Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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Ceretic folgte Ordulfs ausgestreckter Hand. Über einige verkohlte Balken am Boden war bereits dichtes Unkraut gewuchert. Der Sachse hatte recht. Aber was sollten sie tun? Er gab sich einen Ruck. Sein Jammern würde niemandem helfen.

„Ihr beiden wartet hier. Ich gehe hinauf zum Waldrand. Vielleicht haben sich einige der Menschen dort versteckt“, entschied er.

Während es sich die Sachsen ungerührt im Schatten einiger verkohlter Ruinen bequem machten, stapfte er mit bebendem Herzen zum nahen Waldrand hinauf. Er musste nicht lange suchen. Man hatte ihre Ankunft beobachtet und kaum war er in das lichte Grün eingedrungen, da traf er auf einen alten Bekannten.

„Tallanus!“, rief Ceretic erfreut und schloss den kleinen Diakon in die Arme.

„Wie froh ich bin dich zu sehen!“ Vor Rührung wurden die Augen des Klerikers feucht. „Ich habe jeden Tag zum Herrn gebetet, dass er dich auf deiner Reise zu den Barbaren beschützen möge.“

„Das hat er auch getan“, entgegnete Ceretic ernst. „Aber was ist hier geschehen?“

„Die Pikten“, seufzte Tallanus. „Sie haben uns überrascht, schnell wie hungrige Wölfe kamen sie in ihren kleinen Booten. Bevor wir Hilfe rufen konnten, waren sie schon wieder verschwunden. Und nun haben wir gehört, dass die Sachsen, der Herr möge sie strafen …“ Hier unterbrach er sich. „Oder vielleicht auch nicht? Sag mir, hast du etwa Erfolg gehabt? Ist ein Wunder geschehen, um unsere Bedrängnis zu wenden?“ Bei den Worten leuchteten seine vorher matten Augen hoffnungsvoll auf.

Ceretic reckte stolz die Brust. „Ich war erfolgreich“, bestätigte er. „Drei Schiffe mit hundertfünfzig Hünen sind in Ruohim an Land gegangen und warten darauf, Vortigerns Befehle zu erfüllen. Und die beiden Männer da unten sind nicht etwa die beiden Fischer, die mich begleitet hatten.“ Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen, und Tallanus schaute halb furchtsam, halb neugierig zwischen den Zweigen hindurch.

„Das sind doch nicht etwa …“, er schluckte. Viele Britannier glaubten, dass schon das Aussprechen des Wortes „Sachsen“ Unglück über sie brächte.

„Ja, wirkliche und echte Sachsen“, prahlte Ceretic.

„Timeo Danaos et dona ferentes“, murmelte Tallanus und bekreuzigte sich. Ceretic sah ihn fragend an, doch der kleine Mann zuckte die Schultern. „Nur so ein alter Spruch. Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen …“

Nun schüttelte Ceretic den Kopf. „Du mit deinem römischen Unsinn. Der eine ist sogar so etwas wie ein Freund von mir, aber das ist eine lange Geschichte und wir müssen so rasch wie möglich nach Durovernum. Kannst du uns Pferde besorgen?“

Durovernum, Juni 441

Ordulf

Auf den kleinen zottigen Pferdchen, die der ebenso kleine Mann, der sie nun begleitete, besorgt hatte, ritten sie einen steinernen Weg entlang. Schon seit über einer Stunde zog er sich schnurgerade über das Land.

„Die alte Römerstraße“, hatte Ceretic behauptet. Aber wie konnten diese Römer den Erdboden selbst verändern? Um die Straße herum war das Land hügelig wie die Geest, aber fruchtbar wie die Marsch. Zu ihrer Rechten zog sich ein Flusslauf im Tal entlang und an sumpfigen Stellen wuchsen Erlen und Birken. Bald wurde der Weg noch breiter und zu beiden Seiten erhoben sich merkwürdig behauene Steine und Erdhügel.

„Was ist denn das?“, wunderte sich Ordulf.

„Die Gräber der alten Römer und einige britannische noch dazu“, erklärte Ceretic und deutete auf einen besonders stattlichen Erdhügel. „Die Menschen meiden heutzutage diese Orte. Vor allem nachts.“ Er zuckte mit den Schultern, doch Ordulf schauerte. Was die seltsamen behauenen Steine wohl für Zauberkräfte und Bannflüche bargen?

„Warum sollte man vor den Hügeln denn Angst haben?“, fragte er gedehnt.

