Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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Ein hübsches junges Mädchen, welches neben den Pferden auf der Wiese saß und auf einem Halm kaute, blickte ihm interessiert entgegen. Sie hatte einen blauen Blumenkranz in ihr rotes Haar geflochten. Waren das Sandglöckchen vom Strand? Ordulf schämte sich, genauer hinzusehen. Nicht, dass sie ihn für einen gaffenden Jungen hielt.

Aber da rief sie ihn schon an: „Du bist ganz schön jung für so ein prächtiges Pferd.“

Ordulf lief rot an. So ein freches Ding – aber leider hatte sie recht und Hilda gehörte seinem Bruder. „Wir Dithmarschen züchten eben die besten Pferde“, antwortete er hochnäsig, um seine Verlegenheit zu überspielen.

Das Mädchen verzog den Mund. „Pah, Angeber“, rief sie und lief rasch davon. Ordulf blickte ihr einen Augenblick hinterher. Später, gegen Abend, suchte Swæn am Rande des Lagers einen Platz für ihr Zelt. Ordulf holte derweil Hilda, um sie zum Fleet hinunter zur Tränke zu führen. Da gerade Ebbe war, mussten sie durch einen breiten Saum Uferschlamm zu dem schmalen Wasserlauf in der Mitte waten, dafür war das Wasser aber klar und nicht mit Meersalz vermengt. Das treue Tier senkte den Kopf und trank gierig. Plötzlich spürte Ordulf einen Schlag im Genick. Er wusste zunächst gar nicht, wie ihm geschah. Immerhin stürzte er nicht in den Wasserlauf wie damals, als ihn der Widder Hinnerk überraschend angegriffen hatte. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um den nächsten Batzen Schlick genau ins Gesicht zu bekommen. Am Ufer standen zwei grinsende junge Kerle; dieselben, die ihn damals auf Wolderichs Hof in den Dreck gestoßen hatten. Einer hielt bereits die nächste Handvoll Matsch hoch.

„Das ist aber wieder ein besonders dreckiges Schwein. Das wollen wir lehren mit Mist nach uns zu werfen!“, rief der erste der beiden.

Ordulf lief rot an. Seinen Sax hatte er bei seinem Bruder und der übrigen Ausrüstung gelassen. Darum ballte er die Fäuste und stürzte sich unbewaffnet mit einem Wutschrei auf den näherstehenden der beiden jungen Kerls. Der versuchte seinerseits den Sax zu ziehen, aber Ordulf sprang ihm das letzte Stück entgegen und versetzte ihm einen Faustschlag auf die Kinnspitze, sodass sein Gegner hinterrücks umfiel und liegen blieb.

„To jodute“, schrie der andere aus vollem Hals.

Mit diesem Ruf forderte in ganz Sachsen das Opfer eines Gewaltverbrechens alle Männer in Hörweite, seien es Freie oder Knechte, zur Hilfeleistung auf. Wer dem nicht nachkam, machte sich selbst schuldig.

„Dieser Verräter hat einen Wehrlosen erschlagen!“

Bevor Ordulf sich versah, tauchten drei weitere Ebbingemannen wie aus dem Nichts heraus auf und stürzten sich auf ihn. Ob er sie aufgrund seiner Kurzsichtigkeit nicht gesehen hatte oder ob die rasende Wut schuld war, wusste Ordulf nicht und es blieb ihm auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Er wurde von der Wucht der drei Angreifer umgerissen und während zwei nach ihm traten, drückte der dritte seinen Kopf in den weichen Schlick. Ordulf versuchte nach Luft zu schnappen, bekam aber Schlick und Wasser in den Mund und musste husten. Ihm kam der Gedanke, dass sein Abenteuer möglicherweise bereits hier im Schlamm des Beufleets enden würde. Verzweifelt versuchte er, seinen Angreifer zu packen und von sich weg zu drücken. Mit der rechten Hand fand er den Bart des Gegners.

Die Augen, schoss es ihm durch den Kopf. Steck ihm die Finger in die Augen! Er tastete nach dem Gesicht, aber offenbar erkannten seine Gegner die Absicht und ohne dass der Mann auf ihm locker gelassen hätte, riss ein anderer seinen Arm weg und drehte ihn schmerzhaft nach außen. Ordulf trat und schlug mit der freien Linken und den Beinen wild um sich, traf aber niemanden. Unten im Schlamm hörte er nur leises Gemurmel und spürte weitere Tritte, doch dann verblassten alle anderen Gefühle gegenüber dem zunehmenden Drang, Luft zu holen.

