Alpendohle

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III

Aufgewühlt von den Erzählungen Reihers, verbrachte Torben den späten Nachmittag und den Abend damit, sein Wissen über das Dritte Reich und – wie er es für sich selbst nannte – den Größenwahn der Nazis aufzufrischen. Relativ schnell wurde ihm klar, dass das Internet als Quelle für die für ihn so wichtigen letzten Kriegstage nicht ausreichend war, und er beschloss, einen Spezialisten zu konsultieren. Als geeignetster Kandidat erschien ihm Prof. Dr. ­George­ Meinert, der Inhaber des Lehrstuhls für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkt Nationalsozialismus am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin. Dieser galt – schenkte man den Veröffentlichungen Glauben – auf internationalem Parkett als Koryphäe. Einige Kollegen kritisierten jedoch – so musste er in den Artikeln seiner Berufsgenossen lesen – dessen dogmatische Haltung bei der Interpretation von Forschungsergebnissen. Mit sehr deutlichen Worten warfen sie Meinert vor, dass er keine anderen Meinungen zulasse. Sie bezeichneten ihn als beratungsresistent, exzentrisch und introvertiert. Für Torben, der immer schon ein Faible für Dissidenten und Querdenker hatte, wurde er jedoch dadurch nur sympathischer und er beschloss, den Professor in den nächsten Tagen aufzusuchen.

Bei Professor Meinert einen Termin zu bekommen, gestaltete sich schwieriger als gedacht, da ihm bei einem Telefonat mit dem zuständigen Institutssekretariat eine angenehme weibliche Stimme mitteilte, dass der Herr Professor seit einigen Wochen bis auf Weiteres vom Lehrauftrag freigestellt sei.

Torben, galant und charmant wie immer, wenn er von wildfremden Menschen Informationen brauchte, wusste zwanzig Minuten später, dass es sich bei der sympathischen Stimme um eine studentische Hilfskraft im achten Semester namens Melody handelte, die auch Vorlesungen bei Professor Meinert besucht hatte. Sie teilte Torben mit, dass sich der Professor institutsintern mit einigen Kollegen und Vorgesetzten überworfen habe. Für seinen Lehrstuhl werde derzeit ein Nachfolger gesucht und sein Büro sei bereits vollständig geräumt. Auf Nachfrage konnte sie zwar keine private Erreichbarkeit des Professors nennen, gab aber an, gehört zu haben, er würde – um sich etwas die Zeit zu vertreiben – am Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins kleine Führungen für Touristen übernehmen.

Torben bedankte sich bei Melody und erhielt als Gegenleistung für sein einnehmendes Wesen ihre Handynummer, natürlich mit dem Hinweis, dass sie sonst nicht so freigiebig sei, sie ihm aber – sollte er noch Fragen haben – gern behilflich sein wolle. Und da Melody nicht nur ein außergewöhnlicher Name war, sondern sie wirklich ganz sympathisch klang, notierte sich Torben tatsächlich ihre Nummer und heftete sie an seine Pinnwand. Vielleicht würde sich ja irgendwann eine Gelegenheit ergeben, sie persönlich kennenzulernen und festzustellen, ob ihr Äußeres dem Klang ihres Namens entsprach.

Torben erinnerte sich dank alter Recherchen daran, dass man bei einer behördlich zugelassenen und registrierten Firma angestellt sein musste, um als Guide in Berlin arbeiten zu können. Durch diese Information wusste er eine Stunde und sieben Telefonate bei Sightseeing-Agenturen später nicht nur, dass der Professor tatsächlich kleine Stadtrundgänge anbot, er hatte sogar für den nächsten Tag eine individuelle Führung bei ihm buchen können.

Um elf Uhr morgens lernte Torben den Professor dann auch tatsächlich kennen.

Bekanntermaßen gibt es keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Der Professor beherzigte mit seinem Auftreten offensichtlich diesen Grundsatz. Statt eines älteren, zerzausten Gelehrten mit Nickelbrille und durchgewetzten Ärmeln sah sich Torben einem mittelgroßen, braun gebrannten und sehr gepflegten Mann reiferen Alters gegenüber, der augenscheinlich – so verrieten es Bauchansatz und leicht gerötete Nase – den Herbst seines Lebens in vollen Zügen genoss.