„Manche Leute erzählen, des Morgens in der Früh fänden sich die Spuren von Gelagen und Wein unter den Steinen, andere dagegen sind der Meinung, es handle sich um Blut.“

„Aber tags können wir hier gefahrlos entlangreiten?“, vergewisserte Ordulf sich und blickte furchtsam über seine Schulter zu dem großen Grabhügel zurück.

Ceretic sah ihn mit einem Augenzwinkern an. „Wie das für euch Heiden ist, weiß ich nicht so genau. Für Christen ist es jedenfalls ungefährlich“, behauptete er. „Aber wir haben ja einen Gottesmann bei uns“, fügte er noch in beschwichtigendem Tonfall hinzu und nickte zu dem kleinen Britannier in der dunklen Kutte.

Seine Antwort beruhigte Ordulf nicht besonders. Sein Blick blieb misstrauisch an einem Grabmonument hängen, welches einen gerüsteten Krieger darstellte. Andere Steine waren mit einem Kreuzsymbol verziert und Ordulf griff unwillkürlich nach dem kleinen Bronzekreuz um seinen Hals. Auch der kleine Mann, den Ceretic als Gottesmann bezeichnet hatte, trug so etwas. Welchen geheimen Zauber mochte dieses Zeichen bewirken? Bisher hatten Ceretic und sein Kreuz ihm Glück gebracht. Dennoch war Ordulf froh, als einzelne Häuser die Nekropole ablösten.

Es waren meist kleine Handwerksbetriebe, die ihre Waren, Töpfergut, Bronzewaren und vieles mehr, an der Straße feilboten. Plötzlich bemerkte Ordulf eine gewaltige graue Wand vor sich. Viel höher noch als die Ruinen in Regulbium. Fast verschlug es ihm den Atem. Die Welt schien hier zu enden.

„Liegen dort etwa auch Römer begraben?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Nein, das ist die Stadtmauer von Durovernum. Wir kommen ans Ziel unserer Reise.“

Der Verkehr auf der Straße wurde dichter. Wenn sie bisher nur einzelnen Menschen begegnet waren, so kamen nun Karren dazu, die holpernd von Ochsen über die Steinplatten des Weges gezogen wurden. Ordulf beobachtete, wie die Wagenräder an Anstiegen tiefe Rinnen in den Stein der Straße gegraben hatten.

Doch nicht nur Ordulf staunte. Auch die Sachsen selbst erweckten einige Aufmerksamkeit. Ihre fremdländische Kleidung wurde misstrauisch beäugt und Ceretic musste ihnen mit lautem Rufen Platz verschaffen. Schließlich erreichten sie den Punkt, an dem die Straße auf die Mauer traf. Ordulf hatte sich schon seit einer Weile gefragt, was dort geschehen würde, aber von Nahem erkannte er, dass die Straße mitten durch eine bogenförmige Öffnung in der Mauer führte. Und genau dort – Ordulf erkannte sofort, dass dies der ideale Ort für einen Hinterhalt wäre – wurden sie von drei bewaffneten Britanniern angehalten. Ordulf griff erschrocken zum Sax, aber Ceretic legte ihm die Hand auf den Arm.

„Keine Sorge, das sind die Wachen der Stadt. Sie müssen jeden anhalten, der hinein oder hinaus will. König Vortigern hat es befohlen.“

Das beruhigte Ordulf einigermaßen.

Ceretic sprach mit den Bewaffneten und bald winkte er seinen Begleitern: „Los, weiter, der Mann mit dem blonden Schnauzer hier wird uns zum Palast führen.“ Sie folgten dem Britannier durch den dunklen Torbogen. „Wir haben Glück“, fuhr Ceretic fort. „Vortigern hält sich tatsächlich in Durovernum auf.“

Ordulf hörte nur halb zu. Die Welt endete nicht hinter der Mauer, wie er befürchtet hatte. Es war viel eher so, als begänne sie erst richtig. Auf den Straßen der Stadt herrschte reges Treiben und am Rande der rechtwinklig angelegten Gassen stand eine geradezu unglaubliche Anzahl Häuser. Manche aus Holz, andere, wie die Mauer, aus Stein erbaut. Selbst der gleichmütige Gerolf kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er und Ordulf machten sich gegenseitig mit offenen Mündern auf immer neue Details aufmerksam. Bald führte Ceretic sie auf einen großen Hof. Hier waren die Steinhäuser häufiger und auch größer als direkt hinter der Stadtmauer.

