Alpendohle

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Goebbels hielt noch mehr als einen Tag die Stellung, bevor er dem neuen Reichspräsidenten Dönitz von Hitlers Selbstmord berichtete. Am Abend vergiftete dann seine Frau Magda die gemeinsamen sechs Kinder und beging mit ihm zusammen Selbstmord. Auch sie wurden mit ihren Kindern im Garten verbrannt. Trotz noch andauernder Kämpfe verschiedener Truppenverbände kann man sagen, dass der Krieg ab diesem Zeitpunkt de facto vorbei war. Als die Russen den Bunker einnahmen, befand sich dort nur noch der Haustechniker Johannes Hentschel, der die Wasserpumpe für das Lazarett in Betrieb hielt.

Natürlich gab es im Laufe der Zeit immer wieder Gerüchte, dass der Führer überlebt haben könnte. So sahen ihn Verschwörungstheoretiker gemeinsam mit Reitsch und Greim ausfliegen und ein U-Boot nach Südamerika besteigen. Aber spätestens seit Mitte der Neunzigerjahre sind diese Spekulationen verstummt, weil die Russen den Zugang zu den sowjetischen Geheimdienstarchiven ermöglichten.“

„Was heißt das genau?“ Torben schaute bei der Frage kurz von seinen Notizen auf und rieb sich die vom Mitschreiben schmerzende Hand.

„Die militärische Spionageeinheit Smersch – was übrigens vollständig ‚Smert’ špiona‘ also ‚Tod den Spionen‘ bedeutet – der 3. Stoßarmee unter Leitung von Oberstleutnant Ivan Klimenko hatte bereits am 2. Mai 1945 den Garten der alten Reichskanzlei betreten. Dort fanden sie zuerst die Überreste der Eheleute Goebbels, dann die Kinderleichen und den Körper des letzten Generalstabschefs der Wehrmacht, Hans Krebs, der sich kurz zuvor wegen der gescheiterten Kapitulationsverhandlungen ebenfalls das Leben genommen hatte. Die Identifizierung der Leichname erfolgte vor Ort durch gefangen genommene Zeugen. Hinkefuß Goebbels war ja auch, schon anatomisch betrachtet, leicht zu erkennen.

Das Ehepaar Hitler wurde am 5. Mai durch einen einfachen Soldaten gefunden, aber zunächst wieder begraben, da man den Leichnam des Führer-Doppelgängers, Gustav Weler, in der Nähe der neuen Reichskanzlei aufgefunden hatte und ihn zunächst für Hitler hielt. Weler wurde jedoch als solcher identifiziert und die Grabstelle Hitlers durch Zeugenaussagen bekannt, die übrigens zum Teil durch Folter erpresst wurden. Bei der erneuten Öffnung des Grabes am selben Tag wurden dann auch ein Medaillon, Bargeld und die beiden Hunde gefunden. Die Leichen des Führerehepaars wurden durch eine eigens eingesetzte Kommission obduziert und gerichtsmedizinische Expertisen erstellt, die ich im Rahmen meiner eigenen Forschungen selbstverständlich eingesehen habe. Mithilfe von Röntgenaufnahmen sowie Protokollen zu Zahnbehandlungen und Prothesen wurde Hitler zweifelsfrei identifiziert, nicht zuletzt dadurch, weil er nur einen Hoden hatte.“

Torben blickte erneut von seinem Notizbuch auf. „Einen Hoden?“

„Ja, einen Hoden“, wiederholte der Professor.

„Ich weiß schon, deshalb schreiben Menschen wie Sie Bücher, oder?“ Torben lachte. „Aber ich wollte Sie nicht schon wieder unterbrechen. Bitte sprechen Sie weiter.“

„Das ist schon in Ordnung. Stellen Sie Ihre Fragen am besten immer sofort!“, merkte der Professor an.

