Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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„Lasst sie ins Wasser, Männer!“, brüllte Hengist da. Gehorsam ergriffen Ordulf und die anderen Ruderer der Heritog nach dem verstärkten Dollbord des Schiffes.

„Und eins …“, gab Hengist den Takt vor, während sie sich mit aller Kraft gegen den schweren Rumpf stemmten. Erst langsam, dann immer schneller rutschte die Heritog in die Fluten. Ein gedehntes Quietschen erklang, als sie über den groben Sand glitt.

„Sie ruft nach der See!“, behauptete der alte Witiko. „Ein gutes Omen.“

Als Ordulf bis an die Hüfte im Wasser stand, merkte er, wie der Auftrieb das schwere Fahrzeug endlich vom Grund hob. Die Männer vor ihm waren bis zur Brust durchnässt, aber in der warmen Sommersonne sorgte das nur für ausgelassene Heiterkeit und einige Männer begannen, sich übermütig im Wasser zu balgen. Auch Ordulf befand sich in einem Stadium höchster Aufregung. Das war der Beginn seiner ersten Fahrt und die alte Priesterin hatte prophezeit, dass man sich noch in dreihundert Jahren daran erinnern würde. Und er, Ordulf Swænsunu, jüngster Spross eines unbedeutenden dithmarscher Geschlechts, wäre ein Teil davon. Der Gedanke ließ ihn schwindeln. Was würde wohl Gutha sagen, wenn er mit Ruhm beladen wieder vor ihr stand?

Aber da riss ihn Hengists nächster Befehl aus den Tagträumen: „Ins Boot, Männer, und legt die Riemen ein!“

Die Heritog schwankte bedenklich, als ihre vierundfünfzig Krieger über die Seiten kletterten. Ordulf nahm seinen Platz auf der Ruderbank in Steuerbord ein. Hengist hatte die Ruderer sorgfältig nach Gewicht und Kraft verteilt. Ein junger Haduloher namens Thiadmar würde sich mit Ordulf beim Rudern alle zwei Stunden abwechseln. Des Nachts, wenn die Umstände es einmal verlangten, dass sie auf dem Schiff blieben, müssten sie sich auch den engen Raum zwischen ihrer und der nächsten Ruderbank teilen.

Eigentlich besaß die Heritog auch ein Segel, aber das konnte man nur einsetzen, wenn der Wind direkt von achtern kam. Daher lagen Mast, Rah und Segel meist sorgfältig verstaut mittschiffs in der Bilge.

Ordulf ergriff seinen Riemen, führte ihn durch die Bastschlaufe an der Keipe, einer Art hölzernem Dorn, der mit Lederriemen fest an der verstärkten Dollbordkante der obersten Planke verzurrt war. Er diente als Hebelpunkt, wenn die Riemen durchs Wasser gezogen wurden.

„Immer schön im Takt. Wenn ein oder zwei Luftzüge dabei sind, ist das nicht so schlimm“, hatte Gerolf, einer der beiden erfahrenen Krieger auf der Bank vor ihnen, ihm und Thiadmur eingeschärft. „Ihr zieht einfach beim nächsten Schlag wieder voll durch. Wenn ihr dagegen aus dem Takt kommt oder zu tief eintaucht, könnt ihr das ganze Schiff stoppen.“

„Wollen doch mal sehen, ob die anderen mit uns mithalten können“, feuerte Hengist seine Mannschaft an. Er hielt das Steuerruder mit beiden Händen schräg nach achtern, damit es im flachen Wasser nicht den Grund berührte. Ein erwartungsfrohes Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und die blonden Strähnen flatterten frei im milden Westwind.

„Auslage“, brüllte er dann.

Ordulf rutschte auf seiner Ruderbank mit ausgestreckten Armen vor und tauchte die Riemen ins Wasser.

„Und los“, gab Hengist das Kommando zum Anrudern.

Die Heritog schien sich unter dem plötzlichen Druck der Ruder geradezu aufzubäumen.

„Merkt ihr, wie sie nach der See hin drängt?“, rief Hengist wieder mit einem Grinsen im Gesicht.

„Wie ein junges Pferd, dem man die Zügel hingibt“, kommentierte Gerolf. „Aber sie kommt auch von der Schwinge aus Stood. Dort werden die besten Schiffe gebaut.“

Ordulf hörte nur halb hin, er konzentrierte sich lieber auf den Takt des Schlagmanns. Und auch Luftschläge wollte er sich nur fünf Bänke vor Hengist auf keinen Fall erlauben.