„So, ihr könnt absteigen. Ich werde euch jetzt vor den König führen“, bedeutete Ceretic den beiden, während er und der schweigsame Kleriker bereits zu Boden sprangen. Hilfreiche Hände nahmen den immer noch völlig benommenen Sachsen die Zügel aus der Hand. Automatisch stieg Ordulf vom Pferd und folgte den beiden Britanniern wie ein eingeschüchterter Hund in das größte der Gebäude.

Im ersten Raum trafen sie auf weitere Bewaffnete. Die Männer trugen Helme, glänzende Rüstungen und seltsame große, ovale Schilde, einige wieder mit dem Kreuzsymbol darauf. Ein Mann mit einem prächtigen goldenen Helm und einem quer stehenden roten Helmbusch übernahm die Führung. Um sie herum redeten die Britannier laut durcheinander und gafften ebenso staunend zurück, wie die Sachsen sie anstarrten. Alle hielten respektvoll Abstand und niemand schien es zu wagen, sich den Fremden zu nähern. Schließlich öffnete sich vor ihnen eine weitere Tür. Beim Eintreten wurde Ordulf von der Pracht geblendet. Auf mehreren bronzenen Becken brannten Feuer, schwere Stoffe hingen an den Wänden. Der Fußboden war mit bunten Steinen belegt, die kunstvolle Muster bildeten, aber nicht wegrollten, wenn man mit den Füßen drauf trat.

„Der Hochkönig Britanniens! Verbeugt euch vor ihm“, riss ihn Ceretics Stimme aus dem Staunen.

Vor ihm, auf einer Art Hochsitz, saß ein großer Mann mit langem rotem Bart, den Ordulf bisher noch gar nicht bemerkt hatte. Ehrfürchtig beugte er Knie und Kopf vor dem Herrscher all dieser Pracht. Ceretic begann auf Britannisch zu sprechen. Anfangs unterbrach ihn der König einige Male mit einer tiefen Stimme, aber dann wurde es immer stiller um die vier.

Ordulf nutzte die Zeit, um sich noch einmal gründlich umzusehen. Das Haar des Königs war an den Schläfen bereits ergraut und ein goldener Reif um seine Stirn unterstrich Würde und Macht. Er war in ein langes purpurfarbenes Gewand gehüllt. Neben ihm, aber deutlich niedriger, saß noch ein weiterer Mann. Er war klein und eigentlich nicht mehr als ein grauhaariger Greis mit einem silbernen Geschmeide auf dem Haupt. Ordulf erfuhr später von Ceretic, dass es sich um Vortigerns Vasallenkönig Gwyrangon, den Herrscher von Cantium und somit ihren eigentlichen Gastgeber in Durovernum handelte. Vortigern hielt sich mitunter gern in den Residenzen seiner Vasallenkönige auf, vor allem in Durovernum oder Lindum. Londinium, wo sich sein eigener Palast befand, war ihm zu aufmüpfig und Verulamium, die Hauptstadt seiner catuvellaunischen Vorväter, war inzwischen zu einem unbedeutenden Flecken verkommen.

 

Um die beiden Herrscher herum standen weitere Wächter mit glänzenden Rüstungen und bunten Mänteln. Direkt unter sich entdeckte Ordulf das Bild zweier Vögel. Sie sahen so täuschend echt aus, dass er fast danach gegriffen hätte. Aber scheinbar bestanden auch sie, wie fast die ganze Stadt, aus totem Stein.

Da hörte Ordulf wie Ceretic seinen Namen erwähnte und schaute auf. Der König blickte ihm forschend ins Gesicht. Ordulf fühlte sich seltsam, da er gar nicht verstand, was über ihn geredet wurde, aber der König nickte ihm zu, was ihn einigermaßen beruhigte. Dann winkte er Ceretic und der errötete. Er verbeugte sich nochmals und ging mit gesenktem Haupt auf Vortigern zu. Dieser ließ sich von einem Diener einen goldenen Torque reichen und gab ihn dann Ceretic weiter. Eilig befestigte der den Reif an seinem Hals. Ordulf beobachtete, wie Ceretic stolz den Kopf reckte. Offenbar war sein König zufrieden mit ihm.

„Vortigern entbietet euch seinen Gruß. Er freut sich, dass Hengist euch übers Meer gebracht hat“, wandte sich Ceretic nun endlich in sächsischer Sprache Ordulf und Gerolf zu. „Als Zeichen seiner Wertschätzung will er euch etwas schenken. Tretet näher.“

Ordulf und Gerolf sahen sich fragend an. Dann verbeugte sich Ordulf, wie er es gerade bei Ceretic gesehen hatte und ging langsam zu Vortigerns Thron. Gerolf folgte ungeschickt seinem Beispiel. Vortigern lachte leise über die verunglückte Verbeugung. Dann rief er etwas und ein weiterer Mann brachte ihm zwei silberne Armringe, jeder daumendick. Ordulfs Augen weiteten sich voll Begier. Und tatsächlich überreichte Vortigern ihm einen der Ringe. Ordulf wog das Silber in der Hand. Das war gut, sogar sehr gut! Zufrieden ließ er sich von Ceretic aus der Halle führen.