„Also, bei der Verlegung des Smersch-Stabes wenige Tage später wurden die Leichen des Ehepaars Hitler, der Familie Goebbels, des Krebs und der Hunde in mehreren Munitionskisten mitgenommen und auf dem Gelände der neuen Garnison in Finow vergraben. Diese Praxis setzte sich in gleicher Weise bei jeder weiteren Verlegung der Truppen so fort – Hitler wurde also mehrfach bestattet. Bei einer dieser Umbettungen ließ Stalin danach unter anderem Hitlers Kieferknochen nach Moskau bringen, um den Zahnstatus erneut zu untersuchen. Es besteht für mich kein Zweifel: Adolf Hitler ist tot!“

Er machte eine Pause, um diese Aussage auf Torben wirken zu lassen, ehe er fortsetzte: „Als sich die Truppe im Januar 1946 in Magdeburg an der Elbe, einhundertvierzig Kilometer östlich von Berlin, endgültig niederließ, fanden die Überreste der elf Verstorbenen zumindest für vierundzwanzig Jahre dort ihre letzte Ruhestätte. Sie wurden im Hinterhof der Westendstraße 36 in Magdeburg beigesetzt, wo die Smersch-Abteilung einquartiert wurde. Eine Adresse, die jeder Historiker und auch Neonazi in Deutschland kennt oder kennen sollte.

Als die Grundstücke der Garnison im Jahre 1970 der DDR wieder übergeben werden sollten, entschied der damalige KGB-Chef Juri Andropow mit Zustimmung von Breschnew, die Überreste der Leichen zu verbrennen, um eine Entdeckung der Gräber zu vermeiden. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden die Körper, oder besser, was davon noch übrig war, Anfang April streng konspirativ exhumiert, auf einen Lkw verladen, auf einem Truppenübungsplatz verbrannt und die Reste danach westlich von Magdeburg von der sogenannten Schweinebrücke in die Ehle gestreut.“

Auf dem Gesicht des Professors zeichnete sich, während er weitersprach, ein sarkastisches Lächeln ab. „Adolf Hitler hatte immer von einer für seine Person angemessenen Ruhestätte geträumt. Sein Wunsch war es, in einem goldenen und mit Edelsteinen verzierten Sarg in einer anderthalb Kilometer langen und mehrere Hundert Meter hohen Gruft in Linz beerdigt zu werden. Letztendlich als eine Handvoll Asche von einer Schweinebrücke in einen Fluss geschüttet zu werden, kann wohl gegensätzlicher nicht sein.

Nur der Vollständigkeit halber – denn da bin ich meinem Berufsstand noch verpflichtet – muss ich erwähnen, dass die Russen bei der letzten Exhumierung vielleicht nicht sehr gründlich waren. Bei Schachtarbeiten für den Bau einer Garage auf dem Gelände der Westendstraße 36 oder besser Klausenerstraße, wie sie jetzt heißt, wurden zu einem späteren Zeitpunkt immer noch menschliche Knochen gefunden.“

Meinert stöhnte auf. „Puh, jetzt haben Sie ein ganzes Semester Geschichte des Nationalsozialismus in einem Crashkurs vermittelt bekommen! Falls Sie das gerade Gehörte auch nur so ungefähr wiedergeben können, würden Sie sogar die Prüfung bestehen!“

„Vielen Dank, George!“ Torben musste schon wieder lachen. Er genoss es, den Erzählungen von Professor Meinert zuzuhören. „Habe ich dann einen Bachelor- oder einen Master-Abschluss? – Aber im Ernst: Wenn ich Sie recht verstanden habe, passen die Schilderungen Reihers genau in den zeitlichen Ablauf der Ereignisse.“

„Also erstens: Zu einem Vordiplom könnte ich mich gerade noch durchringen, zu mehr aber nicht! Bei mir sind – im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen – akademische Grade nicht so leicht zu erlangen! Und zweitens: Sie haben recht! Und nicht nur das, ich halte es für einen Laien – ohne Einsicht der historischen Dokumente, die ja fünfzig Jahre unter Verschluss waren – für nahezu unmöglich, die von mir geschilderten Ereignisse so detailliert in Erfahrung zu bringen“, bestätigte ein ebenfalls gut gelaunter Professor.

„Meiner Meinung nach war Reiher tatsächlich im Führerbunker und Bormann hat dafür gesorgt, dass es nicht bekannt wurde“, fuhr er fort. „Und da Reiher in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat, besteht auch kein Grund für uns, seine Aussagen anzuzweifeln, die seine damaligen Befehle oder das Treffen mit Ihrem Großvater betreffen. Außerdem bestätigt Ihre Mutter, dass sich beide kannten. Ein Kriminalist würde sagen, die Aussagen Reihers sind glaubhaft und werden durch andere Beweise gestützt, was uns jetzt zu Ihrem Großvater zurückbringt.