Anfangs machten ihm die Wellen dennoch sehr zu schaffen. Einmal tauchte sein Ruderblatt zu tief ein, dann schnellte es in einer Gischtwolke aus dem Wasser, sodass er fast hinterrücks von der Ruderbank gefallen wäre, als die Wasserlast, gegen die er sich stemmte, plötzlich nachgab. Doch bald fanden seine Arme den Rhythmus und die rechte Tiefe und sein Blick begann zu den beiden anderen Schiffen zu schweifen. Sie lagen tatsächlich ein ganzes Stück hinter der Heritog zurück und es schien Ordulf, als wachse ihr Vorsprung noch weiter.

„Schlagzahl reduzieren“, befahl der Häuptling dann auch bald darauf. „Sonst kommt mein lieber Bruder nie hinterher und die Keydinger schon gar nicht.“ Er lächelte immer noch selig.

Ordulf konnte sich nicht erinnern, den grimmigen Krieger in den letzten Wochen je in so anhaltend guter Laune erlebt zu haben. Achtern neben ihm stand Ceretic und schaute mit zusammengekniffenen Augen über die See. Ordulf überkam einmal mehr ein warmes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Britannier.

Oceanus Germanicus, Juni 441

Ceretic

Am Vorabend hatten sie auf einer großen Sandbank vor der friesischen Küste gelagert, während ein voller Mond das trocken gefallene Watt mit einem silbernen Schimmer überzog. Auch Hengist schien keine Lust zu haben, seinen Zwist mit den streitbaren Bewohnern dieses Landstrichs zu erneuern.

Nun rauschte der Bug der Heritog wieder durch die Wellen. Jetzt, wo er Rowena hinter sich gelassen hatte, zog es Ceretic mit aller Macht in die Heimat. Würden sie rechtzeitig kommen, um Britannien vor den Pikten zu beschützen? Die britannische Küste war nun in greifbarer Nähe. Wenn die Männer heute und morgen noch genauso kräftig ruderten, wie in den letzten zwei Tagen, würde schon am morgigen Nachmittag Ruohims Strand unter ihrem Kiel knirschen. Ceretic beging einmal mehr den Fehler eines jeden Seemanns und suchte viel zu früh am fernen Horizont nach Land. Noch konnte man seine Heimat unmöglich erkennen. Das einzige, was Ceretics Augen in der wogenden See Halt bot, waren die friesischen Inseln in Backbord und zwei Schatten am achterlichen Horizont, die wohl die Heldir und Selah darstellten. Hengists Schiff hatte sich einmal mehr vom Rest der kleinen Flotte abgesetzt.

Gegen Mittag schien sie das Glück zu verlassen. Plötzlich lösten sich zwei flache Schatten von der Inselkette in Backbord.

„Die verdammten Friesen“, entfuhr es Ceretic.

Hengist hatte sie auch bemerkt. Verärgert runzelte er die Stirn. „Die wollen uns doch nicht etwa angreifen? Die haben wohl keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben!“

„Lass uns lieber auf die anderen beiden Schiffe warten“, schlug Ceretic vor.

Doch Hengist wollte davon nichts wissen. „Ich soll warten, dass mein Brüderchen mir zu Hilfe eilt?“, brauste er auf. „Wenn du kein Fremdling wärst, der unsere Sitten nicht kennt, würde ich dich dafür über Bord werfen!“

Ceretic fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Hatte der Sachse nicht gesehen, dass er durchaus Manns genug war sich zu wehren?, fragte er sich zornig. Aber dann dachte er an seinen Auftrag und die heimliche Geliebte und schluckte seinen Stolz herunter. Der Sachse würde sich nie ändern.

„Jetzt werde ich dir etwas zeigen, was du König Vortigern erzählen kannst“, rief Hengist verächtlich und lenkte die Heritog direkt auf die beiden friesischen Schiffe zu. Diese waren offensichtlich von dem Manöver irritiert. Ceretic sah, wie die Riemen des vorderen Schiffes inne hielten, offenbar um das hintere aufschließen zu lassen, wie es jeder Seemann, der bei klarem Verstand war, täte.

„Klar zum Entern, Männer“, brüllte Hengist seiner Freiwache zu.

Die Sachsen antworteten mit einem erwartungsvollen Johlen.

