Der Clan vom Berg

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Ein eigenes Haus und viele Kinder

Während der ersten Ehejahre wohnten Oktavia und Jeremias am Kegelplatz bei Leonie, der Mutter von Jeremias. Auch Bruder Theodor wohnte zeitweise in der unteren Wohnung im selben Haus. Die Wohnung, in der Jeremias bereits seine Kindheit verbracht hatte, setzte sich aus einer Stube, einer Kammer und einer kleinen Küche zusammen. Da es kein fliessendes Wasser gab, musste dieses vom nahen Brunnen geholt werden. Die Trockentoilette befand sich auf einem kleinen Balkon hinter dem Haus. Da Leonie in der grossen Stube schlief, mussten sich Oktavia und Jeremias als Verheiratete mit der kleinen Kammer begnügen, woran sich Oktavia störte. Die klein gewachsene, rundliche Leonie litt an starkem Rheuma und ihre verkrüppelten Gelenke bereiteten ihr starke Schmerzen. Oktavia pflegte ihre Schwiegermutter, hob sie auf den Stuhl und wusch sie im Bad, das sie auf der Rückfahrt ihrer Hochzeitsreise im Warenhaus Loeb in Bern gekauft hatte. Leonies Gesundheitszustand verschlechterte sich zunehmend, bis sie sich kaum mehr bewegen konnte. Im Jahr 1929, drei Jahre nach der Hochzeit von Oktavia und Jeremias, verstarb sie. Die Ausgaben von 260 Franken für das Begräbnis und das Seelenheil, von dem man sich die Erlösung der Sünden und das ewige Heil für die Verstorbene erhoffte, trug Oktavia in ihr Haushaltsbüchlein ein.

Bereits im Jahr nach der Hochzeit setzte bei Oktavia und Jeremias ein wahrer Kindersegen ein. 1927 brachte die 30-jährige Oktavia im Haus am Kegelplatz ein Mädchen namens Hedy zur Welt. Zwei Jahre später folgte das zweite Mädchen, das auf den Namen Marie getauft wurde. Die Angst, dass es nach Hedy und Marie bei Mädchen bleiben würde, war unbegründet, denn 1932 folgte Franz und 1933 René, die beide auch im Haus am Kegelplatz geboren wurden. Hedy erinnert sich, wie sie in ihrem Bettchen in der Stube lag und ihr Onkel Theodor, der auf dem Sessel am anderen Ende der Stube sass, sie mit seinen dunklen Kugelaugen streng anschaute. Sie fürchtete sich so sehr, dass Oktavia ihn schliesslich anwies, dies zu unterlassen. Oktavia störte sich auch zunehmend daran, dass Theodor ohne Arbeit und untätig zu Hause war. Sie gelangte immer mehr zur Einsicht, der arme Jeremias müsse sich zu Tode arbeiten und sein Bruder liege nur auf der faulen Haut. Dass Theodor darüber hinaus nach dem Tod von Leonie seinen Anteil an den Reben nicht dem Bruder, sondern einer Familie im Dorf verkaufte, zu denen sie wegen eines Erbstreits der vorherigen Generation ein gespanntes Verhältnis hatten, verärgerte vor allem Oktavia sehr. So warf sie ihn eines Tages aus dem Haus. Er zog dann nach Brig, wo er zusammen mit einem Partner einen Handel mit Futtermittel aufbaute. 1933 heirateten Frieda und Theodor, 15 Jahre nach ihrer Verlobung und drei Monate nach dem Tod von Friedas Vater. Auf den Wunsch von Friedas Familie hin lebten sie in Gütertrennung. Gemeinsam bezogen sie eine Wohnung bei der Post in Brig. 1934 kam ihre Tochter Stephanie, auch Steffi genannt, zur Welt. In Brig erhielt Frieda eines Tages Besuch von Oktavia, welcher wegen Geldforderungen Oktavias im Streit endete. Von diesem Tag an sahen sich die beiden Frauen nie wieder.