Der Professor trug einen hellen Leinenanzug mit weißem Hemd samt passendem beigefarbenen Halstuch. Ein weißer Strohhut und ein Spazierstock vervollständigten das Ensemble. In seiner ganzen Erscheinung erinnerte er Torben eher an den jungen Hemingway als an einen steifen Akademiker.

Das Bemerkenswerteste an seinem Auftritt bestand jedoch darin, dass er in Begleitung eines braunen Chiwawas erschien, den er an einer Leine führte. Torben musste schmunzeln, als er sah, wie vorsichtig und behutsam der kräftige Mann mit dem winzigen Hund umging, anscheinend sogar mit ihm redete. Der Professor war Torben vom ersten Augenblick an sympathisch.

Insgeheim hatte er gefürchtet, Professor Meinert aufgrund des Verlustes seines Lehrstuhls in niedergeschlagener Stimmung vorzufinden. Als sie sich aber gegenüberstanden, wurde er vom blanken Gegenteil überrascht. Der Professor begrüßte ihn mit einem freundlichen und offenen Lächeln. „Ah, lassen Sie mich raten, Sie müssen Herr Trebesius sein. Richtig? Ein wirklich außergewöhnlicher Name, vielleicht können Sie mir ja später etwas über seinen Ursprung erzählen. Wie ich höre, zeichnen Sie sich durch einen erlesenen Geschmack aus, weil Sie darauf bestanden haben, dass ich Ihre Führung übernehmen soll. Mir wurde nämlich gesagt, Sie hätten ausdrücklich nach mir verlangt.“ Der Professor kicherte kurz, ehe er munter weiterplapperte. „Oder wollen Sie mir etwas verkaufen oder mich gar ausrauben? Nein? Ein kleiner Scherz! Na ja, wie dem auch sei, wie Sie sicherlich schon erraten haben, bin ich Professor Meinert und dies ist Gertrud, sozusagen meine bessere Hälfte, die mich seit einigen Jahren begleitet.“

Als der kleine Hund seinen Namen hörte, wedelte er freudig mit dem Schwanz. Der Professor ergänzte dessen ungeachtet sofort: „Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen wunderschönen guten Morgen! Was möchten Sie gerne besichtigen? Wir könnten uns die Ausstellung ‚Topographie des Terrors‘ ansehen oder wir wandeln durch die Ministergärten und ich erzähle Ihnen, wie es 1945 hier aussah. Oder wollen Sie sich tatsächlich das Holocaust-Mahnmal ansehen? Hoffentlich verlangen Sie dann aber nicht, dass ich etwas schaffe, was bisher keinem gelungen ist, nämlich eine Interpretation für dieses Bauwerk zu finden. Aber nun reden Sie doch endlich!“

Torben, der zwischenzeitlich nur kurz genickt hatte, als es um die Bestätigung seiner Person ging, nutzte die kurze Unterbrechung im Redeschwall des Professors, um sich erst einmal selbst vorzustellen. „Guten Morgen, Herr Professor, wenn Sie möchten, können Sie mich gerne Torben nennen.“

Die Reaktion darauf kam rasch und war überaus freundlich. „Gut, gut, das mache ich gerne. Mein Vorname lautet übrigens George. Und ja, eh Sie fragen, der Name ist recht ungewöhnlich für jemanden, der gerade noch im Berlin des Nationalsozialismus geboren wurde. Aber was soll ich sagen, meine Mutter war seit der Verfilmung des Buches ‚Die Reise nach Tilsit‘ von Hermann Sudermann, die 1927 in die Kinos kam, in den amerikanischen Schauspieler George O’Brien vernarrt. Und so heiße ich eben nicht Georg, sondern George.“

„Es freut mich ungemein, Sie kennenzulernen, George“, wurde er von Torben unterbrochen, der nicht wollte, dass der Professor, der offenkundig das Dozieren vor Studenten gewohnt war, wieder in einen Monolog verfiel. „Ich bin mir sicher, dass Sie ein hervorragender Stadtführer sind. Vielleicht können wir irgendwann auch einmal gemeinsam eine Führung machen, aber heute bin ich hier, um Ihnen etwas zu zeigen und Ihre Meinung dazu zu hören.“