Vor dem Gebäude warteten ihre Pferde. Allerdings nur drei.

„Kommt der kleine Mann nicht mit uns?“, wunderte sich Ordulf.

„Nein, Tallanus hat hier im Palast zu tun. Er dient dem, dem …“ Ceretic suchte nach einem passenden sächsischen Wort. „Dem großen Priester“, entschied er schließlich. Worte für Diakon oder Bischof gab es in der sächsischen Sprache einfach nicht. Ordulf ließ es dabei bewenden.

Sie stiegen nicht auf, sondern führten die Pferde am Zügel über den großen Platz mit den steinernen Häusern. Zielstrebig bog Ceretic in eine der Straßen, die nach Westen zu führen schien. Es war Ordulf ein Rätsel, wie sich hier jemand orientieren konnte. Die Gassen sahen doch alle gleich aus mit ihren himmelhohen Häusern und dem steinernen Boden. Doch entgegen seiner Befürchtungen erreichten sie bald ein weiteres großes Gebäude, in dessen Hof ihnen wiederum ein Knecht die Zügel abnahm.

„Wir müssen doch unsere Pferde versorgen. Sättel abnehmen und …“, protestierte Ordulf, als Ceretic ihn in Richtung einer großen Halle zog.

„Dafür ist der Knecht da“, entgegnete Ceretic. „Ihr kommt jetzt mit mir. Wir haben zu feiern.“

Widerstrebend ließ sich Ordulf von den Tieren wegziehen. Es war zwar nur ein ziemlich unansehnliches kleines Vieh, aber immerhin hatte es ihn brav von der Küste bis in die Stadt getragen.

Sie betraten die Halle. An der einen Seite befand sich eine offene Feuerstelle und mehrere Mägde hantierten mit Schüsseln und Töpfen. Der Rest des Raumes wurde von langen Bänken und Tischen ausgefüllt, an die Ceretic sie nun führte. Ordulf sah sich neugierig um. Diese Halle sah ganz anders aus als die des Königs. Die Decke war niedrig und wurde von mehreren Balken gestützt. Die Menschen, überwiegend schnauzbärtige Männer in bunten Wollkleidern, schienen sich gar nicht zu beachten. Oft wandten sie einander den Rücken zu, während die einen müde ihr Bier schlürften und die anderen sich beim Würfelspiel oder trinken vergnügten. Sein Blick wanderte weiter und suchte nach dem Hochsitz. Doch er konnte ihn nicht entdecken. Da knallte eine der Mägde wortlos ein paar Becher vor sie hin. Ordulf fuhr erschrocken herum.

„Wohnt hier ein Freund von dir?“, fragte er Ceretic verblüfft. „Und will er uns nicht in seiner Halle begrüßen?“

„Nein, ich kenne den Wirt nicht“, erklärte Ceretic. „Dies ist ein Gasthof, hier bekommen Fremde Essen und Trinken und bezahlen dafür.“

„Bezahlen?“ Nun mischte sich echte Empörung in Ordulfs Stimme. „Aber das Gastrecht ist doch heilig. Selbst die verdammten Friesen respektieren das“, protestierte er.

Ceretic schüttelte den Kopf. „Die Sitten sind hier eben anders. Mach dir keine Sorgen, ich regele alles. Ihr seid meine Gäste.“

Ordulf nickte. Zumindest was sie betraf, waren die Verhältnisse damit klar. Mochten die Britannier ihre merkwürdigen Sitten behalten, er wusste, wem er für das Gastmahl seine Dankbarkeit schuldete.

„Einen schönen Goldring hat dir der König geschenkt. Darf ich einmal schätzen, wie schwer er ist?“, fragte er daher höflich und streckte erwartungsvoll seine Hand aus.

