Alpendohle

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II

„Wissen Sie, wie man mich früher nannte? Sie werden nie darauf kommen! – Füchschen! Sie können mir ruhig glauben, meine Kameraden nannten mich tatsächlich kleines Füchschen, weil ich so flink und manchmal auch so schlau war.“ Konrad Reiher kicherte. „Und jetzt? Jetzt werde ich, sobald das Wetter es zulässt, an das Ufer dieses Sees geschoben, damit ich ein paar alten Schachteln beim Füttern der Enten zusehe. Das Schlimmste daran ist, dass ich bestimmt zwanzig Jahre älter als jede von denen bin, aber ich werde gewiss wohl noch einige überleben! Freiwillig gehe ich jedenfalls nicht von dieser Welt! Meine Kinder sollen sich ruhig noch eine Weile ärgern, dass meine komplette Rente und mein Erspartes für den Heimplatz draufgehen.“

Torben hatte sich zwei Tage nach dem Gespräch mit seiner Mutter entschlossen, den alten Bekannten seines Großvaters aufzusuchen. Als Enkel und auch aus journalistischem Interesse wollte er keine Möglichkeit verstreichen lassen, doch noch zu erfahren, wie das gefundene Buch mit der geheimnisvollen Widmung in den Besitz seines Großvaters gelangt war, und der Hinweis auf Konrad Reiher war die einzige Spur, der er folgen konnte. Eine Spur, die sich noch bester Gesundheit erfreute, wenn man ein Leben im Rollstuhl, auf den Reiher mittlerweile angewiesen war, wie Torben in einem Telefonat mit dem Pflegeheim erfuhr, so nennen konnte. Er hatte das Gespräch mit der Hausleitung gleich als Anlass genutzt, um sich bei dem Kriegsveteranen für den nächsten Tag anzumelden.

Während ihn eine junge, wenn auch anscheinend etwas spröde Pflegerin mit einer erstaunlich wohlgeformten Figur, die dafür verantwortlich war, dass sich Torben insgeheim für seinen Ruhestand schon in der Einrichtung einschrieb, durch den Garten geleitete, entschloss er sich, Reiher noch nichts von dem Buch zu erzählen, sondern nur zu fragen, woher sein Großvater und er sich kannten. Das Zurechtlegen einer Geschichte, um das Gespräch im weiteren Verlauf auf den Krieg zu lenken, erwies sich allerdings als gänzlich überflüssig. Denn Konrad Reiher, wie Torben hörte, selbst verwitwet und Vater zweier Söhne, die ihn aber nie besuchten, und Großvater mehrerer Enkel, deren genaue Anzahl und Namen er aber nicht kannte, lebte – gefangen in einem gelähmten Körper – gedanklich noch das Leben eines jungen, agilen Mannes, dessen Vater ein hoher, dem Führer bis zum Ende treu ergebener NS-Funktionär in Berlin war und der selbst mit voller Überzeugung seine Zukunft in der Wehrmacht gesehen hatte.

Kaum dass Torben von der jungen Pflegerin, die ihn zum Abschied doch noch angelächelt hatte, als Enkel von Hans Schauweiler vorgestellt wurde, schien Konrad Reiher im Geiste ins Deutschland der Vierzigerjahre zurückzureisen. Die Informationen über seinen Großvater, die Torben erhofft hatte, sprudelten neben vielen anderen Geschichten über vermeintliche Heldentaten und Einschätzungen der damaligen Kriegstaktiken wie ein Wasserfall nur so aus dem Greis heraus.

Torben erfuhr, dass sein Großvater und Reiher sich bei einem Kur­aufenthalt in Bad Düben kennengelernt hatten, da beide fast zeitgleich bei Bombenangriffen der Alliierten durch Granatsplitter verletzt worden waren. Allerdings waren die Verwundungen nicht so schwerwiegend, dass sie zwei einundzwanzigjährige junge Männer davon abhalten konnten, die Wiesen, Felder und vor allem Schenken des Umlandes unsicher zu machen. In den gemeinsamen vier Wochen war eine Männerfreundschaft entstanden, die jedoch laut Reiher zwangsläufig abrupt endete, als beide wieder an unterschiedliche Frontabschnitte zurückbeordert wurden. Eher beiläufig erklärte er Torben, dass man sich lediglich noch einmal wiedergesehen hätte. Dieses Wiedersehen sei für die Freundschaft allerdings irrelevant gewesen. Darüber bräuchte man jetzt nicht mehr zu sprechen.