„Ihr sollt eure Waffen nehmen, aber nicht gleich über Bord fallen“, schrie Hengist über den Lärm hinweg, als die Freiwache auf dem engen Raum in mittschiffs ihre Waffen anlegte. Die Heldir schlingerte einen Augenblick bedenklich hin und her, doch dann stabilisierte sich der schlanke Rumpf wieder.

„Du nimmst jetzt mal das Ruder“, wies Hengist Witiko an. Dann stülpte er seinen Helm mit dem vergoldeten Kamm über die wehenden Strähnen blonden Haares, doch er legte kein Kettenhemd an. Bei einem Gefecht auf See konnte man nur zu leicht ins Wasser fallen und die schweren Eisenringe zögen ihren Träger unweigerlich in die Tiefe. Dann nahm Hengist seinen Schild und lief über die Mittelplanke in den Bug.

„Rudert weiter, aber reduziert die Schlagzahl auf mittleres Tempo“, rief er von vorne seinen Männern zu. „So ist’s recht. Die Friesen sollen bloß nicht glauben, wir hätten Angst vor ihnen!“

Die beiden vermeintlichen Gegner näherten sich nun rasch. Ceretic konnte inzwischen die Details ihrer Bauweise gut erkennen. Flach, mit rundem Bug und Heck. Genauso wie das Schiff, welches sie auf der Reise von Britannien angegriffen hatte. Plötzlich scherte einer der Friesen nach Steuerbord aus.

„Sie wollen uns in die Zange nehmen!“, rief er warnend, doch Hengist blinzelte nicht einmal. Starr ruhten seine eisigen Augen auf dem Feind. Dann waren die Friesen fast auf Rufweite heran. Erstaunt beobachtete Ceretic, wie Hengist seinen Schild als Schallverstärker an die Lippen hob. Er brüllte mit ohrenbetäubender Lautstärke: „HENGIST!“

Offenbar hatten die Friesen ihn trotz der Entfernung verstanden und Ceretic traute kaum seinen Augen. Die beiden flachen Schiffe mit dem merkwürdig runden Heck und Bug drehten unvermittelt ab und nahmen Reißaus.

„Seht, wie schnell die Friesen rudern können!“, lachte Hengist grimmig.

Ceretic verschlug es die Sprache. Was für einen schrecklichen Ruf musste der Sachse bei den Friesen erworben haben!

Dann drehte er sich um und entdeckte Horsa und Willerich. Sie hatten inzwischen wieder dichter aufgeschlossen und pullten schnell und hart. Die See schäumte unter ihren Riemen. Ob auch die Friesen sie gerade bemerkt hatten? Oder schlug allein die Furcht vor Hengists Namen diese harten Männer in die Flucht? Ceretic konnte es sich kaum vorstellen. Aber mit welcher Gerissenheit und wie viel Geschick hatte Hengist dann den richtigen Zeitpunkt abgepasst, um ihn und seine Mannschaft zu beeindrucken. Jedenfalls ließ sich Hengist nicht auf eine Verfolgung der flüchtigen Friesen ein. Bald verschwanden sie, ebenso rasch wie sie erschienen waren, in der Sicherheit ihres Wattenmeeres mit seinem Gewirr an Inseln und Sandbänken.

 

VII. Eine neue Welt

Durovernum cantiacorum, Januar 441

Vortigern

„Pikten, Scoten und Sachsen mästen sich am Fett unserer Weiden. Im Land wütet die Hungersnot und unsere heilige Kirche wird von Heiden bedroht. Welche Zeichen willst du noch? Die Häresie des Pelagius und diese gottverdammten Agricola grassieren noch immer im ganzen Land! Gib endlich der Kirche die Ehre und vernichte diese Häretiker. Vielleicht wird Gott sich dann wieder deiner erbarmen“, tönte Albanus drohend.

Der Bischof, sechs verdiente Unterführer – die Vortigern gern als seine Equites, seinen Ritterstand, bezeichnete –, sein oberster Iudex – oder Barnwr, wie ihn die ungebildeten Untertanen in ihrer britannischen Mundart nannten – und der gerade mannbar gewordene Sohn Vortimer gehörten zu Vortigerns Kronrat, dem Consilium. Sein jüngerer Sohn Cateyrn zeigte zwar vielversprechende Anlagen, war aber mit zwölf Jahren noch zu jung, um seine Stimme im Rat zu erheben.