Wir können – da bin ich mir sicher – davon ausgehen, dass er wirklich direkt von Adolf Hitler einen Befehl erhielt. Die Widmung im Buch bestätigt das. Was könnte es aber gewesen sein? Hitler spricht von der ‚Zukunft des Großdeutschen Reiches‘, die in den ‚Händen‘ Ihres Großvaters liegt. Das ist selbstverständlich nur eine Metapher. Ich vermute, dass Ihr Großvater eine wichtige Nachricht, einen Befehl oder einen Gegenstand zustellen sollte. Letzte Befehle zum weiteren Kriegsverlauf konnten es eigentlich nicht sein, denn seine beiden Testamente verblieben im Bunker. Seine Nachfolge war geregelt. Seine Ehefrau, von der er Abschied hätte nehmen können, starb mit ihm. Was sollte also den Russen nicht in die Hände fallen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht!“ Professor Meinert schien unzufrieden mit sich. „Es gibt – das versichere ich Ihnen – weder in Dokumenten noch in Zeugenaussagen der Bunkerinsassen Hinweise auf einen letzten Geheimbefehl! Hunderte Historiker vor uns haben alle Unterlagen bis ins Kleinste gesichtet, ohne ein Anzeichen dafür zu finden!

Hitler schreibt in der Widmung weiter, dass er tief in der Schuld ihres Großvaters steht. Ich interpretiere das Eingeständnis so, dass er vermutlich um die Gefahr des Auftrags wusste. Ansonsten habe ich aber nicht die geringste Vorstellung, was damit gemeint sein kann! Wenn Sie mich fragen, haben wir nur eine Chance, wir müssen die Spur, auf die uns Reiher gestoßen hat, weiterverfolgen.“

Torben, der sich gerade erneut einen Vermerk machte, stimmte seinem neuen Lehrer innerlich zu, der längst wieder weitersprach, da ihn das Thema zu sehr gefangen nahm.

„Bormann war Hitlers Sekretär. Er ließ Hitler in den Stunden vor seinem Tod nicht aus den Augen und hätte es sicherlich um nichts auf der Welt versäumt, die letzten Anweisungen oder Befehle Hitlers für die Nachwelt zu dokumentieren. Er muss etwas erfahren haben! Und er wollte diese Entdeckung bestimmt erhalten wissen. Was wäre, wenn er versucht hätte, den beiden mächtigsten Männern Nazideutschlands nach Hitler und Goebbels eine Nachricht über die letzte Anweisung des Führers zukommen zu lassen? Göring und Himmler! Gut, sie waren kurz vor Hitlers Tod ihrer Titel und Ränge enthoben worden, aber einflussreich und mächtig waren sie noch immer, und vor allem waren sie nicht in Berlin eingeschlossen!

Es ergab durchaus Sinn, Reiher nach Carinhall im Norden von Brandenburg zu schicken. Vermutlich ging Bormann davon aus, dort noch getreue Anhänger von Hermann Göring zu finden, die ihm auf nur ihnen bekannten Wegen eine Botschaft oder einen Gegenstand zukommen lassen könnten.

 

Carinhall diente Göring als Landsitz, auf dem er häufig ausländische Staatsgäste empfing und mit ihnen in der Schorfheide jagte. Der Name des Anwesens bezieht sich auf seine erste schwedische Frau, die er nach ihrem Tod mit einem Staatsakt nach Deutschland überführen und in einer Gruft auf dem Gelände von Carinhall beisetzen ließ.

Göring war nicht nur für die Gründung der Gestapo, die Errichtung der ersten Konzentrationslager oder für die Endlösung der Judenfrage verantwortlich. In Carinhall ließ er auch eine riesige Kunstsammlung von unschätzbarem Wert anhäufen, die fast ausschließlich aus Raub- und Beutekunst aus ganz Europa stammte. Den größten Teil der Kunstgegenstände lagerte er schon 1943 in einem Salzbergwerk in der Steiermark ein, wo er später von den Alliierten gefunden wurde. Den Rest der Sammlung schaffte er im Januar 1945 nach Berchtesgaden und stellte ihn in Luftschutzbunkern unter. Göring war Anfang Mai also noch im Besitz eines riesigen Privatvermögens. Allerdings hatte er ja Berlin, wie bereits gesagt, am 20. April 1945 den Rücken gekehrt. Bormann musste davon ausgehen, dass Göring wie üblich auf dem Anwesen Soldaten zurückgelassen hatte. Vermutlich wusste er aber nicht, dass dieser Trupp der Luftwaffe Carinhall auf Görings Weisung, um es nicht in die Hände der Roten Armee fallen zu lassen, bereits am 28. April 1945 gesprengt hatte.