Ceretic nahm den Ring umständlich vom Hals, behielt ihn aber einen Moment und schaute ihn mit unverhohlenem Stolz an. „Ja, das Gold ist das eine“, erklärte er selbstzufrieden. „Aber wichtiger ist, was es bedeutet. Der König hat mich in den Ritterstand erhoben und in seinen Rat berufen!“ Nun endlich reichte Ceretic dem jungen Sachsen den goldenen Torque. „Und morgen reiten wir zurück zu Hengist. Im Norden gibt es Arbeit für uns.“

Durovernum, Juni 441

Ceretic

Am nächsten Morgen suchte Ceretic Vortigern noch einmal auf. Die Sachsen hatten einigen Eindruck gemacht. Zu recht, denn beide überragten die einheimischen Krieger um Haupteslänge.

„Du wirst die Heiden auf dem schnellsten Weg nach Londinium bringen“, begrüßte der Hochkönig seinen frischgebackenen Ritter ohne Umschweife.

„Können wir Pferde bekommen?“, fragte Ceretic zurück.

„150 Pferde? Nein, das ist ausgeschlossen. Vielleicht zehn, für dich und ihre Anführer. Wie hießen sie doch? Henkai und Ho-, Ho-, Howie?“

„Hengist und Horsa“, nickte Ceretic bestätigend.

„Aber“, fuhr der Hochkönig fort, „ich habe mir bereits etwas überlegt. Die Sachsen sollen die Thamesa hinaufrudern. Mein Sohn Vortimer wird euch auf einer Lusorie entgegenkommen und euch nach Londinium führen. Ich werde ihn anweisen, alles, was er an Pferden und Wagen finden kann, dort für euch bereitzustellen. Von Londinium aus werdet ihr so schnell ihr könnt nach Lindum aufbrechen, wo ich mit dem Rest des Heeres warte. Ich selbst breche schon morgen früh dorthin auf, gemeinsam mit meinen wichtigsten Ratgebern.“

Ceretic sah ihn erstaunt an. Wieso diese Eile? Doch der Hochkönig schien seine Gedanken zu erraten. „Ich habe gestern glückliche Nachricht erhalten. Die Pikten haben den hohen Wall überschritten.“

Ceretic sah seinen Herrn ungläubig an. „Glückliche Nachricht?“, entfuhr es ihm, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. Er war entsetzt. Was außer einem toten Pikten konnte einen glücklich machen?

Der König grinste breit. „Ahearn, der König von Elmet, hat die Krieger der nördlichen Reiche um sich geschart, sich aber nach einer verlorenen Schlacht hinter den Mauern von Eboracum verkrochen. Wenn ich sie aus der Notlage befreie, wird mich der ganze Norden als Hochkönig anerkennen. Nicht nur Elmet und Ebrauc, nein, auch die Herrscher von Rheged, Bryneich, Gododdin, bis hinauf zum hohen Steinwall, werden die Knie vor mir beugen. Also beeile dich, damit wir die Pikten nicht schon aufgerieben haben, bevor du mit den Sachsen nachkommst!“

„Warte mit der Schlacht, bis ich die Sachsen heran gebracht habe, sie werden dich nicht enttäuschen“, versprach Ceretic.

„Außerdem“, fuhr Vortigern fort, „wird es den halsstarrigen Londiniern guttun zu sehen, wer jetzt in meinem Dienst steht. Ihre Loyalität schwankt immer noch zwischen mir und diesem verdammten Ambrosius, als könnten sie sich zu jeder Gelegenheit aussuchen, wer ihnen besser passt. Und auch den Sachsen wird es gut tun, die Mauern Londiniums und seine Bauwerke zu bestaunen. Das wird diese Barbaren lehren sich darüber zu freuen, mir dienstbar zu sein. Ich bin der rechtmäßige rex britannorum!“

Also fängt der schlaue Fuchs wieder einmal zwei Fliegen mit einer Klappe. Ceretic nickte anerkennend. Doch nun war Eile geboten. Innerhalb einer Stunde verließ er mit den beiden Sachsen das Nordtor Durovernums in Richtung Regulbium.

VIII. Den blauen Dämonen entgegen

Londinium, Juni 441

Ordulf

Drei Tage später befand sich die kleine Flotte der Sachsen auf einem breiten Strom, der sich träge wie die Ælf dem Meer zuwälzte. Die Männer schwitzten, während sie die Schiffe mit der gerade erst einsetzenden Flut den Fluss hinaufruderten. Plötzlich tauchte vor ihnen ein Segel auf. Bisher hatten alle Boote vor den Langschiffen Reißaus genommen, aber bald erkannten sie, dass das Segel zu einem größeren Fahrzeug gehörte, das direkt auf sie zuhielt. Kurz bevor die Fremden auf Rufweite heran waren, holten sie plötzlich das Segel ein und legten den Mast um.

„Sie wollen uns doch nicht etwa angreifen?“, staunte Gerolf.

