Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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Vortigerns Haustruppen, die Catuvellaunen, waren nicht in Besatzungen oder Sippen, sondern in Centurien gegliedert, wie sie es nannten. Sie bildeten den Kern des britannischen Heeres. Nun rückten sie dicht zusammen und schlossen ihre Reihen unter den jeweiligen Fahnen. Die übrigen Britannier ließen dagegen keine klare Ordnung erkennen. Aber auch sie präsentierten stolz eine Reihe bunter Wimpel, auf denen Drachen, Kreuze und Adler prangten. Vor jeder der catuvellaunischen Centurien stand ein besonders kräftiger Krieger. Offensichtlich die Anführer von Vortigerns Streitmacht.

Neidvoll ruhte Ordulfs Blick auf ihren bunten Helmbüschen. Er war nun auch Unterführer einer eigenen Abteilung, aber seine einfache Kleidung und der schmucklose Holzschild konnten sich nicht einmal mit den polierten Brünnen oder den breiten Wangenklappen der gemeinen Catuvellaunen messen. Immer, wenn sich ein schwacher Sonnenstrahl durch die Wolken kämpfte, blitzten die britannischen Waffen nur so zu ihm herüber. Ein prächtiger Anblick. Doch trotz seiner minderwertigen Ausrüstung fühlte Ordulf Zuversicht und Stolz, nun auch ein Anführer dieses Heeres zu sein.

Mühsam riss er sich von dem erhabenen Anblick los und richtete seinen Blick auf die ihm anvertrauten Männer. Sie standen ruhig auf ihren Plätzen im Schildwall und warteten. Der rechte Rand eines jeden Schildes überlappte den linken seines Nachbarn. Nur sein eigener Platz vorne in der Mitte der Aufstellung war noch frei. Einen Augenblick verweilte Ordulfs Blick auf Halvor. Konnte er ihm trauen?

Einige Männer zeigten plötzlich hinter ihm ins Tal.

„Sie kommen!“, rief Thiadmar.

Ordulf fuhr herum. Tatsächlich, da bewegte sich etwas. Und dann waren sie auf einmal klar zu erkennen. Diesmal war es anders als in dem Gefecht bei Lindum oder am Vortag am Flussufer. Die Sachsen standen hoch über den Pikten auf dem Hügel und hatten ausreichend Zeit, ihren Gegner zu beobachten – und zu zählen. Die Pikten waren bei weitem in der Überzahl, doch der Geländevorteil lag eindeutig auf Seite der Sachsen. Die Feinde müssten erst einmal die sumpfige Niederung passieren, bis an die Knöchel im Morast, und dann wäre auch noch der Hang zu erstürmen, bevor sie als erstes auf Ordulfs dünnen Schildwall träfen. Nur ein völlig kopfloser Führer würde unter diesen Umständen eine Schlacht beginnen. Doch kopflos war ein Wort, über das Ordulf im Zusammenhang mit den Pikten lieber nicht nachdenken mochte.

Das Tal vor ihnen füllte sich mit den blauen Gestalten. Viele stiegen auf der gegenüberliegenden Seite der Talsohle von ihren Pferden, andere warfen ihre bunt karierten Mäntel ab, bevor sie sich zu Fuß in den Sumpf wagten. Ordulf glaubte immer noch an einen Scheinangriff.

Da ertönte die piktischen Kriegspfeifen. Es handelte sich um mit langen Pfeifen und einem Mundstück versehene Fellsäcke, die ein langgezogenes Quietschen von sich gaben. Dann setzten Trommeln und das schrille Kreischen der mehr als mannshohen, Carnyx genannten Kriegstrompeten ein. All das mischte sich mit den Schlachtrufen der Pikten zu einem ohrenbetäubenden Lärm.

Ordulf fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. Unter sich im Tal erreichten die ersten Krieger den Hügel. Ordulf schluckte und griff seinen Schild fester. Hätte er doch den guten, eisenbeschlagenen mitgenommen! Und warum hatten sie keine Wurflanzen? Von ihrer erhöhten Stellung hätten sie damit den Pikten den Aufstieg verderben können. Doch nun war es zu spät.

Von der Höhe her gesehen muteten die Bewegungen der Feinde noch seltsam langsam an. Wenn wir mehr Bogenschützen hätten, käme keiner von denen hier oben an, überlegte Ordulf, doch auch die hatten sie nicht. Bald erkannte er die seltsamen Muster auf den Schilden, die blaue Bemalung der Krieger und ihre wie Eberborsten zurückgekämmten Haare. Die Schalltrichter der fürchterlichen Kriegstrompeten liefen in wilden Eberköpfen aus, die dem Feind ihre scharfen Zähne entgegen fletschten. Die Bewegungen des Feindes wurden immer schneller und mit einem Mal waren sie heran.