Torben, der nach fast zwei Stunden auf einer unbequemen Gartenbank endlich den Eindruck hatte, an einem entscheidenden Punkt angelangt zu sein, versuchte das Gespräch in eine ihm genehme Richtung zu wenden. „Herr Reiher, ich möchte nicht unhöflich sein, ich würde natürlich sehr gerne wissen, warum Sie zum Beispiel Füchschen genannt wurden, aber können sie mir nicht noch etwas über das Wiedersehen mit meinem Großvater erzählen? Meine Familie weiß nämlich nicht, wie er die letzten Kriegsmonate verbracht hat.“

„Mein lieber Junge“, der bislang so redselige Reiher schien schlagartig ernster und verschlossener, „ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich so tief in der Vergangenheit ihres Großvaters und der meinen graben sollten. Ich habe vor langer Zeit einen Eid geschworen, über bestimmte Dinge nicht zu sprechen. Natürlich nehme ich nicht an, dass irgendjemand, dem ich damals verpflichtet war, noch am Leben ist. Dieser Schwur ist also für mich nach der langen Zeit theoretisch nicht mehr bindend. Zwar könnte ich darüber reden, aber dass Sie heute hier bei mir sind und Fragen stellen, zeigt mir, dass sich auch Ihr Großvater bis zu seinem Tode verpflichtet gefühlt hat, Stillschweigen darüber zu wahren. Selbst in unseren letzten gemeinsamen Jahren haben Ihr Großvater und ich nie ein Wort darüber verloren.“

Die Ablehnung Reihers deutlich spürend, folgte Torben einem spontanen Gedanken und konfrontierte ihn mit einer Vermutung: „Sie haben beide den Führer an dessen Todestag getroffen, richtig?“

Einen kurzen Augenblick schien Reiher verblüfft. Er fing sich aber sofort wieder, setzte ein liebenswürdiges Lächeln auf und blickte über den See. Ohne Torben anzuschauen, antwortete er: „Ich wusste bis heute nicht, dass Ihr Großvater den Führer persönlich getroffen hat. Aber offensichtlich besitzen Sie mehr Informationen als ich. Erzählen Sie mir davon und wir wollen sehen, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.“

Torben beschloss, das Risiko einzugehen und Reiher zumindest teilweise in Kenntnis zu setzen. „Mein Großvater hat ein Treffen mit Hitler nie erwähnt. Ehrlicherweise muss ich zugeben, hat er fast nie vom Krieg gesprochen. In seinem Nachlass habe ich jedoch eine Ausgabe des Buches ‚Mein Kampf‘ mit einer persönlichen Widmung des Führers gefunden. Die Widmung ist auf den 30. April 1945 datiert. Ich stelle mir natürlich die Frage, ob diese Widmung echt ist und wofür mein Großvater das Buch geschenkt bekommen haben kann.“

Reiher schloss die Augen. Torben spürte förmlich, wie er sich konzentrierte, in der Zeit zurückreiste, seine Erinnerungen abrief und innerlich mit sich rang, ob er bereit war, all das preiszugeben, was vor so vielen Jahrzehnten geschehen war. Plötzlich straffte sich sein ganzer Körper, oder genauer derjenige Teil, den er, wenn auch nur unter Schmerzen, noch bewegen konnte. Er öffnete die Augen, setzte sich so aufrecht wie möglich hin und sagte: „Nun gut, mein lieber Freund, ich bin ein alter Mann. Niemanden interessiert es, ob ich tot oder am Leben bin, nicht einmal meine eigenen Kinder. Aber bevor die Geschehnisse von damals mit meinem Tod völlig in Vergessenheit geraten, sollte ich sie vielleicht dem Enkel eines alten Freundes erzählen. Sie haben mir die Frage gestellt, ob wir beide den Führer getroffen haben. So leid es mir tut, aber ich kann darauf nur für meine Person antworten. Die Antwort lautet: Nein! Ich habe Adolf Hitler nie persönlich kennengelernt. Wenn sie mich aber fragen, ob ihr Großvater den Führer an seinem Todestag getroffen haben kann, muss ich Ihnen sagen, dass ich es theoretisch für möglich halte.“