Doch die Fremden ließen ihr Schiff im gerade zwischen Flut und Ebbe stehenden Flusswasser dümpeln, anstelle es mit den Rudern auf Angriffsgeschwindigkeit zu bringen. Ordulf, der gerade zur Freiwache gehörte, betrachtete das Schiff mit zusammengekniffenen Augen.

Es war lang und extrem schlank. Er zählte 15 Riemen auf der ihnen zugewandten Seite, die aber alle reglos im Wasser schwammen. Die Ruderer selbst wurden von ihren runden Schildern verdeckt, welche sie an der Bordwand aufgehängt hatten.

Eine schlaue Idee, dachte Ordulf. Wie oft wurden nicht die Ruderer beim Angriff Ziel von Pfeil und Speer?

Auch der Steven hatte eine seltsame Form. Er schwang sich nicht in einer eleganten Kurve aus dem Wasser, wie bei der Heritog oder der Heldir, sondern bildete dicht über der Wasserlinie eine Spitze aus. Ein Rammsporn. Ein einzelner Balken ragte darüber nach oben und lief in einem stilisierten Drachenkopf aus. So ein Schiff hatte Ordulf noch nie gesehen. Es wirkte wie eine Schlange auf dem Wasser und ihr Biss konnte für andere Schiffe vermutlich ebenso todbringend sein, wie der einer Kreuzotter für Kinder und Fohlen.

Die fremden Riemen senkten sich ins Wasser. Das Schiff stoppte auf und ein Mann rief in der seltsam melodischen Sprache der Britannier zu ihnen hinüber. Ceretic übersetzte so laut, dass auch Ordulf alles verstehen konnte.

„Das ist Vortimer, der Sohn des Hochkönigs. Er wird uns nach Londinium und dann weiter in den Norden gegen die Pikten führen.“

Nun kniff auch Hengist die Augen zusammen, allerdings wegen der Sonne, die bereits ihren Zenit überschritten hatte, und nicht weil er so stumpfe Augen wie Ordulf gehabt hätte. Er hob die Hand zum Gruß. „Sag ihm, dass Hengist Witgissunu, seinen Gruß erwidert“, forderte er Ceretic auf und rief seiner Besatzung dann zu: „Wir wollen den Prinzen gebührend grüßen. Hoch Vortimer!“

Dreimal schickten die Sachsen von ihren Ruderbänken ein donnerndes „Hoch Vortimer“ zu dem fremden Schiff hinüber.

Am Abend, sie hatten die Schiffe beim Einsetzen der Ebbe ans schlammige Ufer gezogen, denn gegen den Strom gab es kaum ein Vorankommen, bemerkte Ordulf ein unheimliches Glimmen am nördlichen Horizont.

„Die Lichter der großen Stadt“, erklärte Tavish auf mehrfache Nachfrage. Er tat sich immer noch schwer mit dem Sächsischen, Ordulf verstand ihn nur mit Mühe.

Ein kräftiges Lachen lenkte Ordulfs Aufmerksamkeit von dem jungen Britannier und den Lichtern der Stadt ab. Vortimers britannische Besatzung lagerte abseits der Sachsen am Ufer des dunkel daliegenden Stromes. Fast wurden sie von den hängenden Weiden und Erlen verdeckt.

Ordulf schlug gedankenverloren nach einer Mücke. Sein Blick glitt weiter am stillen Ufer entlang. Nur der Prinz selbst saß zusammen mit Hengist, Horsa, Willerich und Ceretic in der Runde der angeworbenen Sachsen. Vortimer schien nicht im Mindesten besorgt. Er erzählte eine Geschichte, die Ceretic für die Zuhörer von jenseits des Meeres übersetzte. Hengist schien sich zu amüsieren wie schon lange nicht mehr. Sein helles Lachen durchschnitt die Stille der Nacht. Hatte er ihn überhaupt einmal so ausgelassen erlebt?, wunderte Ordulf sich.

Am darauffolgenden Tage kamen sie nach Londinium. Die Stadt schien noch bedeutend größer als Durovernum zu sein. Die Mauer, mehr als drei Mann hoch, umschloss eine unzählbare Menge steinerner Gebäude. Doch selbst Ordulf fiel auf, dass Londinium einmal für mehr Menschen gebaut worden war, als nun darin wohnten. Große Flächen im Inneren der grauen Mauern lagen brach oder waren mit den Trümmern verfallener Häuser bedeckt.