Regulbium, Mai 441

Álainn

Álainn stöhnte. Wild pochte das Blut in ihren Schläfen. Sie hatte stechende Kopfschmerzen und ihr war zum Speien übel. Vorsichtig blinzelte sie; sie ahnte, dass das Tageslicht schmerzen würde. Als sie endlich die Augen offen hatte, brauchte sie einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Direkt vor sich erkannte sie ihre Mutter, doch etwas stimmte nicht. Dann plötzlich verstand sie das Bild, das sich ihr bot. Dort lag nur der abgeschlagene Kopf, zusammen mit den Häuptern weiterer Dorfbewohner auf einem blutigen Haufen. Sie wollte schreien, erbrach sich aber gleichzeitig und rang röchelnd nach Luft. Sie konnte die Augen nicht von den schaurigen Trophäen abwenden. Es waren insgesamt zehn oder zwölf Köpfe und sie kannte jeden einzelnen. Pádruig, der alte Schmied, der blonde Boyd … Ihr wurde schon wieder übel und sie würgte gelbe Galle hervor. Von hinten legte jemand die Hand um sie und drehte ihren Kopf sanft aber bestimmt von dem Anblick fort. Es war Akira, die Frau des Comarchus. Langsam kehrte Álainns Erinnerung zurück.

Die Pikten am Strand, das schreckliche Grinsen der blau bemalten Fratze und die erhobene Axt, der Schmerz in ihrer Hand. Ängstlich blickte sie hinunter auf ihre rechte Hand. Zeige- und Mittelfinger waren im Grundgelenk überdehnt worden. Um das Gelenk herum war die Haut bläulich verfärbt und stark angeschwollen und jetzt bemerkte sie auch die Schmerzen.

„Was wird mit uns geschehen?“, fragte sie nach einer Weile mit zitternder Stimme. Von weiter hinter ihnen drang gedämpftes Weinen an ihr Ohr.

„Sie werden uns fortschaffen auf ihren Schiffen, schätze ich“, antwortete Akira und wandte sich ab.

Álainn versuchte, nach den Schiffen zu schauen, was von ihrer Position aus nicht einfach war, da sie sich ängstlich bemühte, keinen weiteren Blick auf den Haufen der abgeschlagenen Köpfe zu erhaschen.

Wieso nur Regulbium?, dachte sie voll Schmerz. Herr, wie konntest du nur so etwas zulassen!, richtete sie ihre Klage gegen den Himmel, da ihr sonst niemand Antwort geben konnte. Die aufkeimende Bitterkeit wurde von einer neuen Welle der Übelkeit weggeschwemmt. Álainn übergab sich krampfartig.

Sie hatte erwartet, die Pikten würden ihren leichten Sieg bis in die Nacht hinein feiern, wie man es von solchen Barbaren erwartete, doch weit gefehlt.

Nur etwa eine Stunde später begannen die blauen Dämonen Tiere – teils blutig vom Schlachten, teils lebendig –, Säcke mit den wenigen Habseligkeiten der britannischen Bauern und die letzten Nahrungsmittelvorräte Regulbiums zu ihren Booten zu schleppen. Alles ging erstaunlich schnell und geordnet vonstatten.

Bald schritt ein nicht allzu großer, aber kräftiger Mann in Richtung des armseligen Grüppchens der Gefangenen. Die breite Brust war mit dem inzwischen zerlaufenen blauen Abbild eines Wolfes beschmiert. Zu Álainns Entsetzen steuerte er geradewegs auf sie zu. Sie versuchte, sich hinter Akira zu verstecken, aber schon hatte der Pikte sie an der Schulter gepackt. Er sagte etwas in seinem dunklen Dialekt, das sie nicht verstand. Aus vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie ihn an, unfähig zu antworten.

„Du kommen mit!“, schrie er sie an, offensichtlich im Unklaren darüber, ob sie seines Dialektes nicht mächtig war oder etwas an den Ohren hatte. „Ich bin Eòghann, dein neuer Herr.“

Das war alles, was er sagte und Álainn ließ sich zitternd zum Strand hinunterziehen. Eine irrsinnige Wut auf Akira stieg in ihr auf. Wieso unternahm sie nichts? Dann sackte sie hoffnungslos in sich zusammen. Akira konnte ja auch nichts tun.

Wenn Álainn schon gedacht hatte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, so wurde sie ein weiteres Mal enttäuscht: Das Boot war eine Nussschale. Die Bordwände waren nicht einmal aus Holz, sondern nur eine dünne Lederhaut, die sich über ein Leistengerippe spannte. Eine Curach, wie sie allerhöchstens die Fischer auf den vorgelagerten Inseln noch benutzten. Wenigstens konnten die Pikten sie in so einem unsicheren Fahrzeug nicht allzu weit von ihrer Heimat entführen, tröstete sie sich.