Torben, der jedes Wort regelrecht aufsog, musste Reiher etwas verwirrt angesehen haben, denn der ergänzte sofort: „Ich kann das sagen, weil ich Ihren Großvater am 30. April 1945 im Führerbunker getroffen habe. Wir hatten jedoch keine Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich weiß nicht, was er dort gemacht hat, ich kann es nur vermuten.“

Das obligatorische Notizbuch eines Journalisten zückend, fragte Torben: „Was meinen Sie damit, er war im Führerbunker, und was glauben Sie, wollte er dort?“

„Ich bin Hans am 30. April 1945 gegen drei Uhr nachmittags im Treppenhaus des Bunkers begegnet. Ich weiß das so genau, weil die nächsten Stunden, ach, was sage ich, die nächsten Tage sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt haben. Ich habe ihn im ersten Moment gar nicht erkannt, da er zivile Kleidung trug. Damals erschrak ich, weil ich dachte, er sei desertiert. Aber er war in Begleitung eines schmalen Bürschchens, das auch keine Uniform anhatte, und von SS-Leuten, die ihn verhaftet haben konnten, war nichts zu sehen. Hans war ganz genauso verblüfft, mich dort zu treffen. Er fing sich aber schneller als ich, hielt kurz an, während sein Begleiter an uns vorbeieilte, nahm meine Hand und sagte: ‚So Gott will, werden wir das hier überleben. Viel Glück, Konrad!‘ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er meine Hand auch schon losgelassen und die nächsten Stufen in Richtung Ausgang genommen. Mich ließ er mit tausend Fragen zurück, die mir durch den Kopf schossen. Sechs Stunden später kannte ich die Antworten oder hatte zumindest eine Vermutung.“

„Wie meinen Sie das, Sie hatten eine Vermutung? Und wer war der Begleiter meines Großvaters?“, bohrte Torben weiter.

„Ich werde alle Ihre Fragen beantworten, aber bitte der Reihe nach“, erwiderte Reiher. „Seinen Begleiter kannte ich nicht. Er trug Mantel und Hut. Sein Gesicht war mit Ruß bedeckt. Er schien aber – sagen wir mal – recht zart zu sein.“ Er lachte. „Sie haben zum Schluss alle, die noch greifbar waren, in den Volkssturm gesteckt. Hitlerjungen waren dabei besonders leicht zu lenken. Sie haben nämlich noch an den Endsieg geglaubt. Zum Schluss waren wir – Soldaten, Volkssturm und Freikorps – vielleicht hunderttausend schlecht bewaffnete Männer und sogar Frauen, die Berlin verteidigt haben. Uns standen aber mehr als zwei Millionen russische Soldaten und Tausende Panzer gegenüber. Mein eigener Vater hatte sich einige Tage zuvor, wie viele Parteifunktionäre, noch dem ‚Freikorps Adolf Hitler‘ angeschlossen. Er wurde aber – das erfuhr ich zufällig – schon kurz darauf verwundet und befand sich in Begleitung meiner Mutter im Lazarett des Luftschutzkellers der Reichskanzlei. Ich nehme an, dass er dort mit irgendeinem ranghohen Offizier gesprochen und diesen gebeten hat, seinen Sohn von der Front abzuziehen, denn am 30. April 1945 erhielt ich Befehl, mich im Führerbunker zu melden. Der Bunker konnte zum einen vom Keller der Reichskanzlei, in dem sich ja meine Eltern befanden, und zum anderen über eine Treppe vom Garten erreicht werden, obwohl nicht mehr viel übrig war, was man noch Garten hätte nennen können.“ Reiher stieß ein gequältes Lachen aus. „In den Bombentrichtern wurden nämlich die Leichen aus dem Lazarett verscharrt.“

 

Torben, der sich diese Szenerie gerade bildlich vorstellte, schluckte kurz und hörte Reiher weiter zu.

„Ihrem Großvater begegnete ich in eben diesem Treppenhaus zum Garten. Wenige Augenblicke danach führte mich ein Wachhabender durch einen etwa zwölf Meter unter der Erde gebauten und mit rotem Teppich ausgelegten Korridor an einigen Ordonnanzen vorbei in eine kleine Wachstube. Auf dem Weg dorthin bemerkte ich rechter Hand einen Raum, der offenbar als Besprechungszimmer diente. Darin befanden sich vielleicht ein halbes Dutzend Offiziere, die sich lautstark unterhielten. Ich konnte aber nicht erkennen, um wen es sich handelte. Ich selbst bekam dann nur eine Aufgabe, zu warten! Und zwar, bis für mich eine passende Verwendung gefunden worden wäre. Man setzte mich in die Wachstube, einen kleinen Raum von vielleicht zwölf Quadratmetern Größe, der so feucht war wie der gesamte Bunker an sich. Irgendwie hatte ich mir das Domizil des Führers erhabener vorgestellt. Ich zermarterte mir gerade das Hirn, warum man gerade mich und wofür ausgewählt hatte, als ich etwa eine halbe Stunde später und trotz des Artilleriefeuers, das man ständig hörte, so etwas wie einen dumpfen Knall vernahm.“