Wegen angeblicher Schummeleien seines Geschäftspartners ging es Theodors Handel mit Futtermittel nach drei Jahren finanziell so schlecht, dass Friedas Familie eine grosse Geldmenge einschiessen musste. Da zog die Familie Luterbacher in Solothurn einen Schlussstrich unter das «Experiment Wallis». Die kleine Familie zog in das zentrumsnahe Elternhaus in Solothurn, unter die Obhut des Luterbacher-Clans, welcher auch dafür sorgte, dass Theodor innerhalb der Ebauches SA, wo Friedas Bruder als Direktor tätig war, auf eine Stelle platziert wurde. Zuvor absolvierte Theodor aber noch eine zweijährige Ausbildung zum Uhreninstrumentenentwickler in einer Schule in Frankreich. Während über 20 Jahren arbeitete er danach bei der an der Ebauches SA beteiligten Firma Technica AG in Grenchen und baute dort eine Forschungsabteilung auf. Gerne an Problemen tüftelnd, konnte er sich aber nur schlecht für seine Ideen einsetzen und verlor die Rechte der von ihm entwickelten Bestandteile mangels Patentierung an andere. Lieber erklärte er seiner Tochter und ihren Klassenkameradinnen und -kameraden Mathematik und half einem in Solothurn wohnhaften Gymnasiallehrer beim Erstellen von Mathematikprüfungen. Obwohl er mit seinem Schwager Max Luterbacher gut auskam, wurde wegen der unterschiedlichen politischen Gesinnungen bei Luterbachers nie politisiert. Während Theodor katholisch-konservativ war, gehörten sowohl Theodors Schwiegervater Josef als auch sein Schwager Max als Unternehmer den Freisinnigen an. Freisinnige und Katholisch-Konservative lebten in getrennten Welten, was sich auch darin äusserte, dass sie bei Wahlen in unterschiedlichen Schulhäusern ihre Wahlcouverts einwarfen. So begleitete Steffi an Wahlsonntagen zuerst ihren Onkel zur Wahlurne, um kurz darauf nochmals mit ihrem Vater mitzugehen. Als Freisinnige blieben Friedas Vater und ihr Bruder der Kirche eher fern. Umso katholischer waren die Frauen, die sehr oft beteten und alles versuchten, um ihre Männer zum katholischen Glauben zu bekehren. Theodor litt unter der dominanten und machtbewussten Schwiegermutter, mit der er unter einem Dach lebte. Auch gegenüber seiner ebenfalls gebieterischen Frau, die viel Wert auf standesgemässes Auftreten und den familiären Ruf legte, musste er sich gefügig zeigen. Als Heimweh-Walliser erzählte er seiner Tochter, die ihn als sehr herzlichen Vater in Erinnerung hat, oft von seiner Jugend im Wallis. Seine Reisen nach Varen unternahm er allerdings immer ohne seine Familie, sodass Steffi ihre Walliser Verwandten gar nicht kannte. Dabei wohnte er bei Leo Roten in Varen oder ferienhalber in einem Hotel im Turtmanntal, wo Jeremias ihn jeweils besuchte. So lernten auch die Kinder in Varen ihren Onkel nicht kennen.


Theodor mit Tochter Steffi (1934).

Mit den vier kleinen Kindern wurde die Wohnung am Kegelplatz langsam zu klein. Im Herbst 1933 begann die Familie am westlichen Ende des Dorfes, wo Jeremias eine Landparzelle geerbt hatte, mit dem Bau eines allein stehenden, etwas von der Dorfstrasse zurückversetzten Hauses. Die Bauarbeiten wurden von Jeremias mithilfe seines Schwagers Theodul und weiteren Arbeitern und Handlangern ausgeführt. Oktavia hielt alle Arbeiten und Ausgaben in ihrem Haushaltsbüchlein fest, fein säuberlich getrennt nach Material- und Personalkosten, wobei sich der Tagessatz für einen Arbeiter auf 5.50 Franken belief. Im Sommer 1934 war der damals noch von Bäumen und Büschen umgebene Bau fertiggestellt. Als die Familie am Ende des Sommers mit Kuh und Wagen von Bodmen zurückkam, wollte Hedy zum alten Haus am Kegelplatz einbiegen. Vater Jeremias wies sie jedoch an, weiter geradeaus zum neuen Haus zu laufen. Die damals sechsjährige Tochter Hedy hatte vom Hausbau somit nichts mitbekommen.


Varen mit dem sich im Bau befindenden Haus in der Mitte des unteren Bildrands (1933).

Die gesamten Kosten des Hausbaus beliefen sich gemäss Haushaltsbüchlein auf 15 150 Franken. Das Haus war durch Oktavias Ersparnisse finanziert worden und bestand aus einem Erdgeschoss mit Keller, wo Hammu [Rohschinken] und Käse aufgereiht gelagert wurden, einem Weinkeller und einer Waschküche. Der an der Hangseite gelegene Hauseingang führte in das ausgebaute erste Stockwerk. Darüber befanden sich zwei im Rohbau belassene Stockwerke. Der grosse Raum unmittelbar oberhalb der Wohnung wurde als Massenlager für die Kinder genutzt. Das unter der Dachschräge gelegene oberste Stockwerk diente nicht nur als Trocknungsraum für die Wäsche, sondern auch als Lagerraum für die bis zu 50 Kilogramm schweren Polenta-, Mehl- oder Zuckersäcke. Auch Früchte, selbst gemachte Hauswürste oder Hammu wurden dort getrocknet.