Beufleet, Juni 441

Rowena

Endlich war ihr Vater wieder aus dem Hause. Warum konnte er nicht viel länger fort bleiben oder am besten allein nach Britannien fahren und Ceretic einfach bei ihr zurücklassen?

Gutha hatte dem Britannier morgens ausgerichtet, dass sie am Abend versuchen würde, zu dem Gebüsch am Waschplatz zu kommen. Ob er sie richtig verstanden hatte? Sie wagte viel mit diesem Gang. Wenn sie erwischt wurden, könnte man sie am Ende wie eine Ehebrecherin bestrafen. Sie hatte gehört, dass ein entfernter Nachbar auf der Geest seine eigene Tochter mit einem Strick um den Hals im Opfermoor versenkte, weil sie sich mit einem jungen Mann eingelassen hatte. So weit würde Hengist doch wohl nicht gehen, oder? Doch wer konnte schon sagen, zu was ihr verschlossener Vater fähig war, wenn er wirklich wütend wurde?

Horsa hatte ihr einstmals eine Geschichte erzählt, die sie noch immer schaudern ließ. Irgendwie hatte der damals wohl an die zwölf Winter zählende Hengist seinen Vater Witgis, der in seiner Jugend zu Wutausbrüchen neigte, stark verärgert. Eine Entschuldigung verweigerte der Junge stur. Witigis hatte seinen eigenen Sohn bei Ebbe im Schlick der Ælf eingraben lassen.

„Bis zur nächsten Flut gebe ich dir Zeit, nach mir zu rufen, sonst stopft dir das Wasser dein freches Mundwerk.“

Am Ende schlugen die Wellen bereits über Hengists Haupt zusammen, als Witgis ihn doch noch ausgraben ließ. Ein Wort der Entschuldigung war dem Jungen nicht über seine Lippen gekommen. Auch später niemals.

Und Ceretic? Wie würde es ihm ergehen? Er war doch ein Sänger und kein Kriegsmann! Die rauen Sitten ihrer Heimat waren ihm völlig fremd. Doch sehen musste sie ihn, wenigstens noch ein einziges Mal, bevor er über des Meeres Tiefen wieder nach Britannien entschwand. Am Hofe des Hochkönigs gab es bestimmt musikalischere Mädchen, die über sie lachen würden. Die unbeholfene Barbarin …

 

Sie gab sich einen Ruck und schritt von der Wurt hinab ins Lager. Ihre treue Magd Gutha folgte ihr tapfer. Horsa war mit seinen Thanen drüben am Feuer und die Lautstärke ließ vermuten, dass das Methorn schon mehrfach die Runde gemacht hatte. Gut so, dann würde er ihr Fehlen nicht bemerken.

Mit hoch aufgerichtetem Haupt schritt Rowena auf das Fleet zu. Lass dir nur nichts anmerken, du bist Hengists Tochter und hier die Herrin, sagte sie sich, doch ihr Herz strafte sie Lügen und schlug bis zum Halse. Plötzlich tauchte ein torkelnder Mann vor ihr auf, aber Rowena erwiderte seinen schon leicht unfokussierten Blick kalt.

„Hast du ein Anliegen an meinen Vater Hengist? Wenn nicht, dann verzieh dich“, fuhr sie ihn schroff an und reckte energisch ihr zartes Kinn.

Die Erwähnung ihres Vaters ließ den Kerl schlagartig nüchtern werden. Das süffisante Lächeln verschwand aus seinen Zügen. „Ich hab jawohl gar nichts gesagt“, grummelte er und verschwand rasch hinter einem der Zelte.

Nun waren Gutha und Rowena am Rand des Lagers. Alles blieb ruhig. Außer dem angetrunkenen Krieger schien sich niemand für den abendlichen Spaziergang der beiden Mädchen zu interessieren.

Sie erreichten das Fleet. Das Wasser stand so flach, dass sie lediglich den Rock schürzen mussten, um mit trockener Kleidung ans andere Ufer zu gelangen. Glühwürmchen spielten über dem Wasser und Gutha blieb kurz stehen und sah fasziniert zu, wie die Tierchen in der Dämmerung aufleuchteten.

„Komm schon weiter“, trieb Rowena sie an, die Aufregung schnürte ihr die Kehle zu.