Der Professor, offenkundig von diesem Anliegen überrascht, stutzte kurz und antwortete: „Dies ist normalerweise nicht das übliche Prozedere. Als professioneller Stadtführer müsste ich jetzt sicherlich entrüstet ablehnen, aber als Gelegenheitsarbeiter, der ich bin …“ Er zuckte mit den Schultern. „Also gut, Sie haben mich neugierig gemacht. Um was handelt es sich denn? Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mein Wissen über das Dritte Reich benötigen?“

Torben hatte zwischenzeitlich das Buch aus seiner Umhängetasche geholt und reichte es dem Professor. „Damit liegen Sie goldrichtig! Ich hoffe, Sie können mir hiermit weiterhelfen?“

Der Professor rückte seine Brille zurecht, ließ die Schlaufe der Hundeleine über das Handgelenk auf den Unterarm gleiten und nahm das Buch entgegen. „Oha, ‚Mein Kampf‘ von Adolf Hitler. Sie wissen schon, dass hier nicht der richtige Ort ist, dieses Buch so offen zu zeigen.“ Er blickte ihn über den Rand seiner Brille an. „Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen“, forderte er Torben auf. „Vielleicht durch die Steinquader des Mahnmals? Dort sieht wenigstens nicht jeder, worin wir beide schmökern.“

Torben nickte und beide näherten sich den ersten Stelen des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“.

„Das Buch ist in erstaunlich gutem Zustand. Aber was wollten …“ Die Stimme des Professors erstarb, als er die erste Seite aufgeschlagen hatte und die Widmung las. Er hielt in seinen Bewegungen inne, sodass Torben und Gertrud auch stehen bleiben mussten. Die kleine Hundedame nutzte sofort die Gelegenheit, um am nächsten Steinquader zu schnüffeln,

„Sehr interessant. Ist das authentisch? Wurde das Buch wirklich an seinem Todestag signiert?“

„Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir vielleicht sagen“, antwortete Torben.

„Ganz so einfach ist das nicht, mein junger Freund! Wo haben Sie das Buch her? Und vor allem: Wissen Sie, wer es vom Führer bekommen hat? Der Kreis der Menschen, die ihn in seinen letzten Stunden sahen, ist recht überschaubar. Einer von ihnen könnte es jedoch tatsächlich erhalten haben, denn die Handschrift ähnelt schon stark der des Führers. In den letzten Wochen vor seinem Tod sollen in Hitlers Armen Lähmungserscheinungen aufgetreten sein. Er war ein kranker Mann und das Schreiben fiel ihm zunehmend schwer. Ich bin aber natürlich bei Weitem kein Gutachter.“

 

Torben holte kurz Luft und begann zu erzählen: „Das Buch stammt aus dem Nachlass meines verstorbenen Großvaters. Ich vermute, dass er es persönlich vom Führer unmittelbar vor dessen Suizid empfangen hat.“

In den folgenden Minuten setzte er den Professor darüber in Kenntnis, was er von Konrad Reiher über seinen Großvater und deren beider Anwesenheit im Führerbunker erfahren hatte. Erst als er endete, registrierte er, dass sein Zuhörer ihn dieses Mal nicht unterbrochen hatte. Vielmehr glänzten dessen Augen regelrecht und fast erweckte es den Eindruck, als ob der Professor plötzlich frischer und jugendlicher aussah.

Als er sicher sein konnte, dass Torben seine Ausführungen abgeschlossen hatte, erwiderte Professor Meinert: „Mein lieber junger Freund, ich glaube, das ist der Beginn einer wundervollen Freundschaft!“ Er lachte und legte seine freie Hand auf Torbens Arm. „Ihre Geschichte und Ihre Nachforschungen sind höchst interessant. Sie eröffnen einen völlig neuen Blick auf die letzten Tage des Tausendjährigen Reiches. Sie sind von großer wissenschaftlicher Bedeutung. Ich bin sehr froh, dass Sie den Weg ausgerechnet zu mir gefunden haben. Sie kommen allerdings“ – der Professor seufzte und ließ Torben los – „zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt zu mir. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ich meinen Lehrstuhl abgegeben und mich sozusagen ins Privatleben zurückgezogen habe.“ Der grimmige Blick des Professors verriet, dass dieser Schritt nicht freiwillig erfolgte.