Das Haus bot nicht nur in Bezug auf die zur Verfügung stehenden Flächen und Räumlichkeiten auf verschiedenen Stockwerken einen ziemlichen Kontrast zur Wohnung am Kegelplatz. Für die damaligen Walliser Wohnverhältnisse, insbesondere in den Bergregionen, war das Haus mit modernen Neuerungen ausgestattet. Es verfügte über fliessendes Wasser, ein Badezimmer mit Toilette und Badewanne und eine Art Zentralheizung mit Radiatoren in den drei Zimmern des ersten Stockwerks. Ein Standard, der bis 1950 im Oberwallis eine Seltenheit war.48 Als Tochter Hedy Anfang der 1940er-Jahre bei einer Familie in Sitten arbeitete und einer anderen Oberwalliser Angestellten erzählte, sie wohne in einem Haus mit Badezimmer, wurde sie prompt als Lügnerin bezeichnet.


Einzug in das neue Haus (1934).

Mit dem in der Küche stehenden Holzofen konnte nicht nur gekocht, sondern auch das Badewasser gewärmt und die Radiatoren geheizt werden. Dazu entfachte man im oberen Teil des Ofens ein Feuer, das mittels Erhitzung der Heizplatte zum Kochen diente. Zog man an einem Haken in der Mitte des Ofens, so öffnete sich der Zwischenboden und das Feuer fiel in den unteren Teil des Ofens, wo es die dort durchlaufende Wasserspirale erhitzte, welche mit dem Badezimmer und den Räumen im ersten Stockwerk verbunden war. Damit konnten entweder das Badewasser gewärmt oder die Heizkörper in den Zimmern temperiert werden.

Der Schlafort der Kinder variierte in Abhängigkeit ihres Alters. In den ersten drei Lebensjahren schliefen sie in einem grossen Bett im Elternschlafzimmer. Danach wechselten sie in das kleine Zimmerchen neben dem Elternschlafzimmer, in dem sich nebeneinander zwei Betten befanden. In jedem dieser Betten schliefen je zwei Kinder, zu Beginn Hedy und Marie beziehungsweise Franz und René, später dann die jüngeren Kinder. Silvie war im Sommer 1934 in Bodmen zur Welt gekommen, kurz vor dem Umzug ins neue Haus. Als erstes Kind wurde Anny im Jahr 1936 im neuen Haus geboren. Von den vier Kindern in den beiden Betten lagen jeweils zwei in die eine und zwei in die andere Richtung. Diese Nähe verlockte die Kinder dazu, den Nächstliegenden zu necken und in den Hintern zu zwicken, sodass Oktavia abends vielfach Einhalt gebieten musste.

 

Familienbild vor dem Hauseingang (um 1935).

Als die Kinder älter wurden, wechselten sie in das obere Stockwerk. Dort hielten sie sich gerne auf, denn sie fühlten sich freier. Mit Ausnahme eines kleinen abgetrennten Zimmers war der Raum offen und bestand aus rohen Hausmauern ohne elektrisches Licht. Das Mobiliar setzte sich aus acht in Reih und Glied angeordneten Betten zusammen. Da den Kindern kein fixes Bett zugeteilt war, schliefen sie einmal im einen, dann im anderen Bett. Im Winter war es dort sehr kalt und es bildeten sich Eiszapfen an den Fenstern. Sie schliefen deshalb in Schafspelzen, die der Vater eingesalzen hatte. Ein Fell legten sie direkt auf die Matratze, ein weiteres Fell und eine Decke sorgten für angenehme Wärme. Im Sommer legten sie die Pelze beiseite.

Zwei oder drei Jahre nach Fertigstellung des neuen Hauses errichteten sie hangseitig hinter dem Haus einen grossen Stall, in dem die Rinder, Kühe und Kälber untergebracht wurden, eine stattliche Scheune und einen direkt angrenzenden kleineren Stall für die Schweine, Geissen und Schafe. Die Möglichkeit der Aufbewahrung grösserer Mengen Heu und Stroh und die Nähe zum Vieh erleichterten das Hirten [Füttern, Pflegen und Melken der Tiere] und verminderten den Aufwand während des Winters, da das Heu weniger häufig von verschiedenen, verstreut liegenden Scheunen zum Vieh transportiert werden musste.