Reiher hat also instinktiv richtig gehandelt, sich in Richtung Dammsmühle zu wenden. Außer den Postenhäuschen und den Unterkünften für die Wachmannschaft hätte er in Carinhall nichts vorgefunden.

Aber bleiben wir noch kurz bei Göring. Sein Handeln, sich selbst als neuen Führer auszurufen, hatte ja dazu geführt, dass er wegen Hochverrats auf dem Obersalzberg festsaß. Als aber bekannt wurde, dass Hitler tot war, ließ ihn die SS unverzüglich frei. Das bestätigt, dass auch noch andere Kräfte neben Bormann in Göring den nächsten starken Hoffnungsträger Deutschlands sahen. Er stellte sich – aus Angst vor den Russen – aber am 9. Mai 1945 der 7. US-Armee. Er wurde in Nürnberg zum Tode verurteilt, nahm sich jedoch in der Nacht vor seiner Hinrichtung im Oktober 1946 mit einer Zyankalikapsel selbst das Leben.“

Der Professor machte eine kurze Pause, weil er bemerkte, dass Torben mit seinen Notizen wieder nicht hinterherkam. Als es sicher war, dass er weitermachen konnte, stellte er die Frage: „Und was wurde aus Carinhall? – Vor ein paar Jahren hat man noch eine kleine erhaltene Bunkeranlage mit ein paar Kunstgegenständen ausgegraben. Ich habe das Anwesen mehrfach mit Studenten besucht. Der Bunker wurde zur Beherbergung von Fledermäusen ausgebaut. Die restlichen Nebengebäude sind inzwischen Baudenkmäler. Die einzig erhaltende Statue, die Kämpfende Amazone von Franz von Stuck, die westlich des ursprünglichen Hauptflügels stand, wurde nach Eberswalde gebracht. Auch diese Spur ist kalt. Meiner Meinung nach bleibt uns ebenso wie Reiher nur die Dammsmühle Heinrich Himmlers, um unsere Suche in der Hoffnung fortzusetzen, dort einen Hinweis zu finden.“

Damit beendete der Professor seine Ausführungen und sah Torben erwartungsvoll an. Wie auf Stichwort hob auch Gertrud, die bis dahin ein kleines Schläfchen in der Frühlingssonne gehalten hatte, ihren Kopf und blickte ebenfalls in Torbens Richtung.

Torben, schon längst von dieser Idee überzeugt, schlug sein Notizbuch zu, zwinkerte in Gertruds Richtung und antwortete: „Was soll ich da noch sagen? Offensichtlich werde ich – falls ich ablehne – sowieso überstimmt!“

„Sehr gut, mein lieber Freund!“, rief der Professor begeistert. „Und da bekanntlich Zeit Geld ist oder flieht, wie der Lateiner mit tempus fugit zu bedenken gibt, sollten wir gleich den heutigen Tag für den Ausflug zur Dammsmühle nutzen!“

IV

Zwei Stunden später saßen sie in Torbens zehn Jahre altem VW Golf und fuhren in Richtung Wandlitz vor den Toren Berlins.

Sie hatten die Zeit genutzt, um noch etwas essen zu gehen, wobei Torben überrascht wurde, welche Menge an Kleinigkeiten in den Magen eines Chiwawas passten. Noch im Park hatte der Professor einen seiner ehemaligen Mitarbeiter angerufen und gebeten, etwas über die Dammsmühle in Erfahrung zu bringen. Offensichtlich genoss Professor Meinert noch immer ein hohes Ansehen bei seinen ehemaligen Angestellten, denn bereits vor dem Dessert rief dieser zurück.

Sie erfuhren, dass es sich bei der Dammsmühle, oder besser, dem Schloss Dammsmühle um ein neubarockes Herrenhaus nördlich von Berlin in der Nähe von Wandlitz handelt, das über den Ortsteil Waldsiedlung zu erreichen ist.