„Das weiß ich bereits“, entgegnete Torben. Schon wenige Minuten nach der herzlichen Begrüßung durch den Professor hatte er entschieden, den für ihn richtigen Experten für seine Recherchen kennengelernt zu haben. Jetzt wollte er ihre Zusammenarbeit nicht mit einer Lüge beginnen. „Ich habe gestern mit dem Sekretariat Ihrer Fakultät gesprochen. Ist es unhöflich, nach dem Grund Ihrer Entscheidung zu fragen?“

„Keineswegs, Torben! Zugegebenermaßen werden Sie mein Motiv allerdings vielleicht als höchst banal betrachten. Ich habe bei meinen Forschungen die Rolle der Alliierten schon immer sehr differenziert betrachtet. In einem meiner letzten Gutachten habe ich mich nun dazu hinreißen lassen, mich diesbezüglich noch kritischer als jemals zuvor zu äußern. Es ging dabei um den Tod von neun Jungen der Hitlerjugend, die – so belegen es neu aufgetauchte Unterlagen – im März 1945 bei Treseburg im Harz von US-Soldaten erschossen, oder besser gesagt, hingerichtet wurden. Da aber die HJ eine von der Wehrmacht unabhängige Organisation und ihre Mitglieder, formell genommen, somit keine Militärangehörigen waren, habe ich das Handeln der US-Amerikaner im Rahmen meiner Gutachtertätigkeit im Strafverfahren als Mord eingestuft. Bekanntlich kann dieser nicht verjähren. Was zur Folge hätte, dass die an der Tat beteiligten und noch lebenden GIs hätten verhaftet werden müssen.

Seine Magnifizenz – der Rektor meiner Hochschule – sowie der Kanzler und einige andere sahen den Fall jedoch völlig anders und verlangten von mir, dass ich das Gutachten zurückziehen, abändern und den Terminus Kriegsverbrechen verwenden solle, was nebenbei gesagt impliziert, dass die Handlungen nicht mehr verfolgt werden können. Als ich den Damen und Herren sagte, was sie mich mal können, war dies wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von meinem Standpunkt aus betrachtet hätte ich aber nicht nur meine wissenschaftliche Meinung aufgegeben, ich hätte die für einen Forscher notwendige Unabhängigkeit verloren.

Mittlerweile habe ich sogar eine Vermutung, was den möglichen Hintergrund der Bitte oder Order betrifft, ganz wie Sie wollen. Offensichtlich strebt meine Hochschule eine Kooperationsvereinbarung im Bereich der Forschung mit einer finanzstarken Universität an der Ostküste der USA an. Verständlicherweise möchte man den zukünftigen Partner nicht mit amerikakritischen Enthüllungen vor dem Kopf stoßen.

Und so – wieder einmal um einige Illusionen ärmer – habe ich unlängst beschlossen, in den sofortigen Ruhestand zu treten. Die Entscheidung fiel mir zumindest in finanzieller Hinsicht leicht, da ich vor einigen Jahren das ausgesprochene Glück hatte, eine größere Erbschaft anzutreten. Einen solchen Vorgang kann ich jedem nur empfehlen.“

Torben, der dem Professor aufmerksam zugehört hatte, sagte: „Ich bedauere sehr, wie man mit Ihnen umgegangen ist, George. Die Frage ist aber nun, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, denn mir persönlich ist es völlig egal, ob Sie noch eine Professur innehaben oder nicht!“

Das Gesicht des Professors hellte sich augenblicklich auf und er erwiderte: „Sie haben recht, Torben! Es ist töricht, Trübsal zu blasen und ewig einer verflossenen Liebe nachzuweinen! Die Devise muss lauten: Auf zu neuen Ufern! Also, Sie halten mit diesem Buch eine unglaubliche Chance in der Hand, das Ende und womöglich das Erbe eines der größten Diktatoren der Geschichte der Menschheit etwas aufzuhellen. Ich verfüge zwar über keine Mitarbeiter mehr, die mich bei meinen Forschungsarbeiten unterstützen, aber wir, ich meine damit Gertrud und mich“, er streichelte der inzwischen deutlich gelangweilten kleinen Hundelady den Kopf, „würden uns freuen, wenn wir Ihnen bei Ihren Nachforschungen helfen können. Und außerdem wird das – sollten wir erfolgreich sein – meinen früheren Arbeitgeber ziemlich verärgern.“

Der Professor lachte erneut, setzte zum Weiterlaufen an und reichte Torben das Buch. „Hier, nehmen Sie es zurück! Die Widmung habe ich mir sowieso gemerkt. Es gehört ja Ihnen, aber achten Sie gut darauf. Wir werden den Wälzer bestimmt noch brauchen. Um das Rätsel zu lösen, schlage ich vor, dass wir uns erst einmal gedanklich in die letzten Kriegstage zurückbegeben. Meinen Sie nicht auch?“

Torben, der gerade unter den neugierigen Blicken Gertruds, die wohl auf ein Leckerli hoffte, sein Buch verstaute, nickte kurz als Zeichen der Zustimmung.