 

Am meisten beeindruckt hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft der Hafen. Dort lagen insgesamt drei der schlanken Naves lusoriae. So hatte Ceretic Vortimers Schiff bezeichnet. Nach ihrer Größe und dem niedrigen Freibord zu urteilen, waren sie nur für den Einsatz auf dem Fluss – der Thamesa, wie er inzwischen erfahren hatte – und allenfalls in Küstennähe gebaut. Doch trotz ihrer schlanken Linien waren nicht sie es, die Ordulfs Blick gefesselt hatten. Nicht weit von ihnen lagen die verrottenden Gerippe weiterer Schiffe im Schlick. Unter ihnen eines, welches Ceretic als Liburne bezeichnet hatte. Es musste einmal mehr als doppelt so groß wie die stattliche Heritog gewesen sein.

Und noch etwas am Hafen hatte Ordulf den Atem stocken lassen: die Brücke. Nicht ein einfacher Holzsteg, wie er ihn aus Sachsen kannte. Nein, die Brücke ruhte auf mehreren Pfeilern inmitten des Flusses. Die Wassermassen schossen und tosten an den Pfeilern vorbei und hoch darüber spannten sich schier endlos lange steinerne Bögen, die eine dieser geraden Römerstraßen quer über den Strom trugen. Seitdem hatten sie mehrere Flüsse auf ähnlichen, wenn auch kleineren Brücken überquert. Es klang hohl, wenn die Hufe der Pferde auf die steinernen Straßen schlugen, doch sie scheuten nicht ein einziges Mal und auch Ordulf selbst nahm nicht das geringste Schwanken wahr.

Fünf Tage nachdem sie Londinium durchquert hatten, befanden sie sich wieder auf einer der schier endlosen, geraden Römerstraßen. Die Sonne der letzten Tage hatte sich verzogen. Der Wind stand ihnen entgegen und Regen peitschte Ordulf ins Gesicht. Er fluchte leise unter dem Gewicht seiner Ausrüstung. Hengist und einige ausgesuchte Sachsen waren in Londinium mit Pferden versorgt worden. Für den Rest von ihnen hatte Vortigern lediglich drei Ochsenkarren bereitstellen lassen, viel zu wenig, um das gesamte Gepäck der hundertzweiundfünfzig Männer aufzunehmen. Auch Ceretic und Vortimer mitsamt seiner Eskorte waren selbstverständlich beritten. Daher sah Ordulf von ihnen nun auch nichts mehr. Sie hatten sich, sobald die ersten Tropfen vom Himmel fielen, nach Norden abgesetzt und würden vermutlich in einer trockenen Scheune auf sie warten. So hatte sich Ordulf den Kampf gegen die Pikten nicht vorgestellt.

Wenigstens in Bezug auf die Nahrung hatte der Hochkönig Vortigern nicht zu viel versprochen. Jeden Abend, wenn die Sachsen hungrig und müde in den Scheunen eines Dorfes lagerten, sorgte Vortimer für ausreichend Fleisch, Brot, Bier und Feuerholz.

„Ob wir bald auf diese verdammten Pikten treffen?“, fragte Ypwine Gerolf, der neben Thiadmar und Ordulf am Feuer saß, am Abend dieses Tages.

Gerolf zerrte gerade mit beiden Händen an einem Stück Fleisch, in dem er sich festgebissen hatte. Schließlich ließ er von dem zähen Stück Schaf ab und wischte sich das Fett aus dem Bart. „Entweder Vortigerns Truppen haben sie schon ohne unsere Hilfe vertrieben oder sie kommen uns bald entgegen“, vermutete er und nahm einen neuen Anlauf, der widerspenstigen Keule beizukommen.

Ordulf hörte schweigend zu, doch am Abend reinigte er sorgfältig seinen Sax und prüfte die Schärfe der Klinge. Wie würde er sich wohl in seiner ersten Schlacht schlagen?

Früh am Morgen ging es weiter, die Kolonne der Sachsen zog sich über eine lange Strecke Weges hin, doch immerhin schien heute endlich die Sonne. Gegen Mittag geriet der Zug vorne plötzlich ins Stocken. Ordulf kniff die Augen zusammen, konnte den Grund aber nicht erkennen.

„Dort kommen zwei Reiter auf uns zu“, rief schließlich jemand weiter vorn in der Kolonne. Dann entdeckte Ordulf sie auch.

Zwei völlig verdreckte Reiter auf kleinen britannischen Pferdchen, denen der Schaum vor dem Maul stand.

„Die müssen wichtige Nachrichten überbringen, wenn sie sich so beeilen“, mutmaßte Gerolf.