Der große Rat, oder Comhairle, wie er entgegen Vortigerns Vorliebe in der barbarischen Muttersprache seiner Untertanen genannt wurde, umfasste, zumindest der Theorie nach, alle Kleinkönige Britanniens und die Vorsteher der Städte, die sich wie Londinium eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt hatten. Von dieser Gruppe war aber lediglich Gwyrangon, Vortigerns Vasallenkönig über Cantium, anwesend. Der gesamte Comhairle war seit Menschengedenken nicht mehr vollständig zusammengetreten. Es wäre auch keineswegs klar gewesen, ob Vortigern tatsächlich die meisten Anhänger hinter sich vereinigen könnte, um den Titel des Hochkönigs über Britannien zu beanspruchen. Tatsächlich neigten nicht wenige der Kleinkönige dazu, Ambrosisus von Dumnonias Ambitionen auf eine Vorherrschaft über alle Stämme zu unterstützen. Und je länger Vortigern zögerte, je weniger Anhänger blieben ihm. Das offene Misstrauen in den Blicken seiner Gefolgsleute zeigte, dass zumindest der Iudex Muirdoch und Bischof Albanus den Ernst der Situation erfasst hatten.

Nun starrten ihn alle gespannt an. Vortigern ließ sie warten. Heute genoss er die Spannung, denn seine nächsten Worte würden die Probleme Britanniens, und damit seine eigenen, lösen. Sein Plan war so einfach wie genial. Theatralisch wickelte er seine Rechte in den purpurnen Mantel, der ihn wie einem römischen Imperator aussehen ließ. Er konnte ein schmales Lächeln nicht unterdrücken. Der alte Rechtsgelehrte und der Bischof mochten schlaue Füchse sein, aber ihm, dem einzig wahren Princeps, oder lieber gleich rex britannorum, waren sie nicht gewachsen.

„Es ist, wie ihr sagt“, begann er schließlich in langsamen, wohlgesetzten Worten. „Die Feinde, die uns umringen, sind darin übereingekommen uns zu vernichten. Uns Britanniern dagegen fehlt diese Einigkeit. Wir fürchten die Waffen der Scoten aus Hibernia und Dál Riata, wir zittern vor den Pikten und bei jedem ungünstigen Wind schauen wir voll Zagen auf unsere Küsten, ob sich nicht die Schiffe der Sachsen am Horizont zeigen. Die Römer sind fort und können uns nicht mehr helfen, Rom selbst wurde von Alarichs Horden geplündert. Aber am schlimmsten ist, dass die Häuptlinge und Fürsten unseres Volkes uneinig und die heilige Kirche zerteilt sind! Oh ja, zerteilt sage ich“, fügte er mit erhobener Stimme hinzu, um Albanus’ Einwand gleich zu Beginn abzuschneiden. „Aber was können wir tun, um unsere Lage zu wenden?“ Er schaute zunächst Albanus streng und vorwurfsvoll in die Augen, sodass dieser die Luft wieder entweichen ließ, die er gerade eingesogen hatte, um lautstark zu protestieren. Dann blickte er zu seinem Sohn und den übrigen Ratgebern. „Ich will euch sagen, was zu tun ist“, fuhr Vortigern fort, nachdem er das betretene Schweigen einige Augenblicke genossen hatte. „Wir müssen die Einigkeit unserer Feinde zerstören und sie gegeneinander kämpfen lassen.“

„Wie willst du das anstellen?“, platzte Vortimer heraus. Auch Albanus und Muirdoch reckten angriffslustig die Hälse vor.

„Wir rufen die Sachsen übers Meer“, antwortete Vortigern ruhig.

Lauter Widerspruch erhob sich, aber Vortigern hob wieder die Stimme und übertönte die Rufe der Ratgeber. „Wir geben ihnen Silber und etwas Land an der Küste. In Ruohim, was ihrem Land ähnlich ist und auch genau gegenüber liegt. Da haben wir sie stets unter Kontrolle. Von dort können wir sie gegen die Pikten senden und auch ihre Stammesgenossen werden es nicht mehr wagen, über unsere Küsten herzufallen oder in die Thamesa einzudringen und unsere Dörfer zu plündern. Und falls doch, müssen sie sich mit ihresgleichen schlagen. Es wird billiger für uns, die sächsischen Piraten zu bezahlen, als von den Pikten einen brüchigen Frieden zu erkaufen, zumal wir so alle unsere Feinde auf einmal beschäftigen. Und wenn viele von ihnen im Kampf fallen? Dann wird es nur billiger. Zumal wir sie mit der Beute der Pikten aushalten können.