Nachdem sie das erste Heu eingebracht hatten, wässerte Jeremias eines Nachts in den Duden, einem Gebiet in Richtung Leuk, eine Wiese. Weiter oben gegen die Varnerfluh besass die Familie zwei weitere Wiesen. Während des Wässerns sah er in einer dieser Wiesen ein Feuer brennen. Er ging davon aus, dass der Stapel Fallholz brannte, den er dort für den Winter aufgetischt hatte. Jetzt hat er kein Holz mehr für den Winter, sagte er sich. Er ging hoch, um nachzuschauen, fand das Holz aber unversehrt vor und fragte deshalb im Dorf nach, ob jemand in der Gegend ein Feuer gesehen hatte. Niemand konnte ihm dies jedoch bestätigen. Zwei Tage später wollten Franz und René am Nachmittag bei der Scheune mit einem Feuerzeug ein Feuer anzünden. Es regnete leicht und das Feuer brannte nicht so richtig, sodass sie näher zum Gebäude rückten und es erneut versuchten. Das Feuer griff auf die nahe gelegene Scheune über und breitete sich wegen des frisch eingebrachten Heus rasch aus. Die Scheune und der anliegende Stall gingen in Flammen auf und brannten nieder. Für die Familie stellte dies ein schrecklicher Schlag dar. Jeremias sass auf der Treppe vor dem Eingang des Hauses, umringt von den Kindern, und hielt seinen Kopf in den Händen. Statt seine Söhne mit Vorwürfen einzudecken, schaute er nur auf und sagte mit trauriger Stimme zu Franz, er solle schauen, was er gemacht habe. Das war seine einzige Reaktion. Glücklicherweise halfen ihnen Jules Bayard, den die Kinder als Gottu [der Familie nahestehenden Mann] bezeichneten, und Leo Roten, zwei Verwandte väterlicherseits, mit Heu aus, denn der Brand hatte ihnen einen Grossteil ihres Heus für den Winter genommen. Dass er das Feuer in der Nacht zuvor in seiner Wiese brennen sehen hatte, betrachtete Jeremias als Zeichen des bevorstehenden Unglücks.

Familienleben

Hedy, *1927

Im Jahr nach der Hochzeit von Oktavia und Jeremias wird Hedy geboren. Als Erstgeborene muss sie früh viel Verantwortung übernehmen. Sie liest gerne und würde am liebsten eine Bürolehre machen, aber eine Berufsausbildung kommt für sie wegen des zu bezahlenden Lehrgelds nicht infrage. Sie beginnt im Gastgewerbe zu arbeiten, heiratet, zieht nach Montreux und bekommt vier Kinder. Ihr Mann stirbt früh und sie ist sehr froh, dass sie in dieser schwierigen Situation auf ihre Brüder und Schwestern zählen kann.

Ich war am liebsten mit dem Vater in den Reben oder auf dem Feld. Er war ein Flotter, ein Feiner. Mit ihm hatte man die Ruhe. Wir konnten miteinander reden, da war es mir wohl. Mama war immer nervös und müde. Kein Wunder, bei dieser Belastung. Er war eine Art Ausgleich. Zu Hause waren die vielen Kinder, die viele Arbeit. Als Älteste musste ich anpacken. Es hiess, du bist das Erste, du musst dies und du musst das. Überall, wo sie jemanden brauchten, sprang ich ein, das ist ja klar. Spielen war Zeitverlust. Du musstest lernen, du musstest arbeiten, was konntest du anderes machen? Ich liebte es, zu lesen. Für die Mutter war das verlorene Zeit. Darum las ich im Versteckten, im Bad oder sonst wo. Und heute sagt man, die Kinder sollen lesen. Ich ging auch gerne in die Kirche. Da hatte ich wenigstens die Gelegenheit, jemanden ausserhalb der Familie zu sehen. Religion war selbstverständlich. In dieser Zeit musste ich zumindest nicht arbeiten.