Bald erreichten sie den Durchgang im Ufergebüsch. Hier blieb Gutha wie besprochen als Wache zurück. Rowena schlich vorsichtig weiter.

„Ceretic“, rief sie leise.

„Rowena! Hier bin ich, Liebste.“

Vor ihr tauchte die hochgewachsene Gestalt des Britanniers auf. Er nahm ihre zitternden Hände fest in die Seinen. Hinter ihm, über dem Moor, war eine schmale silbrige Mondsichel aufgegangen und sie blickte in Ceretics weite Pupillen. Dann lag sie in seinen Armen und er hielt sie eng umschlungen.

„Was sollen wir nur tun? Du musst bald übers Meer und mir wird es das Herz aus dem Leibe reißen, dich ziehen zu lassen. Wenn nur mein gestrenger Vater und diese Prophezeiung nicht wären, wie glücklich könnten wir werden.“

„Er wird sich fügen, ja sogar fröhlich zustimmen“, entgegnete Ceretic und klang optimistisch. „In Britannien gilt ein tapferer Mann nicht wenig und wenn ich diesen Auftrag recht ausrichte und deinen Vater und seine Krieger gegen die Pikten führe, wird mich der Hochkönig reich belohnen. Vielleicht erhebt er mich in den Ritterstand oder gibt mir sogar einen Platz an seiner Tafel und in seinem Rat. Dann kann ich getrost um dich werben.“

Er küsste sanft den Rücken ihrer Hand. Sie sank an seine Brust.

„Ach Ceretic, wenn doch dieser Abend niemals enden müsste.“

„Bleib nur standhaft und vertrau mir, bis ich wiederkomme – als Vortigerns Vertrauter und für Hengist ein genehmer Werber. Diesen Winter schon oder im nächsten Frühjahr“, beteuerte Ceretic abermals. Vorsichtig setzte er sich, Rowena noch immer fest in seinem Arm.

„Ich muss nun los, die Sonne ist untergegangen und die letzte Dämmerung flieht geschwind“, bemerkte er, nachdem sie eine Weile so gesessen hatten.

„Du kannst mich jetzt nicht verlassen“, jammerte sie.

„Aber ich muss. Für König und Vaterland und auch unsere Zukunft“, entgegnete er sanft und wand sich aus ihren Armen.

„Nicht!“, rief sie und zog ihn zu einem Kuss wieder herunter an ihren Mund.

V. Der Zorn der Götter

Beufleet, Juni 441

Ordulf

Ordulfs Gesichtsfeld verengte sich, ein dumpfer Schmerz hämmerte in seinen Schläfen und sein Körper verkrampfte sich. Da stieß er mit seiner Linken im Matsch an etwas Hartes und schürfte sich den Finger auf. Nur der brennende Schmerz ließ ihn überhaupt erkennen, dass er etwas scharfkantiges gefunden hatte, alle weniger intensiven Gefühle wurden von der Luftnot überdeckt, die drohte seinen Kopf zu zersprengen. Er bekam das scharfkantige Ding zu fassen und mit einem letzten Aufbieten aller Kräfte schlug er in die Richtung, wo er zuvor den Bart getastet hatte.

Der Aufschlag war hart und die Rückseite des Gegenstandes schnitt ihm in den Daumenballen, aber der Druck auf seinen Hals verschwand augenblicklich. Ordulf bäumte sich auf und atmete tief ein. Mit der Luft kehrte auch seine Wut zurück. Vor ihm beugte sich gerade einer seiner Angreifer über den blutigen Kopf desjenigen Peinigers, den er geradewegs ins Gesicht getroffen hatte. Er wandte Ordulf seinen ungeschützten Hinterkopf zu. Das war ein Fehler. Ein zweites Mal traf Ordulfs Waffe auf Knochen. Diesmal hörte er ein hässliches Knirschen und der Gegner fiel auf seinen verletzten Kameraden. Ihr Blut mischte sich im Schlick. Hoger, denn den erkannte Ordulf nun, riss erschrocken den Mund auf, doch seine Stimme versagte und kein neues „To jodute“ erscholl. Aber da kamen bereits mehrere Männer die Uferböschung herab gestürzt. Sie waren durch Hogers ersten Ruf alarmiert worden.

In Ordulfs Ohren rauschte es. Die Wut war ebenso rasch verflogen, wie sie ihn überfallen hatte. Teilnahmslos sah er zu, wie unter dem Geschrei Hogers und der anderen Ebbingemannen, die offenbar ihre Sprache wieder gefunden hatten, mehrere Männer auf ihn zuliefen, ihn packten und unsanft in die Höhe rissen.