Der Professor, abermals gut gelaunt und voller Elan und Tatendrang, hatte nun endlich wieder die Gelegenheit, sein lebenslang erworbenes Wissen über das Dritte Reich und den Nationalsozialismus weiterzugeben, und es bereitete ihm großes Vergnügen. Fast schon theatralisch setzte er an: „Beginnen wir also mit der ersten Unterrichtsstunde! Sie hätten keinen besseren Ort für den Anfang unserer Reise in die Geschichte wählen können!“

Professor Meinert und Torben gingen langsam zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals hindurch. Weil nicht genügend Platz war, mussten sie hintereinander laufen. Torben sah, wie der Professor ab und an seine Hand über die Steinquader gleiten ließ.

„Waren Sie jemals vorher hier, mein junger Freund?“, fragte er ihn, während er sich umdrehte.

„Nun ja“, gab Torben etwas verlegen zu, „ich habe zwar eine Wohnung im Wedding, aber ich bin viel unterwegs und verbringe wenig Zeit in Berlin. Um ehrlich zu sein, ich habe mir das Mahnmal noch nie richtig angeschaut.“

Professor Meinert hatte nicht vor, ihn zu kritisieren. „Das ist nicht schlimm! Ich verstehe das, Sie sind ein junger Mensch und voller Leben. Der Tod sollte Sie jetzt noch nicht beschäftigen.“ Nach einer kurzen Pause sprach er weiter: „Dieses Mahnmal erinnert an eines der dunkelsten Kapitel des Dritten Reiches. Ich will Ihnen nichts vormachen, vielleicht müssen wir uns genau mit diesen Dingen auseinandersetzen.“

Gertrud, die jetzt etwas ängstlich schien, was nicht verwunderlich war, da die Stelen bisweilen selbst die beiden Männer überragten, wurde vom Professor auf den Arm genommen. „Es sind übrigens zweitausendsiebenhundertelf Betonpfeiler, die in parallelen Reihen auf einer Fläche von fast zwei Hektar aufgestellt wurden. Jeder der grauen Pfeiler ist etwa einen Meter breit und zweieinhalb Meter lang.“ Jetzt kam bei ihm doch noch der Stadtführer durch. „Die Höhen reichen von zwanzig Zentimetern bis fast fünf Meter. Wie Sie vielleicht erkennen können, ist das Stelenfeld sanft, aber unregelmäßig geneigt. Optisch ergeben die Steine eine Welle“, klärte der Professor Torben auf. „Die Quader sind nur der sichtbare Teil des Mahnmals. Zu dem Komplex gehört auch ein unterirdisches Museum mit einer Namensliste der bekannten jüdischen Holocaustopfer. Die Stelen sollen wohl an Grabsteine erinnern, da Ähnlichkeiten zu den Sarkophag-Gräbern jüdischer Friedhöfe bestehen. Aber nicht einmal bei der Eröffnung 2005 gab es eine offizielle Interpretation der Architektur, nur verschiedene Deutungen. Wissen Sie, nicht nur deshalb ist die Gedenkstätte umstritten“, führte er weiter aus. „Der Holocaust hat nicht nur Juden, sondern auch andere Opfergruppen hinweggerafft. Es hätte auch ein gemeinsames Mahnmal geben können. Um es zu finanzieren, wurde zudem bei anderen Gedenkstätten rigoros gestrichen. Die Hälfte der Stelen wies überdies bereits nach drei Jahren Risse auf und etliche werden deshalb jetzt mit Stahlbändern gesichert. Auch die Bauarbeiten wurden seinerzeit einmal unterbrochen, als bekannt wurde, dass der Anti-Graffiti-Schutz der Stelen – offensichtlich ist so eine Versiegelung in Berlin vonnöten – durch die Degussa AG aufgetragen werden sollte. Deren Tochterfirma Degesch hatte im Dritten Reich das Giftgas Zyklon B hergestellt, mit dem die Juden in den Konzentrationslagern vergast wurden.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich nicht, wie unsensibel und unwissend Menschen sein können. Aber genug davon, wir sind an der Stelle angekommen, die ich Ihnen zeigen wollte.“