Torben, der es schon seit einiger Zeit nicht mehr auf der Gartenbank ausgehalten hatte und hin und her lief, unterbrach den ehemaligen Wehrmachtssoldaten: „Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, dass Sie dabei waren oder, um es genauer auszudrücken, gehört haben, wie Hitler sich erschoss?“

Reiher sah direkt in Torbens Augen und sagte mit ruhiger Stimme: „Doch, mein Junge, genau das versuche ich Ihnen beizubringen. Und Ihr Großvater war höchstwahrscheinlich in der Stunde vor dem Tod des Führers bei ihm.“

Torben schüttelte ungläubig den Kopf, weil er nicht wahrhaben wollte, dass dieser sanfte Mann, den er sein ganzes Leben gekannt hatte, ein solch enges Verhältnis zu Adolf Hitler gehabt haben sollte.

Reiher, der anscheinend seine Gedanken erahnte, fuhr mit seinen Ausführungen fort: „Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen, weder ihr Großvater noch ich selbst waren Kriegsverbrecher, die in besonderen Diensten des Führers standen. Ich bin der Überzeugung, dass wir nur zufällig ausgewählt wurden.“

Torben – immer noch zweifelnd – fiel ihm ins Wort: „Aber wofür?“

„Das will ich Ihnen doch die ganze Zeit sagen. Aber Sie wollen ja nicht zuhören! Oder kann ich jetzt weitererzählen?“, erwiderte Reiher.

Torben konnte nur stumm nicken und setzte sich, bereits jetzt innerlich erschöpft, wieder hin.

„Nach diesem Knall, Schuss oder was auch immer, wurde es sehr hektisch im Führerbunker. Was genau vor sich ging, weiß ich nicht, da ein SS-Mann dafür sorgte, dass ich in der Wachstube blieb. Diese grenzte allerdings an die Telefonzentrale und ich konnte einige Gesprächsfetzen auffangen. Irgendwann wurde mir klar, dass man von Hitlers Tod sprach. In diesem Moment wusste ich zwar, dass der Kampf endgültig verloren war, ich wollte es jedoch nicht wahrhaben. Ich fühlte mich so verloren. Ich war unendlich traurig und doch auch stolz auf den Führer, dass er sich nicht hatte lebend gefangen nehmen lassen. Er hatte sich quasi für Deutschland geopfert; ein Weg, den ich in diesem Moment auch beschreiten wollte. Sie werden jetzt sicherlich denken, ich wäre ein Alt-Nazi oder so etwas. Weder stimmt das, noch spielt es irgendeine Rolle, aber damals in diesem Bunker brach meine kleine Welt, wie ich sie kannte, auseinander.“

Jetzt war es Reiher, den seine eigene Erzählung sichtlich mitnahm. Er sah noch älter aus, als er war. Dennoch fuhr er fort: „Mit der Zeit beruhigte ich mich etwas und nach ein paar Stunden führte man mich in ein kleines Arbeitszimmer. Dort traf ich auf Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär Adolf Hitlers. Er brauchte sich nicht vorzustellen. Jeder wusste, was das für ein machthungriges Schwein war. Selbst in dieser ernsten Situation versicherte er sich zuerst in der herablassenden und arroganten Art, die ihm eigen war, ob mein Name Konrad Reiher sei. Als ich bejahte, teilte er mir mit, dass das Großdeutsche Reich einen neuen Kanzler namens Joseph Goebbels habe, der von mir erwarte, dass ich einen ungemein wichtigen Auftrag, der die weitere Zukunft des Reiches beeinflussen könne, für ihn erledige.