Dann zerrte man ihn durch das Gedränge der Krieger in Richtung des Lagers. Er berappelte sich so weit, dass er wieder selber laufen konnte. Der Mann hinter ihm stieß ihm unsanft einen Speerschaft in den Rücken.

Schließlich stand Ordulf zum zweiten Mal an diesem Tage vor Horsa. Inzwischen verstand er wieder, was um ihn herum vorging.

Hoger trat vor und verneigte sich. „Dieser hinterhältige Mörder hat sich unter deine Krieger geschlichen!“, schnaubte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. „Er hat einen meiner Männer ermordet und einen weiteren geblendet. Ich verlange Gerechtigkeit.“

Ordulf setzte zu seiner Verteidigung an, aber einer der Ebbingemannen schlug ihm so hart ins Gesicht, dass seine Oberlippe aufplatzte. Der salzige Geschmack von Blut vermischte sich mit dem ebenfalls salzigen des Schlicks.

Horsa blickte diesmal gar nicht sanft und freundlich. „Zeigt mir die Opfer“, knurrte er.

Weitere Krieger legten einen leblosen Körper vor ihn auf den Boden. Eine hässliche Wunde klaffte im Schädel. Geronnenes Blut, Schlick und Hirnmasse klebten zwischen den Haaren. Ein weiterer Mann trat taumelnd vor. Einer der Männer riss ihm unsanft die blutige Hand herunter, die er auf sein Gesicht presste. Einige der umstehenden Krieger zogen scharf die Luft ein, als sie in die leere Augenhöhle des Mannes starrten. Der Verletzte stöhnte und wäre gestürzt, wenn ihn nicht einer seiner umstehenden Kameraden aufgefangen hätte.

„Dieser Mann ist hinterrücks mit einem Dolch über den unbewaffneten Rodewin hergefallen und hat ihn erschlagen. Und wenn Halvor hier sich nicht im letzten Moment zur Seite gedreht hätte, hätte er auch ihn erstochen. So blendete ihn der Dolch lediglich“, verklagte Hoger Ordulf erneut.

„Das ist nicht wahr! Mein Bruder war unterwegs, um unser Pferd zu tränken. All seine Waffen hat er bei unserem Zelt gelassen“, mischte sich nun Swæn ein.

Horsas Blick wanderte zu Ordulfs linker Hand. Vielsagend zog er die Brauen hoch. Ordulf folgte seinem Blick und erschrak, als er erkannte, was seine Linke noch immer umklammert hielt: einen rostigen Dolch!

„Wohl ist alles wahr, was ich sage. Ich und Kjeld hier haben es von weitem gesehen und haben sogleich das ‚To jodute‘ gerufen“, unterbrach ihn Hoger unwirsch.

„Ein Toter und drei Lebende, die deine Schuld beschwören, einer davon geblendet. Und du selbst hältst noch das Mordwerkzeug in der Hand! Was sagst du dazu?“, wandte sich Horsa nun voller Ernst an Ordulf.

„Sie haben mich mit Dreck beworfen und als Schwein beschimpft …“, begann Ordulf.

„Wir haben ihn einen Swæn genannt, so heißt sein Geschlecht ja wohl. Und wer würde so einen verrückten Hitzkopf auch noch reizen?“, rief Hoger dazwischen. „Im ganzen Gau sind die Swænen als Unruhestifter bekannt. Frag nur die anderen Dithmarschen“, fügte er triumphierend hinzu.

„Das ist eine Lüge“, rief Swæn dazwischen. Doch ein finsterer Blick von Horsa brachte ihn zum Schweigen.

„Das betrifft uns hier auch nicht. Aber“, fuhr er mit drohend zusammengezogenen Brauen an Ordulf gewandt fort, „ich habe euch erst heute Mittag ermahnt, dass alle Geschlechterfehden hier bei uns zu ruhen haben und du hast es akzeptiert.“ Er holte tief Luft und schaute, als hätte er gerade auf eine verdorbene Frucht gebissen. „Du hast nun einen meiner Männer, denn ihr alle seid nun meine Männer, erschlagen und einen weiteren so verletzt, dass er ein Auge verloren hat. Du weißt, welche Strafe dich nach unserem Recht erwartet. Das dürfte auch euch streitlustigen Dithmarschen nicht unbekannt sein.“

Ordulf wusste es. Man würde ihn zuerst blenden, zumindest ein Auge, als Ausgleich für die Wunde, die er diesem ebbingemannischen Dreckskerl zugefügt hatte und dann im Moor versenken. Vielleicht war Horsa auch gnädig und würde ihn zuerst erdrosseln und erst dann blenden, das war alles, was er hoffen durfte.