Sie hatten den südlichen Rand des Stelenfeldes erreicht und der Professor zeigte in Richtung einiger Bäume. „Nicht einmal hundert Meter von hier in dieser Richtung lag der Führerbunker im Garten der alten Reichskanzlei an der Wilhelmstraße.“ Torben zog hörbar die Luft ein.

Professor Meinert dozierte indes munter weiter: „Der Bunker wurde niemals ganz fertiggestellt. Es gab einen Vorbunker, der einhundertfünfzig Menschen Platz bot, und einen Hauptbunker mit zwanzig Zimmern. Wenn Sie glauben, dass er luxuriös eingerichtet war, dann irren Sie. Selbst Hitler musste auf nackte Betonwände starren. Wegen der Baumängel drang ferner ständig Wasser ein, das kontinuierlich abgepumpt werden musste. Nach dem Krieg wurde mehrfach, ohne großen Erfolg versucht, den Bunker zu sprengen. Und da er nach dem Bau der Berliner Mauer im Todesstreifen lag, hat ihn die DDR-Regierung letztendlich mit Schutt auffüllen und planieren lassen. Wir können also unsere Suche nach Erkenntnis nicht dort beginnen.“

Der Professor ließ seinen Blick noch kurz schweifen und fragte dann an Torben gewandt: „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber Gertrud und ich möchten nach all dem Beton mal etwas mehr vom neuen Grün des Frühlings sehen. Was halten Sie davon, wenn wir unseren Weg in Richtung Großer Tiergarten fortsetzen?“

Torben stimmte zu und gemeinsam liefen sie an der Außenseite des Mahnmals entlang in Richtung der drittgrößten Parkanlage Deutschlands. Jetzt, da sie erneut nebeneinander gehen konnten, wurde ihr Gespräch wieder intensiver.

„Die Beschreibung, die der Freund Ihres Großvaters gab, lässt mich vermuten, dass er tatsächlich im Führerbunker war. Es gab wirklich eine Wachstube neben der Telefonzentrale, in der er gewartet haben könnte. Und rechtsseitig im Korridor, der – auch das stimmt – mit einem roten Teppich ausgelegt war, konnte man über Besprechungs- bzw. Konferenzräume in die Privatgemächer Hitlers gelangen. Auch Martin Bormann, Privatsekretär und Chef der Reichskanzlei, war am Ende dort und versuchte zu retten, was noch zu retten war.“

Torben zauberte sein Notizbuch hervor und fragte: „Kann ich mir Notizen machen?“

„Aber ich bitte darum!“, antwortete Professor Meinert lächelnd und setzte fort: „Bormann hat die letzten Kriegstage und alle Geschehnisse penibel für die Nachwelt dokumentiert. Fast jeden von Hitlers Sätzen hat er wortwörtlich aufgeschrieben. Durch seine Aufzeichnungen konnte auch nachgewiesen werden, wer und zu welchem Zeitpunkt im Führerbunker anwesend war oder welche Befehle in den letzten Tagen noch erteilt wurden. Bormann wäre aber auch der Einzige gewesen, der dafür hätte Sorge tragen können, dass bestimmte Informationen nicht dokumentiert wurden und damit für immer geheim bleiben konnten. Im Bunker selbst hielten sich damals nur noch etwa zwanzig Personen auf. Deren Namen sind alle bekannt, die Ihres Großvaters oder seines Freundes gehören nicht dazu. Einige werden Sie auch kennen. Neben Bormann waren natürlich Hitlers Geliebte Eva Braun …“, er sprach absichtlich langsamer, damit Torben mitschreiben konnte, „sein Kammerdiener SS-Sturmbannführer Linge … sein Adjutant Günsche … dazu sein Leibwächter, seine vier Sekretärinnen, seine Diätköchin, sein Chauffeur und sein Leibarzt anwesend. Im Vorbunker kamen der Generalstabschef des Heeres Hans Krebs … Eva Brauns Schwager SS-Gruppenführer Hermann Fegelein … die gesamte Goebbelsfamilie und einige andere Größen des Dritten Reichs dazu. Aber ich will Sie nicht mit noch mehr Namen verwirren. Wie dem auch sei, Ende April standen die russischen Truppen in Berlin und Hitler traute längst niemanden mehr.

