidend. Dann aber holte mich ein bekanntes Gefühl ein. Ich erinnerte mich daran, dass betäubende Umstände und massive Einschüchterung buchstäblich Inhalte und Wahrnehmung auszulöschen vermögen. Was erlebte er bei der Vorladung, die die Trennung von seinem Kind besiegelte? Absoluten Druck und die Erkenntnis, dass er beistandslos vor Menschen saß, die Entscheidungen über ihn, ohne ihn getroffen hatten.

Lautes Lachen also. Und auf der Opferseite Ohnmacht, im Erinnern und im Lebensgefühl der Gegenwart. Thomas Hoppe spricht von der »Zäsur der Lebenswelten, die Menschen, die zu Opfern von Systemunrecht wurden, von jenen trennt, die dieses verantworteten oder solches Handeln stillschweigend akzeptierten. Letzteren gelingt es meist, in und nach Wendezeiten in der unter neuem Vorzeichen entstehenden gesellschaftlichen Realität wieder Fuß zu fassen, sich nicht selten erfolgreich darin zu etablieren, ja den Gang der weiteren Entwicklung womöglich maßgeblich mitzubestimmen und so erneut Verhältnisse entstehen zu lassen, die den eigenen Interessenlagen und Präferenzen günstig sind«.15 Dafür ist die Koryphäe am anderen Ende der Leitung ein kaum prägnanter zu denkendes Beispiel.

Ein unmöglicher Zustand aber ist eingetreten

Ein Kapitel Aktenkunde

Jugend ist nachdenklich und aufgeschlossen. Wir müssen viel mehr in sie hineindringen. Wir müssen viel mehr Wege ausfindig machen, mit scharfer Arbeit einsetzen. Wir müssen diesen Halbwüchsigen, der Jugend des kommenden Krieges, den Boden unter den Füßen wegziehen, auf dem ihre Väter seit Generationen gestanden haben.

Anna Seghers

Das ist dann auch gelungen. Eine erziehende Generation, die ihre Kinder ausspähte, ihr nicht Wege bahnte, sondern »den Boden unter den Füßen« wegzog, sie vereinsamte. Der Text ist 1931 verfasst, stellte ich ungläubig fest, ich hatte ihn sofort auf die DDR bezogen mit der als Vision ausgegebenen Gewalt, der einzuzwingenden Erziehung. Er weckte eine Erinnerung an das Studium an der Berliner Humboldt-Universität, als meine Seminargruppe, im Germanistik-Seminar, gegenüber dem Pergamonmuseum, sich ohne Verabredung, doch einstimmig weigerte, die späten, die »Produktions-Romane« von Anna Seghers zu lesen und dabei blieb, auch als ein Eklat folgte. Widerstand hatte sich bis dahin höchstens passiv und schweigend vollzogen, und als ich einmal aufstand und mich laut dagegen verwahrte, Schülern Hass gegen »Klassenfeinde« einzuimpfen, solidarisierte sich niemand im Rund des Vorlesungssaals. Jetzt aber verlangten alle Literatur und Sprache, nicht abgezwungene proletarische Verherrlichung und dröhnend propagierte »Parteilichkeit«.

Auch Seghers, die »somnambule Trinkerin«, wie Fritz J. Raddatz sie bezeichnete,16 spürte in ihren DDR-Jahren, dass es um die Frage des Lebensreichtums, der ganzheitlichen Entwicklung, die jedem zukommen sollte, nicht heikler hätte bestellt sein können. »Das Vertrauen«, so ein Titel der beiden Werke, die wir nun also geschlossen nicht anrührten, war zu diesem Zeitpunkt verlorengegangen, zum System wie zu ihr. Dafür hätte es Schriftsteller gebraucht, die Verständnis für »die Jugend« und deren Not in Schulen, Fabriken, Heimen »hier und heute« eingefordert hätten, besonders Anna Seghers, nachdem sie ihr poetisches Lied auf »einfache« Menschen in der Karibik gesungen hatte und dafür, wie für »Das siebte Kreuz«, gefeiert worden war.

Wer war sie eigentlich?, so lautete unsere Frage. Die Erwiderung: Diese Gesellschaft hatte nicht vor, auf irgendetwas zu antworten.