Zum zweiten Mal an diesem Tag schaute Ordulf dem Tod ins Auge. Vermutlich würden sie zur Sühne an die Götter auch noch Hilda opfern, fuhr es ihm durch den Kopf. Und die konnte am allerwenigsten dafür. Düster lutschte er an seiner aufgesprungenen Lippe. Die Situation war aussichtslos. Diesmal war er mit seinem Hitzkopf an die Falschen geraten. Was würde nur sein Bruder Swæn denken? Er kannte Ordulfs Jähzorn und würde insgeheim alles glauben, was Hoger ihm vorwarf. Hatte er nicht damals auf Wolderichs Hof angekündigt, die Ebbingemannen zu erschlagen? Und nicht nur Horsa, auch sein eigener Vater hatte ihn ausdrücklich ermahnt, mit keinem der anderen Sachsen Streit anzufangen. Aber er war es ja auch gar nicht gewesen. Wollte das denn niemand erkennen?

„Wir haben uns dir anvertraut, nun schaffe uns Gerechtigkeit“, drängten sich Hogers Worte in Ordulfs Gedanken. „Halvor soll ihn blenden. Los, räche dich“, rief er.

Swæn sprang schützend vor seinen Bruder, aber da schnitt schon ein scharfes „Halt“ Hogers Pläne ab.

„Was hier passiert, bestimme immer noch ich“, rief Horsa zornig. „Ich will dir Gerechtigkeit schaffen, auch wenn ich nicht glaube, dass ihr so unschuldig seid, wie ihr tut. Aber ein Mord bleibt ein Mord und er muss gesühnt werden. Wie würde Uuoden auf unsere Fahrt schauen, wenn ein ungesühnter Mord am Anfang steht?“ Dann drehte er sich zu Ordulf um. „Du wirst aufgeknüpft und auf einem Auge geblendet“, verkündigte er sein grimmiges Urteil. „Lasst uns die Sache rasch hinter uns bringen.“ An einen seiner Knechte gewandt fuhr er fort: „Schafft ihn zum Opfermoor und knüpft ihn auf. Wenn er tot ist, stecht ihm das rechte Auge aus und übergebt ihn den Göttern.“

Ein Knecht lief in Richtung des Hofes davon und kam gleich darauf atemlos, aber mit einer groben geflochtenen Hanfschnur zurück. Daraus formte er eine Schlinge, die er Ordulf über den Kopf warf. Dieser rührte sich nicht. Erst als der Knecht die Schlinge probehalber zuzog, griff er unwillkürlich an seinen Hals. Doch seine Bewacher rissen ihm unsanft die Arme herunter.

„Ihr sollt ihn nicht quälen, sondern einfach eure verdammte Aufgabe erledigen“, schimpfte Horsa verärgert, als sich Ordulf hustend zusammenkrümmte. „Und jetzt folgt mir.“

Beufleet, Juni 441

Ceretic

Viel stand auf dem Spiel und er durfte nicht weich werden. Ceretic wusste es nur zu gut. Er musste nun endlich zu seinem Pferd und ins Lager zurückkehren. Die Treue gegen König und Vaterland, aber vor allem auch die Sorge um Rowenas eigenes Schicksal verlangten es so. Aber wie sie im silbernen Licht des Mondes in ihrem weißen Kleide vor ihm lag und ihn zu sich hinunter zog, schaffte er es einfach nicht, sich abzuwenden. Stattdessen sank er auf die Knie und erwiderte ihren Kuss. Glühwürmchen schwirrten um sie herum und einen Augenblick war er nicht sicher, ob er träumte oder wachte.

Wie lange sie beieinander lagen, wusste Ceretic später nicht mehr zu sagen, doch plötzlich gellte ein Schrei vom Fleet herüber: „To jodute.“

Ceretic schreckte hoch. Man hatte sie erwischt. Ruckartig richtete er sich auf und riss den Dolch aus seinem Gürtel. Rowena klammerte sich erschrocken an sein Bein. Doch niemand erschien. Es dauerte einen Moment bis Ceretic erfasste, dass der Ruf gar nicht ihnen gegolten hatte. Einen Augenblick überlegte er, ob er nicht einfach wieder in den Traum eintauchen könnte, aber der Zauber war gebrochen. Er half Rowena auf, die sich zitternd an ihn klammerte.

 

„Geh nicht, sie werden dich umbringen“, jammerte sie noch ganz benommen von dem jähen Ende ihres gemeinsamen Glücks.