Bormann übergab mir ein kleines, unförmiges Päckchen, etwas größer als ein Stück Butter, und einen verschlossenen Brief ohne Adresse und erklärte mir, dass ich diese Sachen nach Carinhall in der Schorfheide, den Landsitz Hermann Görings, bringen solle. Entsetzt über die Order und dadurch alle Befehlshierarchien vergessend, erwiderte ich, dass dies völlig unmöglich sei. Sie müssen nämlich wissen, Carinhall lag fünfzig Kilometer nördlich und die russischen Truppen hatten Berlin quasi schon vollständig eingenommen. Bormann lehnte sich daraufhin zurück und schaute mich selbstgefällig an. Er erklärte mir, dass ich eine Generalvollmacht des Reichskanzlers erhalten werde, die mir die Unterstützung aller mir begegnenden deutschen Truppen zusichere.

Am liebsten hätte ich ihm als Antwort ins Gesicht geschrien, dass es keine deutschen Truppen mehr gab und eine solche Generalvollmacht bei einer Gefangennahme dafür sorgen könne, dass ich sofort standrechtlich erschossen würde. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich wollte nur noch raus aus diesem Bunker, den ich mittlerweile als übergroßes Grab empfand. Ich fasste den Entschluss, sollte mir dies gelingen, sofort zu desertieren.

Aber so einfach machte Bormann es mir nicht. Auf meine Bedenken ging er überhaupt nicht ein, sondern empfahl mir, wie er es nannte, in ziviler Kleidung zu reisen. Dann wies er eher beiläufig darauf hin, dass bei einem Misserfolg meiner Mission meine Eltern, die sich ja nur einige Dutzend Meter entfernt im Lazarett befanden, ebenso wie ich selbst als Volksverräter hingerichtet würden. Er wünschte mir viel Glück und wandte sich wieder dem Abfassen eines Briefes zu.

Mein Kopf schien auf einmal fast zu explodieren und ich starrte ihn fassungslos an, denn Bormann hatte soeben nicht nur meinen Tod, sondern auch den Tod meiner Eltern beschlossen. Als er aufblickte und fragte, ob noch etwas wäre, entgegnete ich geistesgegenwärtig, wie seine Befehle lauten würden, wenn Carinhall bereits eingenommen oder verlassen wäre.

Bormann, über die Nachfrage verwirrt, dachte kurz nach, nannte mich einen ausgesprochen guten Soldaten und sagte, in diesem Fall – und nur dann – müsse ich die Sachen im Schloss Dammsmühle in Wandlitz abliefern. Das Anwesen gehöre dem Reichsführer der Waffen-SS Heinrich Himmler. Mein Auftrag werde dann auch als erfolgreich erledigt angesehen werden. Danach forderte mich Bormann mit einem Handzeichen auf, den Raum zügig zu verlassen.

Vor der Tür wartete bereits ein SS-Mann, der mir einen alten Anzug, eine Lederjacke, die Vollmacht sowie eine Pistole 08 mit Kniegelenkverschluss und zwei Handvoll Munition übergab. Als ich mich umgezogen hatte, führte er mich nach draußen.

Ich weiß bis heute, dass die Treppe, die aus dem Bunker in den Garten führte, siebenunddreißig Stufen zählte; mit jeder einzelnen wuchs meine Entschlossenheit, den verdammten Auftrag zu erfüllen, um das Leben meiner Eltern zu retten. Natürlich wollte ich mich nicht nach Carinhall durchschlagen, das war völlig unmöglich. Noch in Bormanns Büro hatte ich mich entschlossen, es nach Wandlitz zu versuchen. Ich kannte mich in der Gegend aus, weil mein Vater mich immer zum Jagen dorthin mitgenommen hatte. Zudem betrug die Entfernung weniger als dreißig Kilometer, also nur etwas mehr als die halbe Strecke nach Carinhall, allerdings dreißig Kilometer, die mitten durch die feindlichen Linien führten.

Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, weil diese Geschichte nichts mit der Ihres Großvaters zu tun hat. Aber ich habe es geschafft. Ich habe zwei Nächte und einen Tag gebraucht, aber ich habe das Unmögliche geschafft. Ich bin durch Abflussrohre gekrochen, einige Kilometer habe ich mit einem gestohlenen Fahrrad zurückgelegt und zweimal hätten mich die Russen fast erwischt. Aber am Morgen des 2. Mai 1945 habe ich das Schloss erreicht.