Früh entstandene Unaufrichtigkeit führte dazu, dass Vergehen an Menschen wie Frau S., Herrn K. und ihren Kindern bis heute existieren und zugleich auch nicht. Aktenkundige Abläufe dürfen trotz öffentlichen Interesses an Entschlüsselung nicht nachgelesen und öffentlich gemacht werden, was unvermeidlich die Erinnerung an die Ohnmacht der Opfer über viele Jahre hin zurückholt, an eine Irrationalität, die in schizophrenen Systemen herrschte und den Einzelnen blockierte. Die vermeintliche Unverständlichkeit von Menschen im und aus dem Osten, ihr »Rätsel« bis hin zu behaupteter »Zurückgebliebenheit« und »Demokratieunfähigkeit« haben hier eine Wurzel.

Die DDR-»Jugendhilfe« blieb bis 1990 eine Domäne der Volksbildung. Diese strukturelle Andersartigkeit gegenüber bis dahin gültiger wie auch bundesdeutscher Praxis erklärt sich mit einer durchgesetzten sowjet-bolschewistischen Kollektiverziehung, dahinter erst nahm die Jugendwohlfahrt einen dürren Platz ein und blieb im Vergleich mit der finanziell stets großzügig ausgestatteten »ideologischen Arbeit« unterfinanziert.

KPD-Mitglieder, mit denen Machtpositionen nach 1945 besetzt wurden, standen für eine Programmatik von »Umformung« und »Umerziehung«. Was anfangs der Vertreibung des Nazi-Geistes aus kriegstraumatisierten Psychen gegolten haben mochte, zielte über die folgenden Jahrzehnte hinweg auf den ideologisch permanent ungenügenden Menschen an sich, der zum Hauptinteresse von Beobachtungs- und Manipuliersucht wurde.

Dass die gewaltbereite Ideologisierung gerade die Jugend besonders unerbittlich traf, wirkte sich als stetige psychische Anspannung aus, die nicht ohne Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung bleiben konnte. Kein Kind oder Heranwachsender stand gemeinsamen Veranstaltungen oder »kollektiver Jugendarbeit« ursprünglich ohne Interesse gegenüber, viele aber erlebten sie als zu insistierend und unverrückbar politisch dominiert. Die sofortige Androhung des Schulverweises wegen ein paar abgespielten westlichen Musiktiteln bei einem Klassenabend verstörte, ebenso die selbstzufriedenen Berichte von Geschichts- oder Staatsbürgerkundelehrern davon, wie sie mit Schülern verfahren waren, die vor uns gegen immer und immer wieder ihre Gewaltoption betonende Machthaber – und eben nicht Proletarier – aufbegehrt hatten. An der Erweiterten Oberschule, die ich besuchte, veranstaltete der Kulturbund »Ausspracheabende« zu Themen wie »Sind Oberschüler reaktionär?«, verbleiben durfte nur, wer sich »zum gesellschaftlichen Fortschritt bekannte«, was auch für Lehrer galt. Proteste gab es dennoch, persiflierende Losungen in Klassenzimmern, bei Märschen durch die Stadt, denen die Relegierung folgte. »Klassenkampf«, Lenins Revolutionstheorie des unbegrenzten Terrors realisierte sich nicht irgendwo, sondern nebenan, auf Arbeit, in der Schulklasse, überall, dabei propagiert als »einzig wissenschaftliche Weltanschauung«.

Etwas Zerreißendes wartete hier. Natürlich gab es mitunter heitere »Kollektivität«, geschmetterte Lieder, Sommerleichtigkeit, doch auch Zittern um »Kopfnoten«, die »Verhalten« maßen, ein Schulleben lang. Auch ein Kind konnte spüren, dass die drangsalierende Kontrolle Leben, Unbefangenheit, Freude wegfraß. Wir empfanden Mitleid mit der Generation, deren Jugend der Krieg zerstört hatte, so wenn Lehrer im Unterricht in Tränen ausbrachen bei Erzählungen über Kriegserlebnisse und verlorene Angehörige. Parallel aber erlebten wir die von ihnen ausgeübte Gewalt bei Verhaltensabweichungen oder gar Widerstand. Wesentlichen Beziehungen fehlte so Eindeutigkeit. Das Schutzbedürfnis der Kinder blieb unerfüllt, ihr Heimatgefühl fragmentiert.

Heute ist zu erkennen, welche Autoritätskrise sich damit manifestierte. Damals: Ein heimlich schreckender Zugriff. Nicht Vermittlung und inhaltliche Diskussion, sondern Vorherbestimmung eines jeden zum zukünftigen Kämpfer, gar »Revolutionär«.