Mary, die Zweitgeborene, war das genaue Gegenteil von mir. Sie war lustig und übermütig. Ich durfte nicht. Ich war die Stille und Seriöse. Als Erstgeborene musste ich das Beispiel für die anderen sein, das drillen sie dir ein. Ich konnte es der Mutter auch nicht recht machen, ich war ihr zu wenig aktiv, zu ruhig, glaube ich. Vielleicht ging ich ihr auch speziell auf die Nerven, weil ich nicht aus mir herauskam. Das ist schon möglich, das weiss ich nicht. Tante Anna hatte ein Radio. Sie sagte zu meiner Mutter: «Das müsst ihr auch anschaffen.» Meine Eltern kauften sich noch während des Kriegs ein Radio. Dazu musste aber erst eine Antenne montiert werden. Ich hörte gerne den Radiosender «Die Stimme Amerikas»49. Während des Kriegs wurde dort Propaganda gesendet, und ich interessierte mich für die Informationen. Mary hingegen wollte immer Musik hören.


Als der Krieg losging, waren wir in unserem Maiensäss in Bodmen. Als wir zurück nach Varen kamen, sagte die Mutter zu mir, wir hätten keine Polenta mehr. Wir assen fast jeden Tag Polenta. Ich solle doch in den Konsum welche holen gehen. Dazumal kauften wir ganze Säcke, die wohl um die 50 Kilo schwer waren. Im Konsum sagten sie mir, man könne Polenta nur noch kaufen, wenn man die entsprechenden Coupons erhalten habe. Das war schlimm für uns, denn wir hatten zu wenig Polenta-Coupons, und ohne Polenta konnten wir nicht leben. Da wir Wein produzierten und Bienen hatten, bekamen wir während des Kriegs Extra-Zuckerrationen. Das war allerdings kein normaler Zucker, sondern ein spezieller. Statt ihn für den Wein oder die Bienen zu brauchen, verwendeten wir einen Teil für uns selbst. Die übrig gebliebenen Zucker-Coupons schickte meine Mutter nach Genf zu Leuten, mit denen sie oft Kontakt hatte. Im Gegenzug schickten die Genfer uns ihre Polenta-Coupons. So hatten wir während des Kriegs genug Polenta. Meine Mutter wäre eine gute Geschäftsfrau geworden. In den späten Kriegsjahren nahmen sie abgetrennte Coupons im Konsum nicht mehr an, da sie wussten, dass sie von woanders herstammten. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt und empfand das als grosse Ungerechtigkeit. Der Übername unserer Familie, di Gfrornu [die Gefrorenen], stammt auch aus dieser Zeit. Während eines Frühjahrs gefroren Reben und Fruchtbäume, sodass Entschädigungen bezahlt wurden, damit die Bauern überleben konnten. Da wir viele Kinder waren und relativ viele Reben und viel Gut besassen, erhielten wir auch eine entsprechende Entschädigung. Das rief Neid hervor. Ich nahm es auf jeden Fall so wahr. Seither sind wir di Gfrornu im Dorf.

Den Krieg nahmen wir nur indirekt wahr. Als Flugzeuge abends den Himmel Richtung Süden passierten, sagte der Vater: «Schau, jetzt sind die Flieger ganz schwer. Wenn sie in der Nacht oder am nächsten Morgen zurückkommen, sind sie dann ganz leicht.» Und in der Tat, am nächsten Morgen überflogen die Flugzeuge das Wallis ohne Ladung. In der Zeitung stand dann, sie hätten diese oder jene Gegend bombardiert. Am Abend hiess es auch immer, man solle die Fenster verdunkeln. Am Himmel hörte man das Surren der Flieger. Da mein Vater keinen Militärdienst geleistet hatte, wurde er während des Zweiten Weltkriegs nicht eingezogen. Wie oft half er anderen Frauen, deren Männer eingezogen wurden oder die ihren Mann verloren hatten! Er ging mähen und half, das Heu in die Schiir [Scheune] einzubringen. Der Vater sagte oft: «Helft einander». Das haben wir gemacht, alle. Um die Produktion anzukurbeln, wurden die Waren während des Kriegs etwas besser bezahlt. Man erhielt mehr Geld, wenn man Wein oder ein Tier verkaufte. So ging es den Leuten auch mit Selbstversorgung allmählich etwas besser. Nach dem Krieg sagte die Mutter: «Jetzt geht es dann wieder zurück mit den Preisen.» Sie gingen aber nie mehr anhaltend zurück. Nach dem Krieg verbesserte sich das Leben im ganzen Land.

Ganz früher hatten wir wenig Kontakt zu den anderen im Dorf. Wir waren ja selbst eine grosse Familie. Jede Familie war für sich. Als Kind lernte ich: Du darfst nichts erzählen. Was in der Familie passiert, das geht die anderen nichts an. Jeder musste für sich schauen, sonst ging man unter. Wenn das Misère [Unglück] da ist, dann schaut jeder zuerst für sich. Das ist normal. Und wenn alle genug haben, dann kannst du teilen. Verstehst du? Das kannst du nicht anders machen. Du schaust für dich, du musst, sonst überlebst du nicht.