Doch Ceretic gelang es schließlich sie zu beruhigen. „Lass uns zu Gutha schleichen und sehen was los ist“, entschied er.

„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie die Magd aufgeregt. Vor ihr konnte Ceretic das Fleet erkennen. Am anderen Ufer hatte sich ein Menschenauflauf gebildet und ein junger Sachse wurde unsanft fortgezerrt. Dann entdeckte er noch einen, der offenbar verletzt war und schließlich wurde ein weiterer aufgehoben. An seinen seltsam steif herabhängenden Gliedern erkannte Ceretic, dass es sich um einen Toten handelte.

„Was ist denn dort geschehen?“, fragte er Gutha. Die schaute ihn mit schreckensbleichem Gesicht an und Ceretic wunderte sich, dass ein Mädchen, welches zwischen lauter Kriegern aufwuchs, so zart besaitet war.

„Sie haben den Falschen erwischt“, stammelte sie.

Ceretic verstand nicht. „Wieso den Falschen? Wäre dir etwa lieber, man hätte uns erwischt?“

„Nein, natürlich nicht“, schnaufte sie verärgert über so viel Unverstand. „Aber der Junge dort ist unschuldig. Die anderen haben ihm eine Falle gestellt und versucht, ihn zu ermorden und nun wird er als Verbrecher abgeführt!“

„Aber der Tote ist ja wohl nicht abgeführt worden“, entgegnete Ceretic, der langsam verstand worum es ging.

„Nein, du verstehst nicht. Es war so: Der junge Bursche, den sie jetzt abgeführt haben, hat sein Pferd zum Tränken an den Fleet geführt.“ Das schien zu stimmen, das Tier stand noch immer am Ufer. Ein ausnehmend edles Tier, viel besser als sein Wallach hinten bei der Baumgruppe, schoss es Ceretic flüchtig durch den Kopf. „Ich habe gesehen, wie zwei Kerle anfingen den Jungen mit dem Pferd von hinten mit Dreck zu bewerfen“, setzte Gutha ihre Geschichte fort. „Dann schrien sie sich etwas zu und der junge Kerl ging auf die beiden los. Er war unbewaffnet, aber einer der beiden Störenfriede zog sogleich seinen Sax. Bevor er ihn gebrauchen konnte, schlug der Junge ihn mit der Faust nieder. Aber plötzlich schrie ein dritter, der sich hinter der Böschung versteckt hatte, ‚to jodute‘ und dann tauchte noch ein Kerl aus dem Hinterhalt auf. Sie versuchten den armen Jungen zu ersäufen! Ich habe es genau gesehen. Und dann hat sich der Junge irgendwie seiner Angreifer erwehrt. Ich weiß nicht, woher er auf einmal doch eine Waffe hatte, aber er hatte sie auf gar keinen Fall in der Hand, als er den ersten Gegner niederschlug. Er ist auf jeden Fall das Opfer eines Hinterhaltes“, sprudelte es aus Gutha heraus.

Ein feiger Mordversuch!, fuhr es Ceretic durch den Kopf. Kein Wunder, dass Gutha so außer sich war.

„Du musst bezeugen, dass er unschuldig ist“, flehte Gutha. „Mein Wort gilt nicht viel, ich bin ja nur eine Frau.“

„Aber wie soll ich denn erklären, dass ich mich hier am Ufer befand? Dann würde man doch entdecken, dass sich Rowena mit mir getroffen hat“, entgegnete Ceretic hilflos.

Die kleine Magd sah ihn erschrocken an, daran hatte sie gar nicht gedacht.

„Ihr nutzt jetzt die Verwirrung und schleicht zum Hof zurück, gerade ist niemand mehr am Fleet, alle sind ins Lager geeilt“, entschied Ceretic bestimmt. „Ich hole mein Pferd und vielleicht fällt mir noch etwas ein, um den armen Kerl zu retten, aber wir sind schließlich nicht Schuld an seinen Problemen. Die Wahrheit wird auch ohne unser Zutun herauskommen.“

Gutha senkte den Kopf, dann schluckte sie und nickte zweimal.

„Mische dich bloß nicht ein, du kennst unser Recht nicht, Liebster. Verstehst du? Außerdem hast du selbst gar nichts gesehen“, flehte ihn Rowena leise an. Dann ergriff sie Guthas Hand und zog sie aus dem Gebüsch auf den Fleet zu.