Wer stand uns da gegenüber? Trotz allen Wortreichtums war das in diesem Alter nicht auszumachen. In den Lesebuchtexten, von denen noch zu sprechen sein wird, bei Appellen, hinter Zeugnisbeurteilungen? Wer wies an, formte? Das authentische Gegenüber fehlte. Auch die unverrückbar »Gerechten« erstarrten zur Abstraktion. »Denn an einem läßt auch unsere Literatur gar keinen Zweifel: Ohne die Überlebenden, die 1945 aus der Illegalität, aus den Konzentrationslagern und aus dem Exil kamen, insbesondere ohne die klassenbewussten Menschen unter ihnen, fehlte unserer Revolution tatsächlich ihre ethisch-politische Legitimation, ja sie hätte wahrscheinlich gar nicht stattfinden können. [...] Andererseits gehört die zentrale Position, die den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes von unseren Schriftstellern von Anfang an eingeräumt wurde, unverzichtbar zu den konstituierenden Faktoren des von der frühen DDR-Literatur entworfenen Menschen- und Gesellschaftsbildes«, so Alfred Klein, »Leiter der Abteilung Geschichte der sozialistischen Literatur (Leipzig) der Akademie der Künste«, 1984, während jeder in der DDR die flächendeckende Beschwerung durch mangelnde Freiheit erfuhr.17

Revolution. Lebenslange Beklommenheit steigt auf bei dem Wort, das mich stets warnte, genau hinzusehen, was darauf in der Wirklichkeit folgte. Und Legitimation! Ohne freie Wahl, freie Wahl zuerst des Denkens, der persönlichen Anschauung. Wer aus dem Klub der selbstermächtigten »Revolutionäre« hätte sich je um Legitimität geschert. Die Rede, gehalten vor dem Rat der Wissenschaften der Akademie der Künste der DDR, zielte, wie so viele, vorbei an den vielbeschworenen »Millionen«. Mit ihnen und nicht oder nicht nur den »Klassenbewussten« hätte Demokratie stattfinden müssen, wenn es je »volksnah« werden, wenn Entwicklung hätte stattfinden sollen. Das alles bedeutete die Unterstellung der Jugendfürsorge unter die »Volksbildung«. Die Funktionalisierung von Kindern durch die sozialistische Erziehung war dabei die weitgehendste Verfehlung. Ihre Würde war in jedem Augenblick antastbar.

Unruhig beobachtet, dann wieder unterstützt von den Archivarinnen, arbeite ich mich weiter vor in aufgespürte Akten. Wohin es welche schriftlichen Hinterlassenschaften nach 1990 verschlagen hat, wie wenig systematisch der Erhalt ist, können auch die Archivarinnen nicht immer sagen, vorwärts geht es nur mit nichts ausschließendem Suchen. Doch dann: Einblicke in die interne Kommunikation und in die Selbsteinschätzung eines Systems. Der Alltag von Jugendhilfe, Heimerziehung, von unterstützungsberechtigten, stattdessen je­doch nicht selten der Willkür unterworfenen Menschen öffnet sich. Bruchstücke intimer, für Kinder und Eltern lebensbestimmender Vorgänge.

In der Optik linker Ideologie sind Sozialismus und soziale Sicherheit bis heute Synonyme. Doch es blieb karg. Schroff. Ärmlich. Auch Jahre nach Kriegsende besteht abwürgende Knappheit weiter, ist Fürsorge schwerlich zu verwirklichen. Bei ausbleibendem Wohlstand der Bevölkerung trifft Sozialabbau besonders Heimerziehung und Pflegekinderwesen. Vehementer Einspruch und die Anmahnung von Menschlichkeit antworten in einem Protestschreiben vom 26.8.1952 auf Richtsätze beim Pflegegeld und bei der Pfändung. Darin wendet sich die Jugendhilfe-Stadtbezirkskommission des 5. Stadtbezirks Leipzig an die bezirkliche Volksbildung und bezeichnet die festgelegten Beträge juristisch wie auch »nach einem gesunden demokratischen Empfinden« als völlig indiskutabel. »Weit schwerwiegender als die rein sachlichen Grundlagen wird hier das demokratische Volksempfinden hintergangen. Abgesehen davon, daß es wohl kaum jemand möglich sein wird, mit diesem Existenz-Minimum auf längere Sicht auszukommen, ist es einem werktätigen Menschen gegenüber völlig unvertretbar, ihn bis auf 90.- DM herunterzupfänden. Diese verantwortungslose Härte muß als Kahlpfändung bezeichnet werden und trägt wohl in keiner Weise dazu bei, die Arbeitsfreudigkeit und Leistungsfähigkeit unserer Menschen zu heben.«18

 