Mit den Verwandten hatten wir Kontakt. Die Buben arbeiteten manchmal für Onkel Theodul, den Bruder meiner Mutter. Tante Serafine, die Schwester meiner Mutter, sahen wir oft. Wir halfen einander. Sie half uns beim Rebenbinden und wir gingen ihr Heuen. Wir gingen auch oft zu Tante Serafine und tauschten uns mit ihr aus. Ich weinte mich auch hin und wieder bei ihr aus, wenn ich grossen Kummer hatte. Oder ich ging zu meiner Lieblingskuh, dem Hasu, einer weissen Kuh mit geraden Hörnern. Schon als kleines Mädchen durfte ich den Hasu führen, wenn wir mit dem Vater aufs Feld gingen. Die Kuh war immer da, wenn wir sie brauchten. Sie gehörte zur Familie, sie teilte Freud und Leid mit uns. Nach getaner Feldarbeit hirtete ich sie. Ich war dadurch oft mit ihr alleine, was ich sehr schätzte. Einmal gingen Mary und ich sie hüten und sagten zueinander, dass wir doch auch auf ihr reiten könnten. Gesagt, getan. Ich führte die Kuh gegen eine Mauer, Mary stieg auf und wir liefen gemeinsam ein Stück. Da bekam ich Angst und sagte zu ihr, sie solle heruntersteigen. Als wir abends nach Hause zurückkehrten, gab es ein Donnerwetter. Jemand hatte uns beobachtet und es dem Vater erzählt. Man könne auf einer Kuh nicht reiten, dafür seien die Pferde da, so sagte er. Um Heu von der Scheune in den Pflanowinien nach Varen zu transportieren, musste man entweder das Heu selbst tragen oder ein Pferd mieten. Aufgrund unseres Experiments kam der Vater jedoch auf die Idee, dass die Kuh, wenn sie ein Kind tragen könne, auch Heu müsse tragen können. So versuchte er es, und in der Tat trug der Hasu das Heu hoch nach Varen. Das kam sehr gelegen, denn es war Krieg und die Pferde waren für das Militär eingezogen worden. Später schleppte der Hasu sogar Baumaterialien und Zementsäcke von Birchen hoch in die Weid, als der Vater dort umbaute, um die Küche mit dem Zimmer zu verbinden. Als der Hasu alt war, ging der Vater mit ihm nach Leuk auf den Markt. Mir tat das Herz weh und ich hoffte, er könne ihn nicht verkaufen. Vater kam jedoch alleine zurück und ich war todunglücklich.

Später arbeitete ich bei Tante Anna, einer weiteren Schwester meiner Mutter, kurz vor ihrem Tod. Als ihre drei Kinder noch ganz klein waren, starb Anna an Magenkrebs. Während der Krankheit half ich ihr und machte die Haushaltung. Auch bei Kriegsende war ich noch bei ihr. Überall läuteten die Glocken. Das weiss ich noch gut, alle freuten sich, jetzt ist Frieden, der Krieg ist fertig. Als Anna dann starb, kehrte ich wieder nach Hause zurück. Ich sah Annas Mann Pius viel später einmal, da konnte er schon fast nicht mehr laufen. «Du hast mir doch dazumal geholfen», meinte er, «als ds’Anny krank war. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, weil ich dich zu wenig entlohnt habe.» Ich erwiderte: «Das ist apa [wahrscheinlich] schon richtig gewesen.» Aber es stimmt schon, er gab mir nichts. Und ich erinnere mich, dass auch der Vater sagte, das sei eigentlich schon haarig, da gebe man das Mädchen und erhalte nicht einmal ein Merci. Mir war das egal, ich brauchte ja auch nichts. Man muss aber schon sagen, im Dorf hatte niemand Geld, ausser denjenigen, die in der Alusuisse in Chippis arbeiteten. Das Leben hat sich so geändert seither. Die Leute früher haben alle so gelebt, während Jahrhunderten. Alle Annehmlichkeiten des heutigen Lebens gab es dazumal nicht.