 

So hatte Hermann Göring, Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, Berlin am 20. April 1945 nach dem Empfang zu Ehren Adolf Hitlers sechsundfünfzigsten Geburtstags wie viele andere Staats- und Parteifunktionäre in Richtung des noch unbesetzten Süddeutschlands verlassen. Drei Tage später versuchte er, weil Hitler weiterhin in Berlin ausharrte, sich als dessen Nachfolger auszurufen. Der Führer enthob ihn daraufhin aller Ämter und ließ ihn auf dem Obersalzberg, seinem Wohnsitz im Berchtesgadener Land, wegen Hochverrats von der dortigen SS-Kommandantur festsetzen.

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der Deutschen Polizei, hatte in den Augen Hitlers ebenfalls versagt, weil er als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel im März nicht hatte verhindern können, dass die Rote Armee die Front in Pommern durchbrach. Etwa zeitgleich mit dem Putschversuch Görings suchte Himmler den Kontakt zu den alliierten westlichen Streitkräften, um eine einseitige Kapitulation anzubieten, und ließ dafür sogar jüdische Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück frei. Am 28. April 1945 wurde Himmler für dieses Verhalten von Hitler ebenfalls aller Ämter enthoben.

Und so ging es weiter! Fegelein, sein Beinaheschwippschwager, setzte sich in Zivil und mit einhunderttausend Reichsmark und Schweizer Franken aus dem Führerbunker ab, SS-General Karl Wolff schloss in Italien einen Waffenstillstand, SS-General Felix Steiner verweigerte den Gehorsam. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Hitler fühlte sich verraten, getäuscht, war außer sich vor Wut und fürchtete einen Attentäter, der sich bereits im Führerbunker hätte befinden können.

Zumindest gelang es dem aufgebrachten und zornigen Hitler, Fegelein durch einen seiner Personenschützer aufspüren zu lassen. Er ließ ihn im Ehrenhof der Reichskanzlei hinrichten, obwohl Eva Braun für den Mann ihrer schwangeren Schwester auf Knien um Gnade bat. Vermutlich um seine Geliebte zu beruhigen, ließ er deshalb einen Standesbeamten ausfindig machen und heiratete Eva Braun um Mitternacht des 28. April 1945.“

Torben, der mit seinen Notizen schon längst nicht mehr hinterherkam, und in dessen Kopf die Namen herumschwirrten, die er wahrscheinlich schon vielfach gehört, aber noch nie so miteinander in Verbindung gebracht hatte, unterbrach den Professor: „Hitler hat Eva Braun geheiratet? Das wusste ich gar nicht!“

„Tja, mein lieber Freund, deshalb gibt es ja Menschen wie mich, die ab und an mal ein Buch schreiben, damit bestimmte Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten.“ Er zog Gertrud von einem Mülleimer weg, denn mittlerweile hatten sie die Parkanlage erreicht.

„Kommen Sie, setzen wir uns dort an den Springbrunnen und ich erzähle Ihnen den Rest.“

Torben und Gertrud kamen dieser Einladung gerne nach.

„Nach der Hochzeit mit Eva Braun, ich meine Eva Hitler, geborene Braun, um genau zu sein“, der Professor lächelte, „diktierte Hitler der Sekretärin Traudl Junge sein politisches und ein persönliches Testament. Göring und Himmler schloss er aus der NSDAP aus. Als Reichspräsidenten ernannte er Großadmiral Karl Dönitz und Goebbels wurde Kanzler. Generaloberst Robert Ritter von Greim, der durch die Testpilotin Hanna Reitsch drei Tage zuvor unter größtem Risiko ins fast völlig besetzte Berlin eingeflogen worden war, wurde zum Luftwaffenchef befördert und erhielt den Auftrag, gemeinsam mit Reitsch wieder auszufliegen und Himmler hinrichten zu lassen, wenn er seiner habhaft werden könnte. Das erzähle ich Ihnen, weil Reitsch mehrere persönliche Briefe mitnahm. So hatte Magda Goebbels an ihren Sohn aus erster Ehe geschrieben und Eva Braun-Hitler an jemand anderen. Diesen Adressaten kennen wir allerdings noch immer nicht. Der Brief von Frau Goebbels wurde später durch die Alliierten zwar sichergestellt, den Brief der frischgebackenen Frau Hitler will Reitsch jedoch vernichtet haben.