Man bittet um Aufhebung »derartig rigoroser Richtsätze« und stattdessen um »menschlich vertretbare«. Das hiesige Amtsgericht nähme außerdem eine Pfändung unter 117.- DM überhaupt nicht an. Der Pflegegeldanspruch der Pflegeeltern von Gertrud W., Anlernling in der Baumwollspinnerei Mittweida, wird 1955 von 31,50 DM auf fast Null herabgestuft. Zur Begründung teilt die Döbelner Jugendhilfe dem Rat des Bezirkes am 17.3.1955 mit, dass die Pflegeeltern »nie mit etwas zufrieden sind und ihre Pflegetochter in ihren großen Ansprüchen noch unterstützen«.19 Ein politisches Motiv folgt: »Um der Forderung unserer Regierung nachzukommen, Sparsamkeit bei der Verwendung der Mittel walten zu lassen, haben wir uns zur Einsparung des Pflegezuschusses von monatlich 35,00 DM entschlossen und nur eine mntl. Beihilfe von 10,00 DM bewilligt.« Im selben Jahr bestimmt der Entwurf einer Verordnung über die Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf dem Gebiet der Rechte der Kinder die Verpflegungssätze neu. Der Tagessatz für Kinder in Heimen wird von 1,40 auf 1,60 Mark erhöht, der für Jugendliche auf 2,00 Mark.20

Es mangelt an Vergewisserung, ob die Kinder in guten Händen sind, es mangelt an ärztlicher Betreuung, Entwicklungen stagnieren. »Die Hauptabteilung Mutter und Kind, Berlin, hat bei ihren Kontrollreisen wiederholt festgestellt, daß die von ihr überprüften Pflegestellen seit Jahren nicht kontrolliert worden sind. In mehreren Fällen mussten Pflegekinder bei diesen Überprüfungen sofort herausgenommen und anderweitig untergebracht werden bzw. die umgehende Herausnahme veranlaßt werden«, heißt es 1951 in einer Rundverfügung aus dem Ministerium für Gesundheitswesen des Landes Sachsen an die Stadt- und Landkreise.21 Mit der Frage, was zur Beseitigung zuvor festgestellter Mängel im Pflegekinderwesen veranlasst wurde, wendet sich das Ministerium für Volksbildung am 9.2.1955 erneut an den Rat des Bezirkes Leipzig. »Die Angaben der Kreisreferate hinsichtlich der ärztlichen Kontrolle gemäß § 7 der 1. DB vom 9.10.52 sind nach den bisherigen Erfahrungen stark anzuzweifeln. Ferner sind die Ursachen zu erforschen, warum unsere Pflegekinder in ihren schulischen Leistungen zurückbleiben.«22 Laut einer Beschlussvorlage vom 10.2.1955 stellen sich die Leipziger Mitarbeiter von Jugendhilfe und Heimerziehung anstehenden Aufgaben »Zur Überwindung der bestehenden Mängel und Verbesserung unserer gesamten Arbeit«. Unter »1/b)« zählt dazu »eine regelmäßige Unterstützung der westdeutschen Patrioten durch fortlaufenden Briefverkehr mit ihnen und c) durch Geldzuwendungen oder direkte Päckchensendungen«. Auch Erfahrungsaustausch mit westdeutschen Jugendämtern einschließlich Treffen in Leipzig und Westdeutschland, Briefverkehr und brüderliche Hilfe sind zu diesem Zeitpunkt noch vorgesehen. Bitter hierbei der Gedanke, dass DDR-Heimkinder oftmals weder Pakete noch Geld empfangen durften, wie zu belegen sein wird.23

»Ab 1.1.53 werden die zentrale Adoptions- sowie die Prozeßstelle aufgelöst [...], doch wurden der Abt. Mutter und Kind hiermit Aufgaben übertragen, zu deren ordnungsgemäßer Durchführung zunächst jede Fachkenntnis fehlt«24, schreibt der Verwaltungsleiter des Leipziger Dezernats Gesundheitswesen, Mutter und Kind, am 18.12.1952 an das zuständige Ministerium. Hinzu kämen große Rückstände bei den vom Amtsgericht übernommenen Vorgängen. Die Aktenübergabe erfolge spät, es fehlten Arbeitskräfte, das Personal des Amtsgerichts habe »bereits anderweitig Arbeit gefunden. [...] Notwendig ist eingehende und schnellste Schulung aller Kollegen«. Nur wer persönlich bei der Abteilung Mutter und Kind vorspreche, könne mit einer Bearbeitung seines Vorgangs rechnen. Aufgrund von mangelnder Sachkenntnis werde mit Schäden für die Bevölkerung gerechnet.