 

Man hatte noch keine Sekundarschule dazumal. René war der Erste, der nach sechs Jahren Primarschule dorthin ging, nachdem sie Mitte der Vierzigerjahre in Leuk die Schule aufgemacht hatten. Ich musste stattdessen drei Jahre in die gleiche Klasse. Den Grund hierfür weiss ich nicht. Der Vater sagte, das gehe doch nicht. So haben sie mich abgemeldet. Meine Tante Marie, die Klosterfrau in Ingenbohl, sagte: «Schick sie mir doch, ich nehme sie schon.» Sie arbeitete dort als Lehrerin. Dann wohnte ich in zwei verschiedenen Familien in Brunnen und Ingenbohl und musste von Brunnen hinauf zur Schule laufen. Als ich manchmal bei Tante Marie übernachtete, machte sie immer die Läden zu. Ich war nicht offiziell bei ihr. Ich war nicht gerne dort, denn gelernt habe ich nichts. Am Schluss hat sie mir aber nur Einser ins Notenbüchlein geschrieben. Das war dazumal die beste Note.

Die Mutter wollte, dass alle Kinder, auch die Mädchen, etwas Richtiges lernen. Dass Mädchen eine Lehre machten, war in Varen zu jener Zeit nicht häufig der Fall. Im Dorf sagten sie, da habe man zu Hause so viel zu tun, da gebe man doch die Mädchen nicht weg. Aber meiner Mutter war das wichtig. Es war sie und nicht der Vater, die wollte, dass wir in die Fremde gingen. Das ist ihr hoch anzurechnen. Ich hätte gerne im Büro gearbeitet. Da ging ich nach Siders in ein Büro und fragte, ob ich dort die Lehre machen könne. Sie sagten mir, das sei möglich, ich müsse aber einen gewissen Betrag pro Monat dafür bezahlen. Kannst du dir das vorstellen, Geld zu bezahlen, ich als Erstgeborene! Da gab ich die Idee wieder auf. Ich bin die Einzige ohne Lehre, mit Ausnahme von Markus machten alle eine Ausbildung. Die Mutter hätte es mir bezahlt, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ihr das zu sagen, verstehst du. Onkel Pius meinte, ich hätte Lehrerin werden sollen, ich war gut in der Schule.

Als das mit der Büroarbeit nicht klappte, ging ich in die Stellen, ich ging servieren. Das war das Einzige, das man ohne Lehre machen konnte. Zuvor arbeitete ich aber noch in Sitten bei einer Familie mit vier Kindern, um Französisch zu lernen. Da war ich 16 Jahre alt. Dort verdiente ich 35 Franken im Monat. Die Mutter meinte, für die viele Arbeit von morgens bis abends sei das doch etwas zu wenig. Das sagte ich der Patronne [Chefin], die mir prompt den Lohn auf 40 Franken erhöhte. Das Jahr beendete ich aber trotzdem nicht, denn der Vater sagte: «Komm’ doch nach Hause, wir haben hier Arbeit für dich.»

Die erste richtige Stelle trat ich im Tearoom Singerhaus am Basler Marktplatz an. Kurz nach dem Krieg servierte ich dort Patisserie. Die Grenzen waren aufgegangen und die Leute aus Mulhouse strömten herbei. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel Patisserie die assen, tellerweise verkaufte ich. C’était incroyable! [Das war unglaublich!] Das war etwas Spezielles für die, die hatten doch jahrelang keine mehr gegessen. Später fragte ich die Patronne, ob ich nicht nur Patisserie verkaufen, sondern auch Kaffee servieren könne. Da durfte ich servieren. Als ich 20 war, machte ich im Hotel St. Georges in Montana zwei Jahre lang den Saal. Franz und Mary arbeiteten im selben Hotel. Nach Montana war ich in Siders im Hôtel Bellevue. Danach in Zermatt im Hotel Seilerhaus, dort servierte ich auch Essen. So bin ich immer ein bisschen aufgestiegen. In Zermatt waren es Saisonstellen, da war ich zwei oder drei Mal. Ich erinnere mich, dass ich dort Fisch ausnehmen musste. Das hatte ich aber vorher noch nie gemacht. Der Patron [Chef] machte mir anschliessend ein Kompliment. Ich dachte, wenn der wüsste, dass ich das erste Mal Fisch ausgenommen hatte. Meine Mutter sagte immer: «Du musst mit den Augen lernen. Schauen.»

Danach war ich zwei Jahre im Restaurant Walliserkeller in Bern, da ich gehört hatte, dass es dort gute Arbeitsstellen gibt. Ich erhielt zwar keinen Lohn und das Zimmer musste ich selbst organisieren. Das Trinkgeld war aber grosszügig und so verdiente ich trotzdem relativ gut. Ich behielt nie einen Rappen selbst, sondern schickte immer alles heim. Da muss ich meiner Mutter ein Kompliment machen. Meine Eltern benötigten das Geld zwar, aber die Mutter legte immer einen Teil auf die Seite. An meiner Hochzeit gab sie mir ein Bankbüchlein. Das fand ich nett.