Als ich dort jedoch feststellte, dass alle deutschen Truppen offensichtlich bereits abgezogen waren, stieg Panik in mir auf. Das Schloss schien vollständig verlassen. Als ich mich ihm näherte, bemerkte ich allerdings zu meiner großen Erleichterung hinter einem der Fenster des Ostflügels Bewegungen. Kurz darauf stellte sich heraus, dass sich dahinter ein Arbeitszimmer mit Zugang vom Salon des Schlosses befand. Ich spähte durch das Fenster und sah, dass in dem Raum eine Frau mittleren Alters einige Kisten packte.

Ich war zwar der Meinung, mich vorsichtig und lautlos dem Haus genähert zu haben, aber aufgrund meiner Übermüdung und Erschöpfung irrte ich wohl, denn plötzlich spürte ich einen harten Gegenstand, der sich kurz und schmerzhaft in meinen Rücken bohrte. Eine weibliche Stimme forderte mich auf, meine Hände zu heben und mich langsam umzudrehen. Ich kam der Aufforderung nach und legte dann, als es von mir verlangt wurde, vorsichtig meine Pistole ins Gras. Während der gesamten Zeit hielt mich eine etwa sechzigjährige zu allem entschlossen wirkende Frau, die eine grobe Männerjacke, Schal und eine Schirmmütze gegen die morgendliche Kühle trug, mit einem doppelläufigen Jagdgewehr in Schach. Ich war zu erschöpft, um zu protestieren oder um noch groß nachzudenken. Ohne dass sie etwas fragte, sprudelten die Einzelheiten meines Befehls und die Geschehnisse im Führerbunker nur so aus mir heraus.

Die ältere Frau schien von meiner Schilderung nicht im Geringsten überrascht und schenkte meiner Geschichte Glauben. Dabei konnte ich nicht einmal die Generalvollmacht vorweisen. Wie von Anfang an beabsichtigt, hatte ich sie sofort nach Verlassen des Bunkers weggeworfen.

Sie senkte jedenfalls ihr Gewehr und erklärte, dass ich Glück habe, sie hier noch anzutreffen, denn sie seien die letzten beiden Bewohnerinnen und würden in nur wenigen Stunden abgeholt werden. Sie wäre befugt, Päckchen und Brief entgegenzunehmen und weiterzuleiten.

Mit meinen Kräften am Ende, willigte ich sofort ein, froh, die Sachen endlich loszuwerden, und übergab ihr die Gegenstände. Sie steckte sie, ohne ihnen große Beachtung zu schenken, in ihre Jackentasche, wies auf meine Pistole im Gras und riet mir, sie wieder aufzunehmen. Anschließend nahm sie mich durch einen Seiteneingang mit in die Küche und gab mir wortlos etwas zu essen.

Während des Essens schlief ich noch am Tisch sitzend voller Erschöpfung ein und wachte erst bei einsetzender Dämmerung wieder auf. Von den beiden Frauen fehlte jede Spur. Ich vermutete, dass sie zwischenzeitlich abgeholt worden waren. In der Hoffnung, richtig gehandelt zu haben, und dennoch voller Zweifel, ob meine Eltern noch am Leben waren, versuchte ich danach, mich zu Verwandten nach Eberswalde durchzuschlagen, weil mir eine Rückkehr nach Berlin zu gefährlich erschien.

Drei Tage später wurde ich aber von einer russischen Patrouille aufgespürt und gefangen genommen. Ich war weder Angehöriger der Waffen-SS, noch gab es anscheinend schriftliche Unterlagen zu meinem Aufenthalt im Führerbunker. Mein Soldbuch wies mich als einfachen Rottenführer aus, sodass ich vergleichsweise fair behandelt wurde. Zwar habe ich auch zwei Jahre in russischer Gefangenschaft in Irkutsk verbracht, aber das konnte ich ertragen.

Übrigens haben meine Eltern den Krieg überlebt und hatten dabei mehr Glück als Bormann, der einige Stunden nach meinem Aufbruch mit einigen anderen Insassen versucht hat, sich aus dem Führerbunker freizukämpfen und nicht sehr weit kam. Noch bevor ich das Päckchen und den Brief übergeben hatte, soll er sich in den Morgenstunden des 2. Mai 1945 mit einer Giftkapsel umgebracht haben.

Verrückt, nicht wahr, vermutlich wusste niemand, welchen Auftrag mir Bormann gegeben hatte. Hätte ich versagt, wäre vermutlich rein gar nichts mit meinen Eltern geschehen.“

 

Reiher blickte grimmig und seufzte. Das Erzählen hatte ihn körperlich und das Erinnern emotional erschöpft.