Ich habe lange nachgedacht: Pikten, Skoten und Iren sprechen, wie wir alle, ähnliche Sprachen. Wenn wir eines dieser Völker auswählten, würden sie sich bald einigen und ihre Waffen gemeinsam gegen uns richten. Das Gegrunze der Sachsen hingegen versteht niemand und so werden sie uns allein zu Diensten sein!“

Vortigern beobachtete zufrieden die Mienen seiner Ratgeber.

Muirdoch saß mit offenem Mund da und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und selbst aus Albanus’ Gesicht war der ständige leicht herablassend-spöttische Ausdruck für einen Augenblick gewichen. Aber restlos überzeugt war er nicht.

„Ich hoffe, du weißt, was du tust, Vortigern“, sagte er gedehnt. „Die Sachsen sind eine Plage Gottes und nicht durch Heer oder Kraft soll es geschehen …“

Vortigern runzelte die Stirn. Dieser Griesgram.

Doch da fiel ihm schon sein Sohn Vortimer ins Wort. „Du bist der einzige Hochkönig von Britannien!“, rief er aufgeregt.

Oceanus Germanicus, Juni 441

Ordulf

Schon dreieinhalb Tage waren sie gerudert, mal in sengender Sonne gegen die Flut, dann wieder mit frischer Kraft, wenn die Sonne sank und der Strom zu ihren Gunsten kenterte.

„Sieh nur“, raunte Ordulf Thiadmar zu. „Hengist steht unermüdlich am Ruder. Als wäre er in Erz gegossen.“ Voll Bewunderung blickte er auf den berühmten Seesachsen.

„Wetter und Müdigkeit scheinen für ihn Worte ohne Bedeutung zu sein“, nickte der junge Haduloher.

Hengist steuerte die Heritog immer dicht unter Land und die Gefährten in den anderen Schiffen folgten in mehr oder weniger großer Entfernung. Am Abend landeten sie stets auf einer kleinen Insel oder an einem unbewohnten Abschnitt der Küste. Der inzwischen fast volle Mond spiegelte sich bis an den Horizont in den grauen Wellen. Mit Ausnahme der kurzen Begegnung mit den Friesen hatten sie kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Ihr Anblick schlug alle kleineren Schiffe und die Küstenbewohner in die Flucht.

Wahrscheinlich, überlegte Ordulf, hatte sich die Nachricht, dass Hengist selbst zur See fuhr, wie ein Lauffeuer an der friesischen Küste verbreitet. Der Gedanke erfüllte ihn mit Stolz und eine Woge der Loyalität zu seinem neuen Herrn und Heritog durchströmte ihn.

Inzwischen hatte sich Ordulf mit einigen Schiffsgenossen angefreundet. Der Gefährte des finsteren Gerolf auf der Ruderbank vor ihm hieß Ypwine. Beide waren schon zu Zeiten von Witgis auf dem späteren Hengisthof geboren und nachdem sie aufgehört hatten mit Hengist zu spielen, waren sie seine Gefolgsleute geworden. Beide waren mit ihm in Friesland gewesen. Ganz anders als Gerolf war Ypwine ein stiller, etwas zurückhaltender, aber durchaus freundlicher Zeitgenosse. Ordulf schien es, als wäre er lieber als Bauer in Haduloha geblieben als auf einen Raubzug nach Britannien zu fahren. Für Ordulfs eigenen Rudergenossen Thiadmar war es ebenfalls die erste Fahrt in die Fremde.

„Ob wir heute Abend schon Britannien erreichen?“, richtete Ordulf eine Frage an die beiden erfahrenen Gefährten vor sich.

„Will ich hoffen, hier auf der offenen See können wir schließlich nicht bleiben“, knurrte Gerolf düster.

Am Morgen hatte Ceretic, nach sorgsamer Musterung der Küste, den Kurs auf die offene See hinaus gewiesen. Kurz vor Mittag versank schließlich der letzte Streifen Festland achtern in den Wogen. Das machte selbst erfahrene Seeleute wie Ypwine und Gerolf nervös.

Doch nicht lange nach dem kurzen Gespräch tauchte vor ihnen endlich das ersehnte Land aus der diesigen See. Hengist selbst entdeckte es zuerst.

„Vor uns liegt Britannien. Ruhm, Ehre und Silber warten auf euch, Männer“, rief er ermutigend.

Die Schlagleute setzen aus und alle drehten sich aufgeregt um.