Dieser Ortsteil war 1950 in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, als beschlossen wurde, die wichtigsten SED-Politbüromitglieder der kommunistischen DDR in einem gesonderten, speziell gesicherten Komplex unterzubringen, der vom Ministerium für Staatssicherheit leichter als die Stadthäuser in der Berliner Innenstadt abzuschirmen war. Die Bewohner lebten im Vergleich zu anderen DDR-Bürgern dort recht luxuriös. Das wenige Kilometer entfernte Schloss Dammsmühle wurde in diesem Zusammenhang vom Inlandsgeheimdienst der DDR vereinnahmt und diente über Jahrzehnte den roten Bonzen als Jagdschloss.

Der Name des Anwesens war im Übrigen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Mühle zurückzuführen, die sich im 16. Jahrhundert an gleicher Stelle befand.

Ursprünglich wurde das Schloss im 18. Jahrhundert von einem Berliner Lederfabrikanten als zweigeschossiges Palais in der Nähe des Mühlenbecker Sees errichtet. Später wurde es umgebaut, aufgestockt und unter anderem mit einem Turm mit Zwiebelhaube versehen. Die Besitzer wechselten mehrfach. Selbst Napoleon, Wilhelm II. oder Zar Nikolaus II. logierten hier.

Während der Nazizeit wurde der letzte Eigentümer, der Brite Harry Goodwin Hart, enteignet, der damals nicht nur Direktor von „Unilever“, sondern auch mit einer jüdischen Frau verheiratet war. Auf diese Weise gelangte die Dammsmühle in die Hände von Heinrich Himmler. 1943 wurde sie kurzzeitig Außenlager des nahe gelegenen Konzentrationslagers Sachsenhausen. Fünfundzwanzig Häftlinge hatten die „ehrenhafte“ Aufgabe, Himmlers Parkanlagen rund um Schloss und See zu pflegen. Kurz vor Kriegsende bezog der neue Kommandeur der Heeresgruppe Weichsel, Generaloberst Gotthard Heinrici, dort sein Hauptquartier.

Diese Information begeisterte den Professor regelrecht und er erachtete es als notwendig, Torben die Person des Obersts sofort näherzubringen. So erfuhr er, dass Heinrici kommandierender Offizier bei der „Schlacht um die Seelower Höhen“ war, die vor den Toren Berlins noch zu sehr großen sowjetischen Verlusten, vorrangig bei Panzern, geführt hatte. Weil er letztendlich doch den Rückzug befahl, wurde er jedoch am 29. April 1945 von Hitler – einen Tag vor dessen Freitod – seines Postens enthoben und sollte vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Nach Hitlers Suizid wurde freilich auch dieser Befehl nicht mehr umgesetzt und Heinrici ergab sich Ende Mai den britischen Truppen.

Der Professor erklärte weiter, dass der Oberst bereits während des Russlandfeldzuges mehrfach Befehle ignoriert hatte und zweimal seines Kommandos enthoben wurde. Seine hervorragenden militärischen Kenntnisse, insbesondere über Rückzugsgefechte, sorgten jedoch dafür, dass ihm immer wieder Kommandos übertragen wurden. Er erachtete Heinrici an dieser Stelle zwar als – wie er sich ausdrückte – schillernde und interessante Persönlichkeit, eine Verbindung zu Bormann konnte er aber nicht erkennen. Er sah dagegen seine Vermutung bestätigt, dass sich auf der Dammsmühle, die ja als Hauptquartier von Heinrici bis zuletzt für die Koordination der Kampfhandlungen benötigt wurde, bis in die letzten Kriegstage hinein noch deutsche Truppen aufgehalten hatten.

Nach der Kapitulation diente die Dammsmühle als Lazarett, später als Erholungsheim und Kasino der Roten Armee, bis sie der DDR zur Nutzung übergeben wurde.

Nach der Wiedervereinigung machten die jüdischen Erben von Hart, dem letzten rechtmäßigen Eigentümer, erfolgreich Rückübertragungsansprüche geltend und verkauften danach das Schloss samt Grundstück weiter. Während der letzten zehn Jahre versuchten immer wieder Veranstalter, dort verschiedene Projekte zu etablieren. Aber weder Open-Air-Konzerte, Restaurants noch Sportveranstaltungen fanden den rechten Anklang, sodass das Anwesen erneut dem Verfall preisgegeben wurde.