„Haben Sie das Paket oder den Brief geöffnet?“, fragte Torben leise.

„Nein, meine Angst war viel zu groß. Ich habe natürlich oft über die Inhalte der Sendungen nachgedacht. Der Brief? Vermutlich Befehle oder Anweisungen für Truppenbewegungen. Etwas in dieser Richtung. Das Päckchen? Ich weiß es nicht, vielleicht wie bei Ihrem Großvater ein letztes Geschenk Hitlers an einige Getreue. – Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin durch das Erzählen sehr müde geworden, es war anstrengender, als ich dachte. Würden Sie mich jetzt bitte zurückfahren? Wir können ja ein anderes Mal weitersprechen“, bat Reiher.

Torben konnte seine Bitte verstehen. Er sah, wie dringend der alte Mann seine Ruhe brauchte, trotzdem startete er noch einen letzten Versuch, etwas mehr zu erfahren: „Ich kam eigentlich her, um etwas über meinen Großvater zu hören. Sie haben mir jetzt sehr viel über sich erzählt. Was glauben Sie, welchen Auftrag hatte er?“

„Es ist doch offensichtlich, mein Junge“, antwortete der Veteran müde. „So wie mir Bormann einen Befehl erteilte, gab Hitler anscheinend auch ihrem Großvater eine Order. Nur war Hitler so großzügig, Hans gleich ein Geschenk für seine Dienste – in Form seines Buches – zu überreichen. In den Augen des Führers sollte sein Werk durch die persönliche Widmung wohl wie eine Vollmacht für Ihren Großvater wirken, ihn bei der Erfüllung seiner Aufgabe unterstützen.

Hans und ich waren beide niedere Wehrmachtssoldaten ohne besondere Verbindungen zu hohen Offizieren, denen Hitler und sein engerer Stab zum damaligen Zeitpunkt sowieso nicht mehr trauten. Aber vor allem waren wir nicht wichtig, sondern das ganze Gegenteil, nämlich entbehrlich! Wir bekamen zivile Kleidung, um uns ungehinderter oder möglichst unerkannt bewegen zu können. Wenigstens glaubten sie das. Letztendlich übernahmen wir aber Himmelsfahrtskommandos. Niemand konnte wissen, ob wir es schaffen und unsere Ziele erreichen würden. Und trotzdem, so unwahrscheinlich es auch war, ist es sogar uns beiden gelungen, am Leben zu bleiben.

Ich habe vermutlich Befehle nach Wandlitz gebracht, die Göring oder Himmler zugehen sollten. Ihr Großvater hatte vielleicht die Aufgabe, Instruktionen oder Briefe anderen Funktionären zuzustellen. Das ist das ganze Geheimnis. Vielleicht gab es Dutzende von uns. Als ich Hans damals sah, war er in Begleitung eines Jungen. Vielleicht musste auch er einen ähnlichen Auftrag ausführen. Die einzige Frage, die ich mir später immer gestellt habe, betraf die Beweggründe Ihres Großvaters, sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Mich haben sie mit dem Leben meiner Eltern erpresst. Aber Ihr Großvater hatte keine Verwandten mehr in Berlin.

Nun ja, wir konnten heute Nachmittag leider nicht jedes Geheimnis lüften. Also, mein Junge, machen Sie sich keine weiteren Gedanken! Behalten Sie Ihren Großvater so in Erinnerung, wie Sie ihn kannten. Mehr steckt nicht dahinter!“

„Vielleicht haben Sie ja recht!“, entgegnete Torben, der unwillkürlich an die Widmung denken musste: „Die Zukunft des Großdeutschen Reiches liegt in Ihren Händen! Ich stehe so tief in Ihrer Schuld, wie es ein Mann nur sein kann.“

„Natürlich habe ich recht, ich sage es nochmals, wir waren entbehrliche, kleine und dumme Handlanger, mehr nicht!“, krächzte Reiher, der die Botschaft ja nicht kannte, und bekam einen Hustenanfall, der noch andauerte, als Torben ihn bereits wieder im Wohnheim einem Pfleger übergab.

Er hatte genug gehört und wollte ihn nicht länger quälen. Er bat den Betreuer, dem alten Mann später, wenn es ihm wieder besser ginge, nochmals seinen Dank für das Gespräch auszurichten, und hinterließ eine Visitenkarte mit seiner Adresse und Telefonnummer, falls dem Veteranen noch etwas einfallen sollte.

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