Die sächsische Kolonne war inzwischen wieder dicht aufgeschlossen und Ordulf sah gespannt zwischen Hengist und den sich nähernden Britanniern hin und her. Die Reiter hielten direkt auf Vortimer zu und als sie ihn erreichten, entspann sich zwischen ihm, den beiden Fremden und Ceretic sofort ein aufgeregtes Gespräch. Ordulf verstand kein Wort und vermutlich ging es Hengist nicht besser.

Endlich wandte sich Ceretic an den Sachsenfürsten. Horsa und Willerich rückten heran, um ebenfalls zu hören, was die Boten berichteten. Unter den Sachsen begannen derweil wilde Spekulationen zu kreisen.

„Sie brauchen uns nicht mehr und wir sollen wieder umdrehen“, argwöhnte Thiadmar.

„Vielleicht hat uns der Feind umgangen?“, vermutete Gerolf, doch da löste sich Hengist selbst aus der Gruppe der Reiter und trabte in die Mitte des Zuges, sodass ihn alle gut sehen und hören konnten.

„Ich habe gute Nachrichten für euch“, rief er. „Die Pikten haben die Truppen des Hochkönigs in die Flucht geschlagen.“

„Das sollen gute Nachrichten sein?“, brummte Ypwine. „Gute Nachrichten wären es, wenn wir zu der Insel vor der Thamesa-Mündung umkehren könnten. Ich hätte keine üble Lust, an dem Fleet, den ich dort entdeckt habe, einen Hof zu bauen.“

Doch Hengist fuhr schon mit erhobener Stimme fort: „Vortigern wurde auf dem Marsch zu einer Stadt namens Eboracum von den Pikten überrascht. Seine Armee ist geschlagen und hat sich hinter den Mauern eines anderen Ortes verschanzt. Er befiehlt uns, schnellstens dorthin zu kommen. Es gibt also noch genug für uns zu tun.“

„Das Ganze schmeckt mir nicht“, maulte Gerolf. „Sollen auch wir uns hinter Mauern verstecken? Unsere Schilde sind unsere Mauern. Wir werden dem Hochkönig zeigen, wozu Sachsens Krieger fähig sind.“

Beifälliges Gemurmel antwortete dem alten Recken, doch da gab Hengist bereits das Zeichen zum Weitermarsch. Bald stieg Ordulf der Geruch von Feuer in die Nase. Als die Straße auf einem Höhenzug aus dem Wald trat, sahen sie am Horizont Rauchsäulen aufsteigen. Dort im Norden brannten Dörfer.

„Ich dachte, der Hochkönig steht noch zwischen uns und dem Feind. Wieso brennen denn hier schon die Dörfer?“, wunderte sich Ypwine. „Hat Vortigern etwa auch diese Stadt nicht gehalten und sein Heer ist vollends aufgerieben worden?“

„Seht nur dort rechts“, rief plötzlich eine Stimme, die Ordulf bekannt vorkam. Dann fiel ihm ein, wer das war. Kein anderer als der einäugige Halvor. Ordulf verfluchte seinen Hochmut. Er hätte nie und nimmer zustimmen sollen, als Horsa den Kerl verschonte. Sicher wartete der Ebbingemanne nur auf eine Gelegenheit zur Rache. Aber für solche Gedanken war es nun zu spät. Ordulf seufzte und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die angegebene Richtung, aber erkennen konnte er nur den dunklen Wald. Thiadmar neben ihm schien etwas wahrzunehmen.

„Da bewegt sich etwas“, rief auch er. „Sind das Reiter?“

Halvors eines Auge schien besonders scharf zu sein. „Da sind gerade drei Reiter im Wald verschwunden“, behauptete er.

„Wir verfolgen sie nicht“, befahl Hengist streng. „Sie sollen denken, wir wollten uns zusammen mit den Britanniern klammheimlich hinter den Mauern dieser Stadt verstecken.“

Gerolf quittierte die Anweisung mit einem triumphierenden Schnaufen. „Ich wusste, dass Hengist sich nicht wie ein Feigling verkriecht“, frohlockte er.

Da sah Ordulf, wie sich zwei Berittene vorn von ihrer Kolonne lösten. Gerade noch in Sichtweite des Heeres blieb der erste stehen, während sein Kamerad weiter eilte. Hengist sandte also eigene Späher aus. Der zweite Reiter würde sich seinerseits bis an die Grenze des Sichtfeldes des ersten vorwagen, dann wäre seinerseits wieder der erste dran und so weiter, bis sie irgendwann auf den Feind stießen.