„Britannien!“, rief auch Gerolf und Ordulf meinte Erleichterung in dem Wort mitschwingen zu hören. Er selbst konnte noch nichts erkennen, aber am späten Nachmittag setzte Hengist die Heritog bei ablaufendem Wasser tatsächlich auf den Sand eines neuen Ufers. Bald schob sich ein zweiter Kiel daneben. Es war die Heldir, was soviel wie „Held“ bedeutete, womit Hengist sich in früheren Tagen ebenfalls selbst betitelt hatte. Zuletzt kam die Selah der Keydinger. Dieser Name bedeutete schlicht und einfach „Seehund“ und stand, soweit Ordulf wusste, in keinem engeren Bezug zu dem Eigner des Schiffes.

„Das ist die Insel Ruohim. Meine Heimat“, verkündete Ceretic stolz.

Soweit Ordulf erkennen konnte, lag vor ihnen ein völlig unberührter Strand, der zum Land hin durch hohe dornenbestandene Sanddünen abgeschlossen war. Ceretic wies mit der Hand nach Westen. „Dort liegt der Wantsum und auf der anderen Seite der Ort Rutupiae.“

Ordulf hörte gebannt zu, als Ceretic über das neue Land berichtete und versuchte sich alles zu merken. Er kniff die Augen zusammen und schaute suchend in die angegebene Richtung, doch so sehr er sich auch mühte, Rutupiae entdeckte er nicht.

„Auf Männer, genug herumgelungert. Wir gehen an Land!“, ließ sich da Hengist lautstark vernehmen.

Ordulf griff nach seinem Schild und sprang hinter Hengist ins niedrige Wasser. Sie wateten langsam, mit erhobenen Schilden, durch den feuchten Sand zum Ufer. Tang und Treibholz markierten die Flutwasserlinie, die sie ohne Gegenwehr erreichten.

„Wir müssen König Vortigern von unserer Ankunft unterrichten“, bemerkte Hengist. „Wohnt er in einer dieser grauen Hallen dort drüben?“

Anscheinend konnte Hengist mehr erkennen als Ordulf, denn er selbst sah immer noch nicht mehr als einen dunklen Schatten am Horizont, der sowohl Land als auch eine Wolke sein konnte.

Doch Ceretic lachte nur. „Dort soll Vortigern wohnen? Nein. Das sind nur die Römerruinen von Rutupiae. Wenn wir Glück haben, hält sich Vortigern in Durovernum auf. Ein ganzes Stück im Landesinneren, aber immer noch viel dichter als Londinium.“

Ordulf war bei einem der ersten Wörter hängen geblieben. Hatte Ceretic tatsächlich Römerruine gesagt? Von den Römern und ihrem sagenhaften Reichtum, der Macht ihrer Heere und einer unglaublich großen Stadt, in einem Land, in dem es immer Sommer war, hatte er vernommen. Bisher war ihm das alles wie ein Märchen vorgekommen. Und hier sollten diese geheimnisvollen Römer nun tatsächlich Spuren hinterlassen haben?

Ruohim, Juni 441

Ceretic

„Ich werde selbst gleich morgen früh aufbrechen, um König Vortigern von unserer Ankunft zu unterrichten“, schlug Ceretic vor, als er wenig später mit Hengist und den übrigen Anführern in ihrem provisorischen Lager am Strande Ruohims um das Feuer saß.

Die Männer der einzelnen Schiffe hatten sich in Gruppen in den Sand gelagert. Hengist sah ihn nachdenklich an.

„Sollte ich nicht besser selbst an König Vortigerns Hof reisen? Oder wird er kommen und uns hier in Empfang nehmen?“

„Ich glaube, es ist besser, wenn ihr hier auf meine Rückkehr wartet“, antwortete Ceretic rasch. „Wer weiß, was passiert, wenn wir vor Erreichen von Durovernum auf einen Trupp von Vortigerns Kriegern treffen. Und vielleicht weilt Vortigern gar nicht in Durovernum und wir müssen weiterziehen. Wer sollte dann während deiner Abwesenheit das Kommando führen?“ Außerdem soll Vortigern sehen, dass ich nicht nur sein Dolmetscher bin, sondern dass die erfolgreiche Anwerbung der Sachsen ganz allein mein Verdienst ist, fügte er in Gedanken hinzu. „Aber wenn du magst, sende einen oder zwei deiner Männer mit mir, um Vortigern ein paar echte Sachsen vorzustellen.“

 

Damit gab sich Hengist zufrieden.