Reagiert wird damit auf eine brüske Veränderung. Mit der Verordnung über die Übertragung der Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 15.10.1952, nach der fortan die Organe der Jugendhilfe die Aufgaben von Vormundschaftsgerichten übernehmen, tritt eine verhängnisvolle Änderung ein. Mit Gesetz vom 23. Juli 1952 war die Abschaffung der nach 1945 ursprünglich hier und da etablierten Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanzgerichtsbarkeit und kommunalen Selbstverwaltung in Kraft getreten. Fortan unterlag das Handeln der öffentlichen Verwaltung – im Gegensatz zur Bundesrepublik – keiner Kontrolle durch Bürgerinnen und Bürger mehr, wesentliche rechtliche Ansprüche gingen damit verloren und waren nicht länger einklagbar. Nicht Fachkräfte für Arbeit, Jugend und Soziales, sondern die Organe des Volksbildungsministeriums entschieden fortan über Vormundschaften, Heimeinweisungen und Adoptionen. Jugendwohlfahrt wurde zu »Jugendhilfe«. Eines von sich mehrenden Beispielen dafür, dass Ideologie diskussionslos den Vorrang vor fachlicher Kompetenz erlangte.

Verwaltungsgerichtsbarkeit, ein Wort wie ein Steinbrocken, dabei pures Leben. »Konkretisiertes Verfassungsrecht« nennt sie Fritz Werner, 3. Präsident des Bundesverfassungsgerichts, »Schlussstein im Gebäude des Rechtsstaats« Gustav Radbruch.25 In der Bundesrepublik bildete sie bei zunehmendem Wohlstand und genussvoll gelebter Freiheit ein Recht sicherndes, mit der Zeit als selbstverständlich empfundenes staatsbürgerliches Fundament. Hingegen ging in der DDR mit ihrer Abschaffung die Überprüfbarkeit sämtlicher öffentlicher Akte verloren.

Ein Bruch mit mitteleuropäischer Tradition. Moralisch wie wirtschaftlich zerrüttet, etablierte die DDR vor dem Herbst 1989 beim Obersten Gericht eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Justizminister Hans-Joachim Heusinger informierte am 1.7.1989 im SED-Parteiorgan Neues Deutschland, dass am selben Tag das Gesetz über die Nachprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen in Kraft trete. Ein ratsames oder angeratenes Mehr an Demokratie im Hinblick auf mögliche Veränderungen? Oder gefordert von westlicher Seite, von Kreditgebern? Gar die Vorstellung von einem möglichen Ende? Genutzt oder erprobt werden konnte die Veränderung kaum noch. Zudem wurden die besagten Gerichte mit bereits bisher fungierenden Richtern besetzt.

Was hätte Frau S., was hätten Eltern ausrichten können, die nicht einmal eine schriftliche Beschlussübermittlung erhielten, wenn ihr Kind in ein Heim eingewiesen wurde? »›Aus der rechtswidrigen Handhabung der öffentlichen Gewalt entstandene Ansprüche‹ konnten durch den Verzicht auf die von der Novemberrevolution erstrittene Freiheit des Einzelnen nicht geltend gemacht werden«, so Rolf Henrich. »Rudolf Bahro widmete sich dem Nachweis, dass es sich bei der Gesellschaft der DDR um eine seit dem Feudalismus nicht mehr dagewesene ›geschichtete Gesellschaft‹ handelt, eine ›Schichtenfolge mit harten Übergängen, verbunden mit einer entsprechenden Rechtlosigkeit und Ohnmacht der unteren Ränge‹«.26 Und der ungewollten Schichten, ist hinzuzufügen. Wer aus dieser Zeit erinnert nicht hochbeliebte »private« Bäcker, Schneiderinnen, Juweliere, Schreibwarenhändler, die verschwanden im Zuge der Vernichtung von »Selbständigen«, welche angeblich »Kapitalisten« seien. Zwei Millionen von ihnen wurden die Lebensmittelkarten entzogen, Tausende sahen sich politisch motivierten Verfahren mit Zuchthausstrafen und Vermögensentzug ausgesetzt. Unverhohlene Raubzüge des Staates, begleitet von zunehmender Gewalt. Im April 1952 – das Jahr begann mit Buntmetallsammlungen der Bevölkerung für den Neuaufbau Berlins – wurden auf Befehl Stalins die Volkspolizei-Bereitschaften zu einer Armee von 300 000 Mann erweitert, der Kasernierten Volkspolizei.