Ceretic blickte ihnen kurz nach, aber niemand schien die beiden Mädchen zu bemerken. Er drehte sich um und rannte in Richtung seines wartenden Pferdes. Als aufrechter britannischer Krieger und Anhänger der christlichen Lehre konnte er doch nicht mit ansehen, wie ein unschuldiger Junge ermordet wurde! Aber er konnte auch nichts dagegen unternehmen.

Sein Auftrag, Hengist, Rowena, Rowena!

„Oh Herr im Himmel“, flehte er im Laufen, „was soll ich tun? Willst du den Jungen für meine Lügen und Heimlichkeiten bestrafen?!“

Beufleet, Juni 441

Ordulf

So also endete sein erstes großes Abenteuer. Vor Enttäuschung, Wut und Angst konnte Ordulf kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Unsanft rissen die Männer an seinen Armen. Das konnte doch nicht alles gewesen sein? Horsa musste doch erkennen, welche Bosheit die Ebbingemannen da ausgeheckt hatten. Aber die Männer zogen ihn unbarmherzig fort. Halvor spuckte in seine Richtung, traf aber nicht. Der verzweifelte Swæn lief hinter ihnen her und rang die Arme. Man zerrte ihn aus dem Lager.

Zuerst ging es am Fleet entlang nach Süden. Bald nahmen sie eine Abzweigung nach rechts und der Grund senkte sich, wurde weicher und sumpfiger. Feuchte Stellen tauchten auf. Dann erkannte Ordulf vor sich ein Erlenwäldchen. Beim Näherkommen sah er, dass der Weg in den Hain hineinführte. Die Dunkelheit war nun vollends hereingebrochen und langsam begannen Ordulfs Gedanken sich wieder zu ordnen. Vielleicht könnte er im Dunkel zwischen den Bäumen entfliehen? Das war seine letzte Chance. Als sie ein kleines Stück in den Wald eingedrungen waren, ließ er sich plötzlich nach rechts fallen. Seine Bewacher, gerade ganz auf den Weg konzentriert, wurden völlig überrascht. Wie erhofft ließ sich der linke der Wächter von dem plötzlichen Gewicht herüberziehen. Das brachte ihn so dicht an Ordulf, dass dieser aufspringend mit dem Kopf nach seinem Kinn stoßen konnte. Er spürte den Aufschlag und hörte das Knirschen der Zähne seines Gegners. Einen Augenblick später flutete der Schmerz wie eine Welle von seinem eigenen Scheitelbein herab. Der Stoß hatte gesessen. Der Mann rechts stöhnte und lockerte seinen Griff. Ordulf riss seinen Arm frei und schlug blind nach links, wo er das Gesicht des zweiten Gegners vermutete. Auch hier krachte es. Ein brennender Schmerz durchzuckte diesmal seine Faust. Der Mann hatte nach Ordulfs gezieltem Fall sein Gleichgewicht noch nicht wieder gefunden und stürzte nun vollends. Das ganze Manöver hatte nur einen Augenblick gedauert und Ordulf war frei.

Da bohrte sich eine scharfe Spitze zwischen seine Schulterblätter. „Bleib verdammt nochmal stehen!“, schrie eine unbekannte Stimme.

„Lauf!“, hörte er im gleichen Augenblick seinen Bruder rufen und die Lanzenspitze verschwand aus seinem Rücken.

Ordulf sprang vor. Nach drei, vier Schritten drehte er sich um und sah Swæn, der den Mann mit der Lanze von hinten umklammert hielt. Doch hinter ihm war Hoger aufgetaucht und erhob seinen Sax zum tödlichen Hieb. Ordulf reagierte instinktiv, wendete, stürzte sich auf Hoger und seine noch unverletzte Linke traf auf die Nase des Ebbingemannen. Aber da warfen sich schon mehrere Männer auf ihn. Der Fluchtversuch war misslungen. Schwer atmend ließ sich Ordulf wieder auf die Beine zerren.

„Verdammt zäher Bursche“, schimpfte Horsa, der den Zug anführte. Aber es schwang mehr als eine Spur Anerkennung in seiner Stimme mit. „Lasst uns die kleine Rauferei gerade vergessen“, sagte er mit einem Stirnrunzeln in Richtung des inzwischen ebenfalls überwältigten Swæn und seines Knechtes, der sich das Kinn rieb, welches vor wenigen Augenblicken mit Ordulfs Schädelknochen Bekanntschaft geschlossen hatte. „Komm mit, Junge. Du siehst, es hat keinen Zweck. Uuoden fordert Gerechtigkeit. Vielleicht schenkt er dir in der Unterwelt ein besseres Leben, immerhin hast du bis zum Ende gekämpft!“