Am nächsten Morgen standen zwei Krieger bereit. Zu seiner Freude erkannte Ceretic in dem einen den jungen Ordulf. Der andere war ein Veteran, der auf den Namen Gerolf hörte. Sein bereits ergrauender Bart bedeckte nur unzureichend ein feines Gewirr an Narben.

„Könnt ihr reiten?“, fragte Ceretic. Die beiden sahen sich grinsend an und brachen dann in Gelächter aus. Ceretic biss sich auf die Lippe. Natürlich kannten beide die Geschichte, nach der er vom Pferd gefallen war, als er Ordulf vor dem Tod im Moor retten wollte. Die Frage hätte er sich sparen können. „Also los“, knurrte er verärgert.

Ceretic führte die beiden Sachsen Richtung Nordwesten ins Zentrum der Insel. Zielstrebig folgte er einem alten Trampelpfad in den Wald hinein. Nach etwa einer halben Stunde verdichtete sich das Unterholz derart, dass auch am Tage ein grünliches Halbdunkel herrschte. Kurz bevor sie das andere Ufer erreichten, bedeutete Ceretic seinen Begleitern auf ihn zu warten. Er selbst suchte einen der ihm wohl bekannten Orte auf, an dem sich seine Landsleute bei Ankunft der Sachsen oder Pikten zu verstecken pflegten. Und tatsächlich traf er bald auf zwei alte Bekannte und einen Unbekannten.

„Morgan, Gwydion! Wie schön euch zu sehen. Ist der Comarchus hier?“, begrüßte Ceretic sie.

„Ceretic, bist du das wirklich? Wo hast du die ganze Zeit über gesteckt?“, fragte der Mann namens Morgan zurück. „Und was ist aus Malo und Tavish geworden? Sind sie mit dir zurückgekehrt?“ Dann zogen sich seine Augenbrauen plötzlich zusammen. „Und was machen diese ungläubigen Hunde bei dir? Wo sind sie jetzt? Wie bist du ihnen entkommen?“ Angstvoll blickte er in die Richtung, in der Ceretic die beiden Sachsen zurückgelassen hatte.

„Das hat Zeit bis später, lass uns jetzt lieber schnell verschwinden, sie können jeden Moment hier auftauchen!“, drängte der dritte, Ceretic bisher unbekannte Mann und zog Gwydion am Ärmel. Fast hätte Ceretic während seiner Zeit unter den Sachsen vergessen, was deren Auftauchen hier in Britannien bedeutete. Die Menschen fürchteten diese Barbaren mehr als den Tod selbst.

„Keine Bange. Die gehören zu mir. Die anderen am Strand übrigens auch. Malo und Tavish sind wohlauf, sie befinden sich im Lager und kommen zurück zu ihren Familien, sobald sie ihren Lohn empfangen haben. Die Sachsen werden euch nichts tun, wenn ihr ihnen nicht zu nahe kommt.“

„Das ist allerdings die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass diese Teufel einem etwas antun. Man darf ihnen nicht zu nahe kommen.“ Gwydion lachte humorlos. „Aber leider sind sie hier auf unserer Insel gelandet, falls du das noch nicht bemerkt hast.“ Einen Moment zögerte er, dann erschien auf seiner Stirn eine scharfe Falte. „Du hast sie doch nicht etwa hergeführt?“, fragte er.

Ceretic musste schlucken. „Sie sind nicht zum Plündern gekommen. König Vortigern hat sie gerufen“, versuchte er abzulenken. „Deshalb muss ich die beiden auch so schnell wie möglich zum Hochkönig bringen. Weißt du, ob er sich derzeit in seinem Hof in Durovernum aufhält? Und könnt ihr uns über den Wantsum bringen?“

Die sparsamen Erläuterungen Ceretics überzeugten die drei Britannier ganz offensichtlich nicht. Doch schließlich erklärte sich Morgan bereit, Ceretic und die beiden Sachsen über den Fluss zu rudern. „Aber in unser Versteck, zum Comarchus und den anderen, werden wir sie nicht führen, egal was du erzählst. Ich traue diesen Ungläubigen nicht einen Schritt weit. Du hast dich ja schon als Kind immer mit diesem Wulf abgegeben.“

Das Misstrauen seiner alten Freunde traf Ceretic mehr, als er sich eingestehen wollte. Sie kannten ihn doch!