Nachdem sein ehemaliger Mitarbeiter seine Ausführungen beendet hatte, bedankte sich der Professor überaus freundlich für dessen Bemühungen und bat – ganz Gentleman der alten Schule – noch Grüße an dessen „verehrte Frau Gemahlin“ auszurichten.

Danach ließ sich Professor Meinert trotz eines dagegen protestierenden Torben nicht davon abhalten, die Rechnung für das Mittagessen zu übernehmen, sodass sich Torben im Gegenzug wenigstens als Chauffeur für den anstehenden Ausflug anbot.

Die Fahrt selbst war für alle recht amüsant. Der Professor, gesättigt und gut gelaunt, erklärte den Anfahrtsweg zur offiziellen Pause zwischen den Unterrichtseinheiten, die sowohl Lehrer als auch Student zum Ausruhen nutzen sollten. Er kündigte an, daher vorerst auf weitere Vorträge zu verzichten. Kurz vor ihrem Ziel, als ein Schild darauf aufmerksam machte, dass sie sich bereits im Naturpark Barnim befanden, musste Torben ihn und Gertrud dann auch wecken. Professor Meinert quittierte dies eilends mit der Bemerkung, dass er überhaupt nicht geschlafen habe. Als Torben das Gegenteil behauptete und lautstark mit Geräuschen belegte, stritt der Professor lachend jegliches Schnarchen ab und bat darum, dass sich alle wieder auf die vor ihnen liegende Aufgabe konzentrieren sollten.

Die letzten drei Kilometer führte sie das Navigationsgerät über eine schmale, offenbar kaum noch befahrene Straße durch einen dichten Mischwald, in dem die Laubbäume nach dem langen Winter endlich begannen, zaghaft ihr neues Grün zu zeigen.

Obwohl auf der rechten Seite einige leer stehende Wirtschaftsgebäude und halb zugewachsene Parkplätze darauf hinwiesen, dass sie sich unmittelbar vor ihrem Ziel befanden, waren der Professor und Torben doch von der erhabenen Eleganz überrascht, mit der das Schloss plötzlich hinter der nächsten Biegung des Weges auftauchte. Eingebettet in einer malerischen, wenn auch seit Jahren ungepflegten und dadurch wildromantisch wirkenden Parkanlage, grenzte das dreistöckige, in angenehmen rosa Farbtönen gehaltene Gebäude mit L-förmiger Grundfläche direkt an einen See mit kristallklarem Wasser.

Selbst der Professor musste bei dem Anblick zugeben, dass sich das Schloss eher als Filmkulisse für eine Jane-Austen-Verfilmung eignen würde, als dort den Rätseln alter Nazis nachzujagen.

Nord- und Ostflügel verfügten jeweils über Flachdächer, welche die Gefälligkeit der hohen Fenster im klassizistischen Stil eher betonten. Beide Gebäudeteile vereinigten sich in einem die Seitenflügel um das doppelte überragenden Turm mit einer runden zwiebelförmigen Kuppel. Eine großzügige von der zweiten Ebene zu erreichende Terrasse und mehrere über die gesamte Front verteilte Balkone mit dunklen Eisengeländern luden zu einem Blick auf den See und den das Schloss umgebenden Park ein.

Als Torben und der Professor aus dem Auto stiegen, fanden sie Palais und Parkanlage vollständig verwaist vor. Nichts vermittelte den Eindruck, dass das Schloss in den letzten Jahren aus seinem Schlaf geweckt worden war.

Mit einem lauten Bellen, das Torben ihr gar nicht zugetraut hätte, kam Gertrud prompt ihrem natürlichen Bewegungsdrang nach. Während sie sich durch das hohe Gras der letzten und bereits verwelkenden Frühblüher des neuen Jahres einen Weg bahnte und dabei zwei Fasane aufscheuchte, umrundeten Torben und der Professor das Gebäude auf der Suche nach einem möglichen Eingang, da die Tür des Hauptportals abgeschlossen war. Sie stellten schnell fest, dass der Glanz vergangener Zeiten und die Aufwendungen verschiedener Investoren der Neunziger, die dem Gemäuer wieder Leben einhauchen wollten oder aber nur das schnelle Geld gewittert hatten, dem Vandalismus von weniger intelligenten Zeitgenossen zum Opfer gefallen waren. Viele der Fenster waren eingeschlagen und etliche Fensteröffnungen in der unteren Etage deshalb zugemauert oder mit Brettern vernagelt. Unrat und Dreck bedeckten die Wege. Am einst so herrschaftlichen Bootsanleger schwammen unzählige Plastikflaschen im Wasser. Beim genaueren Hinsehen zerfloss die ehrwürdige Schönheit des Anwesens und vor allem beim Professor wandelte sich die Stimmung in Wut und Trauer. Verächtlich sprach er vom Werk von üblen Barbaren und untätigen Behörden.