Ich wollte nach England gehen, um Englisch zu lernen. Da es in Zermatt viele englischsprachige Gäste gab, musste man dort Englisch sprechen. Meine Mutter machte aber ein Drama. Sie wollte nicht, dass ich weggehe. Sie sagte, es gebe eine Englischschule in Oertlimatt bei Interlaken, ich solle dort Englisch lernen, mein Bruder Franz gehe auch dorthin. «Du gehst nicht nach England, das ist überhaupt nichts.» So besuchte ich diese Schule in Interlaken. Es fuchste mich jedoch, dass ich nicht nach England gegangen war, denn sie hatten mir dort schon eine Stelle zugesichert, die ich absagen musste. In Interlaken lernte ich meinen Mann Désiré kennen, ein Wink des Schicksals. Danach bereute ich es nicht mehr. Er lernte Englisch, weil er nach Kanada wollte, um dort zu arbeiten. Weil er anschliessend aber in Zürich arbeitete, nahm ich eine Stelle in Bern an. Dort war ich in der Mitte zwischen seinem Arbeits- und seinem Heimatort Montreux. Auf dem Weg nach Hause kam er mich in Bern besuchen. Später fand er eine Stelle in Yverdon und wollte mich in seiner Nähe haben. Aber das war mir ein bisschen zu nahe, denn dazumal musste man aufpassen, wenn man zusammen war. Darum ging ich nach Genf, nicht allzu nahe, dann nach Lausanne. Immer ein bisschen näher. Dann heirateten wir. Bon, voilà.

Früher heiratete man in Varen im Deuxpièces in Schwarz. Ich wollte aber unbedingt in Weiss heiraten. Ich war die Erste im Dorf. Danach heirateten die anderen auch in Weiss. Dasselbe war mit den Hüten, die die Mädchen und Frauen zu jener Zeit am Sonntag immer tragen mussten, wenn sie zur Messe gingen. Ich arbeitete in Sitten und hatte gesehen, dass sie dort keinen Hut trugen. Ich hasste den Hut. So ging ich ohne Hut zur Messe. Das war skandalös. Meine Mutter schämte sich und ging stattdessen in die Frühmesse. Das nächste Mal, als ich in Varen zur Messe ging, waren schon drei ohne Hut. Beim dritten Mal hatte kein Mädchen mehr einen Hut auf. Ich war halt weg gewesen und hatte gesehen, dass es anders sein konnte.

Anfang der Sechzigerjahre baute uns mein Bruder Alfons in Montreux das neue Haus. Kaum aus der Maurerlehre war er, stell dir das einmal vor. Er hatte einen Handlanger, der den Zement mischte und anrührte. Auch die Brüder Arnold und Markus kamen manchmal am Samstag helfen. Zwei Sommer lang dauerten die Bauarbeiten. Nach dem ersten Sommer war der erste Stock fertig. Dazwischen machte Alfons in St. Gallen die Ausbildung zum Polier. Und wie er das gebaut hat, das ist so ein gutes Haus. Wir hatten zum Glück einen guten Architekten. Mein Mann hatte gerne moderne Architektur, es ist ein modernes Haus. Mary, Anny und auch Franz liehen uns Geld. Jeder gab so viel, wie er konnte. Darum mussten wir weniger Geld aufnehmen. Der Zins war dazumal sehr hoch.


Hedys Haus in Montreux kurz nach der Fertigstellung (undatierte Aufnahme).

Als Désiré kurz nach Abschluss der Bauarbeiten starb, da hatte ich nie Angst. Er kam bei einem Unfall mit Starkstrom am Arbeitsplatz ums Leben. Der Strom war nicht abgestellt, als er etwas flicken wollte. Daniel, das jüngste unserer vier Kinder, war dazumal zwei Jahre alt. Auch meine beiden Grossväter starben früh. Das liegt in der Familie, das frühe Sterben der Väter. Ich hatte immer Angst, dass dies weitergeht, dass die Väter sterben, wenn ihre Kinder noch ganz klein sind. Auch meine Schwiegermutter verlor ihren Mann früh wegen einer Krankheit. Zu jener Zeit hatten sie jedoch noch keine Versicherung. Désiré hatte zum grossen Glück Versicherungen abgeschlossen. So hatte ich auch als Hausfrau und Mutter mein Auskommen. Du weisst nicht, wie froh ich drum war.

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