Aber da fuhr Morgan schon fort: „Kommt gleich mit. Je schneller diese verteufelten Sachsen von unserem Ruohim verschwinden, desto besser!“

Seine beiden Begleiter verschwanden allerdings noch schneller; dankbar, nicht auf die leibhaftigen Sachsen treffen zu müssen. Als Morgan Ceretic zu dem wartenden Ordulf und Gerolf folgte, fiel Ceretic auf, wie seinem alten Freund die Knie schlotterten. Er schüttelte den Kopf. Auch Sachsen waren nur Menschen aus Fleisch und Blut.

„Doch noch ein Britannier!“, freute sich Ordulf, als sie die beiden Wartenden erreichten. „Ich dachte schon, wir wären allein auf der Insel.“

Bei den Worten zuckte Morgan zusammen. Ceretic musste schmunzeln. Auch für seine Ohren hatte einmal alles Sächsische wie eine wüste Drohung geklungen.

„Er freut sich, dich zu sehen“, übersetze er.

„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit, kann ich dir versichern“, knurrte Morgan, aber er beruhigte sich doch so weit, dass sie ihren Weg fortsetzen konnten.

Bald erreichten sie das Ufer des Wantsum. Ihnen gegenüber lag die Küste von Cantium. Morgan führte sie zu einem im Uferdickicht versteckten Ruderboot. Es handelte sich um eine kleine Curach. Ceretic und Morgan trugen das leichte Fahrzeug bis ans Wasser. Ceretic schmunzelte, als er sah, wie die Seeerprobten Sachsen das Fahrzeug kritisch beäugten, bevor sie umständlich einstiegen.

„Eigentlich ist Ruohim eine Insel und der Wantsum kein Fluss, sondern ein Sund“, erläuterte er, als Morgan sie vom Land abstieß.

„Merkwürdig. Man sieht gar keine Fischer“, wunderte sich Ordulf.

Ceretic fand das alles andere als merkwürdig. Immerhin lagen auf der anderen Seite von Ruohim drei sächsische Langschiffe.

Das kleine Ruderboot wurde von der hereinströmenden Flut nach Norden versetzt und erreichte das gegenüber liegende Ufer direkt unter den Ruinen des Kastells von Regulbium. Nachdem Ceretic und die beiden Sachsen ans Ufer gesprungen waren, wendete Morgan das Fahrzeug sofort und pullte mit ganzer Kraft in den Wantsum hinaus. Erst ein gutes Stück vom Ufer entfernt, wagte er, seine Schlagzahl zu verringern. Ordulf und Gerolf bestaunten derweil mit offenen Mündern die steinernen Ruinen des römischen Kastells. Die hohen Mauern aus grauem Stein wurden in regelmäßigen Abständen von roten Bändern aus Ziegeln unterbrochen.

„So etwas haben die Römer errichtet?“, fragte Ordulf schließlich und Ceretic dachte daran, dass er vermutlich noch nie einen richtigen Felsen oder gar ein Steinhaus gesehen hatte.

„Das und noch viel Größeres! Du wirst noch ganz anders staunen, wenn wir erst in Londinium sind. Komm jetzt.“ Er zog Ordulf am Ärmel hinter sich her.

Bald erreichten sie die Mauern und Ordulf ließ es sich nicht nehmen, die steinernen Ruinen scheu zu betasten. „Hart wie Stein“, bemerkte er schließlich verwundert.

Doch Ceretic wollte weiter. „Ja, ganz recht. Das ist Stein“, bestätigte er. „Vielleicht können wir im Dorf Pferde bekommen. Dann müssen wir nicht bis Durovernum laufen.“

Rasch zog er den noch immer völlig faszinierten Ordulf über den Hügel. Nun war es Ceretic, der erschrocken inne hielt. Am Fuße des Hügels lagen verbrannte Trümmer, nur vereinzelte Häuser zeigten die Spuren notdürftiger Reparaturen, während die grauen Ruinen des Kastells stumm und ungerührt wie ehedem auf das so grausam veränderte Dorf blickten. Menschen und Vieh konnte Ceretic nirgends entdecken. Regulbium war nicht mehr.

„Um Himmels Willen, wir kommen zu spät!“, jammerte er und rannte den Hügel hinab.

Erst im Dorf schlossen Ordulf und Gerolf wieder zu ihm auf. Ceretic blickte hilflos zwischen den Trümmern einher, doch niemand zeigte sich.

„Vielleicht haben sie sich in den Wald geflüchtet“, murmelte er wenig überzeugt.

„Hier ist jedenfalls niemand mehr“, stellte Gerolf sachlich fest.

„Die Spuren der Verwüstung sind nicht frisch“, bemerkte Ordulf. „Die Brände sind sicherlich schon einen Monat alt.“