 

Seine Laune hellte sich erst ein wenig auf, als sie eine – wenn auch gewaltsam geöffnete – Seitentür fanden, die ihnen den Eintritt in das Gebäude ermöglichte. Es dauerte einen Moment, ehe sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Professor Meinerts Miene verfinsterte sich kurz darauf schon wieder, als er in dem dahinterliegenden Flur eine meterhohe und über den historischen Stuck reichende farbige Losung „All Cops Are Bastards“ erblickte. Eingerahmt wurde das unnötige Graffito von mehreren Darstellungen des Buchstaben A, die sich jeweils in einem Kreis befanden. Obwohl Torben wusste, dass es sich dabei um Anarchiezeichen der linksextremen Szene handelte, ließ er den Professor gewähren, als der ihm dazu einen seiner Kurzvorträge hielt und beifügte, dass die Verfasser – wären sie noch hier – die gewünschte Anarchie von ihm gleich am eigenen Leibe erfahren könnten. Die Brandrede sorgte jedoch wenigstens dafür, dass der Professor sich etwas abreagierte.

Torben fand nach seiner anfänglichen Euphorie ebenfalls auf den Boden der Tatsachen zurück und musste feststellen, dass er für eine Exkursion in leer stehende Gemäuer nicht ausreichend vorbereitet war, da ihm noch nicht einmal eine Taschenlampe zur Verfügung stand. Weil sich dem vorerst nicht abhelfen ließ, mussten sie gezwungenermaßen mit dem spärlichen Licht auskommen, das durch die schmutzigen oder gar vernagelten Fenster einfiel.

Außerdem fühlte sich Torben wie ein Eindringling und wusste nicht so recht, wonach er eigentlich Ausschau halten sollte. Und obwohl es nicht den geringsten Anhaltspunkt gab, hatte er das Gefühl, dass sie nicht allein im Schloss waren und irgendjemand sie beobachtete.

Die abgewohnten Räume, die sie betraten, waren meistens, bis auf ein paar kaputte Möbelstücke, Matratzen, Flaschen und anderen Müll, völlig leer. Zum Teil gelang es Torben nicht einmal zu erraten, welchem Zweck einzelne Zimmer früher gedient hatten, in solch einem schlechten Zustand befanden sie sich.

Eine Verbindung zum Deutschland des Jahres 1945 oder davor konnte er nicht ansatzweise finden. Der Lösung des Rätsels kamen sie so sicherlich nicht näher. Torben hatte den Eindruck, sie stocherten blind im Nebel, und sagte das auch Professor Meinert. Der teilte mittlerweile diese Ansicht, denn auch seine anfängliche Begeisterung für eine Reise in die Vergangenheit war in diesem leeren und deprimierenden Schloss verflogen.

Zwischenzeitlich erreichten sie die zwar ebenfalls stark verschmutzte, aber zumindest lichtdurchflutete Haupthalle und standen nun vor einer geschwungenen Treppe, die in das erste Obergeschoss führte. Sie einigten sich gerade darauf, noch das von Reiher beschriebene Arbeitszimmer und den Küchentrakt, in dem er sich ja aufgehalten haben wollte, in Augenschein zu nehmen, als plötzlich Gertrud zu knurren anfing. Während sich der Professor in Richtung seines Hundes beugte, um ihn zu streicheln und zu beruhigen, sah Torben einen hageren, ungepflegten, bärtigen und – wie man an Augen und Gang deutlich sah – alkoholisierten Mann mittleren Alters vom oberen Treppenaufsatz auf sich zukommen. Seine Kleidung war verdreckt und seinen letzten Gang zur Toilette hatte er wohl nicht mehr rechtzeitig geschafft, wie man an dem dunklen Fleck im Schritt seiner Hose sehen konnte.