Sie sehen also, es wurde jede Möglichkeit genutzt, um noch persönliche Nachrichten oder Befehle aus dem Bunker hinauszubringen. Insoweit mag ich der Geschichte von Reiher – so hieß er doch – durchaus etwas Wahres abgewinnen.

Der SS und der Gestapo traute Hitler wegen Himmler nicht mehr, ebenso wenig den Wehrmachtsoffizieren wegen der Kapitulation ihrer Generäle. Warum sollte er also nicht auf einfache Soldaten für besondere Kurierdienste zurückgreifen, erst recht, wenn sie durch Drohungen – wie der anstehenden Hinrichtung von Familienangehörigen – besonders motiviert und zu Höchstleistungen angespornt werden konnten.“

„Aber mein Großvater hatte niemanden mehr in Berlin! Er war auf diese Weise nicht erpressbar“, wandte Torben ein.

„Vielleicht hat er sich für einen Kameraden geopfert, oder ihm wurde schlichtweg eine Lüge aufgetischt, um ihn dazu zu bringen, als Kurier zu fungieren. Mir fallen da tausend verschiedene Möglichkeiten ein“, gab der Professor zu bedenken. „Wie auch immer“, setzte er fort, „am 30. April – seinem Todestag – stand Hitler sehr früh auf, verteilte Geschenke an Getreue und beauftragte seinen Adjutanten Günsche, seinen Leichnam nach seinem Tod zu verbrennen. Er aß allein zu Mittag und erteilte General Helmuth Weidling den Befehl zum Ausbruch aus Berlin, um mit den verbliebenen Soldaten anschließend in den Wäldern weiterzukämpfen. Hitler verabschiedete sich danach von seinen Mitarbeitern und ging gegen 15 Uhr – also etwa zu der Zeit, als Reiher ihren Großvater im Treppenhaus des Führerbunkers getroffen haben will – mit seiner neuen Frau in seinen Wohnraum.

Gegen 15.30 Uhr hörte Günsche, der als Wachposten vor der Tür stand, einen Schuss. Gemeinsam mit Bormann und anderen betrat er deshalb das Zimmer.

Ab hier gibt es verschiedene Schilderungen, deren Abweichen sicherlich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der einzelnen Zeugen der Auffindesituation zurückzuführen ist.

Ich bin der Meinung, dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Eva und Adolf Hitler beide Giftampullen zerbissen haben und Hitler sich zusätzlich in die Schläfe schoss. Die ganzen letzten Tage zuvor war nämlich die Art und Weise eines möglichen Suizides das beherrschende Thema im Bunker gewesen. Hitler selbst hatte wiederholt Giftampullen mit Zyankali und Blausäure verteilt. Da die Kapseln ursprünglich von Himmler stammten und er ihm nach seinem Verrat nicht mehr traute, hatte er ihre Wirkung vor seinem eigenen Tod sogar noch an seinem geliebten Schäferhund und dem Hund seiner Frau erfolgreich ausprobiert.

Aber weiter! Die Eheleute Hitler waren also tot. Bormann, Günsche und einige Leibwächter aus dem Begleitkommando verbrannten die Leichen im Garten der alten Reichskanzlei und setzten die verkohlten Überreste in einem Granattrichter bei. Bormann und Goebbels bemühten sich ab diesem Zeitpunkt verzweifelt, ihre Machtbefugnisse zu retten, und begannen mit den Russen über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Die lehnten aber ab. Bormann unternahm danach mit einigen anderen einen Ausbruchversuch aus dem Führerbunker, nahm sich aber in diesem aussichtslosen Kampf – auch da hat Reiher recht – ebenfalls mit Gift das Leben, so bestätigen es verschiedene Zeugen. Da man seine Leiche nicht fand, wurde Bormann bei den Nürnberger Prozessen in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Bauarbeiten am Lehrter Bahnhof in Berlin förderten erst 1972 seine Knochen tatsächlich zutage.

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