Torben, der sich nach einigen unangenehmen Erfahrungen auf seinen Auslandsreisen durch eine gewisse Vorsicht auszeichnete, schätzte die Begegnung nicht ganz gefahrlos ein und wollte den Professor gerade auf das Erscheinen des mutmaßlichen Obdachlosen hinweisen, als es hinter ihm ertönte: „Na, wen haben wir denn da?“

Die Stimme gehörte einem anderen, weit jüngeren Mann von nicht einmal zwanzig Jahren, der wohl – genauso verdreckt und sehr wahrscheinlich auch verlaust – wie sein Kumpan ein Leben auf der Straße führte und jetzt mit einem breiten, unsympathischen Grinsen seine gelben Zahnstümpfe zeigte. Sein Gesicht, sein Hals und wahrscheinlich auch der Rest seines Körpers wiesen einen unappetitlichen dunkelroten Ausschlag mit eitrigen Pusteln auf. Torben trat instinktiv einen Schritt zurück, um sich nicht der Gefahr einer Ansteckung auszusetzen. Der Aussätzige, wie er ihn bereits gedanklich nannte, stampfte aus dem Zimmer, in dem er sich aufgehalten hatte, und blieb zwei Meter vor ihm stehen. Torben versuchte, seinen Würgereflex zu kontrollieren, denn die Entfernung war zu gering, um die Schweiß- und Alkoholausdünstungen seines Gegenübers nicht zu riechen.

Da er sich auf keinen Streit einlassen wollte, bemühte er sich, mit betont ruhiger Stimme zu sprechen, und sagte zum Professor: „George, ich glaube, wir lernen soeben zwei Bewohner des Hauses kennen!“ Während sich der Professor mit Blick auf die schäbigen Gestalten wieder aufrichtete und nur zustimmend brummte, antwortete dafür ein grobschlächtiger und glatzköpfiger Kerl, der seitlich unter der Treppe hervortrat. „Ich glaube, du irrst dich, du Lackaffe. Wir sind zu dritt! Her mit eurem Geld, Handys und was ihr sonst noch bei euch habt! Sonst steche ich zuerst den Köter und dann euch ab!“

Seine Forderung untermauerte er mit einem Springmesser, dessen Klinge er in diesem Moment mit einem schnarrenden Geräusch herausfahren ließ.

Torben – sicherlich nicht von ängstlichem Gemüt, aber einigermaßen von den Ereignissen überrascht – schätzte den Kerl wegen seines kräftigen Körperbaus und einem Gewicht von mehr als hundert Kilo als gefährlichsten der drei Männer ein. Just als er überlegte, wie sie am besten ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen konnten, und instinktiv seine Arme hob, um den Kerlen seine Bereitschaft zur Kooperation zu signalisieren, sah er, wie der Professor mit einer Schnelligkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, seinen Spazierstock hochriss und dem bulligen Typ, der von Torbens Armbewegung abgelenkt war, mit voller Wucht ins Gesicht schlug. Die Nase des Glatzkopfes wurde von der Wucht des Schlages mit einem lauten Knirschen regelrecht zertrümmert und das Blut schoss aus seinen Nasenlöchern. Vor Schmerz schreiend, ließ er das Messer fallen und taumelte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.

Torben sah aus den Augenwickeln, wie sich der Aussätzige, um seinem Kumpan zu helfen, auf den Professor stürzen wollte. Er drehte sich deshalb blitzschnell zur Seite und gab dem Angreifer, als er auf seiner Höhe war, mit beiden Armen und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, einen Stoß in die Seite, sodass dieser laut fluchend in einen Haufen Sperrmüll stürzte und sich Hände und Knie blutig schlug.

Der Betrunkene auf der Treppe rannte inzwischen den Aufgang hin­unter, um sich ebenfalls auf den Professor zu stürzen, und nahm dafür immer drei Stufen gleichzeitig. Professor Meinert eilte ihm hastig entgegen, und gerade als der Bärtige den Fuß der Treppe erreicht hatte, stieß er ihm das untere Ende seines Spazierstockes mit voller Kraft in den Solarplexus. Der Oberkörper des Landstreichers kam augenblicklich aus vollem Lauf heraus quasi in der Luft zum Stillstand und sein Gesicht verzog sich vor Schmerz zu einer Grimasse. Der Rest seines Körpers blieb noch im Vorwärtsdrang, sodass er, als sich seine Beine weiter nach vorn bewegten, rückwärts nach hinten kippte, mit dem Kopf auf die untersten Steinstufen aufschlug und reglos liegen blieb.

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