Hart schlug ein Schwert auf Ordulfs erhobenen Schild. Der Aufprall ließ ihn nach hinten taumeln und ein Kribbeln durchlief seinen linken Arm bis zur Schulter. Die Männer in der zweiten Reihe fingen ihn auf und stießen ihn wieder nach vorn, doch der Druck der Pikten ließ nicht nach. Schritt für Schritt wurde der sächsische Schildwall zurückgedrängt. Neben sich hörte Ordulf einen Schrei. Wahrscheinlich von Howart, einem jungen Haduloher von der Heritog, aber ihm blieb keine Zeit, sich nach ihm umzuwenden. Irgendetwas stimmte nicht.

Er parierte fast schon verzweifelt Schlag auf Schlag und konnte keinen eigenen Rhythmus finden; das Geschrei und der Gestank von Blut und verschwitzten Männern machten ihm zu schaffen. Vor sich sah er nur die blauen Fratzen und kalkverkrusteten Borsten der Pikten. Bei Lindum waren ihm diese Details gar nicht aufgefallen. Furcht schlich sich in sein Herz. Doch es erging nicht nur ihm so. Der sächsische Schilderwall hatte sich unter dem Anprall der Pikten nicht gleichmäßig zurückgezogen und löste sich in viele einzelne Kämpfer auf, zwischen denen die blauen Dämonen ungehindert vordrangen. Ordulfs Ohren gellten vom Gebrüll der Pikten und dem schrillen Lärm ihrer Trompeten. Die „Hengist“-Rufe seiner Landsmänner waren kaum noch zu vernehmen.

Sicherlich laufen die ersten Sachsen in unserem Rücken bereits um ihr Leben und wir hier vorne sind verloren, durchfuhr Ordulf ein Gedanke. Wo blieb Hengist mit seinen Reitern? Wieso waren sie nicht in die Flanke des Feindes eingebrochen wie verabredet? Die waren sicher auch schon auf und davon.

Entsetzt sah Ordulf, wie sich die Klinge einer Axt von oben in seinen splitternden Schild fraß. Da kam schon der nächste Schlag und die gesamte linke Seite seines Schildes brach ab. Der klägliche Rest war nun nicht mehr ausbalanciert und zog seinen Arm nach innen. Ordulf schaute sich kurz um, aber hinter ihm war niemand, der ihm einen neuen Schild hätte reichen können. So also sah das Ende aus!

„Du verdammter Hund hast unseren Schildwall aufgegeben! Im fairen Kampf seid ihr dreckigen Swæne nicht so mutig wie zuhause im Schlamm!“, hörte er plötzlich den Ebbingemannen über den Schlachtlärm fluchen. Er hatte zwei oder drei Glieder weiter links gestanden, als der Angriff begann. Nun befand er sich getrennt von seinen Gefährten weit vorne – allein und von den Pikten umringt.

War es etwa Ordulfs Schuld, wenn er sich nicht rechtzeitig zurückzog? Außerdem war doch ohnehin alles verloren. Wie konnte dieser Dreckskerl es wagen ihn jetzt noch zu beschimpfen? Schließlich hatte er mit seinen Kameraden hinterhältig versucht, ihn zu ersäufen. Ordulf überkam eine unbändige Wut auf den feigen Ebbingemannen. Den würde er noch zur Strecke bringen, mochten die Pikten dann siegen oder nicht!

Ordulf ließ den Schild fahren, in den sich gerade erneut die Axt seines piktischen Widersachers festgebissen hatte. Dann warf er auch sein Schwert beiseite. Mit beiden Händen griff er die Axt des verdutzten Angreifers, während gleichzeitig sein Knie hochschnellte und den nackten Gegner an der empfindlichsten Stelle traf. Schmerzvoll krümmte sich der Pikte zusammen. Schon hatte Ordulf ihm die Axt entwunden. Der Schaft traf nicht so wie geplant seinen Kehlkopf, sondern schlug ihm die Zähne ein, trotzdem fiel der Feind ächzend zu Boden und verließ damit Ordulfs Gesichtsfeld und Gedanken.

Eine weitere blaue Fratze tauchte auf. Die Axt zerschnitt das Grinsen. Halvor war nur noch wenige Schritte entfernt, doch vor ihm tummelten sich noch die blau tätowierten Gegner. Ordulf brüllte sie an, zu verschwinden, doch zu ihrem Unglück verstanden sie ihn nicht. Einer um den anderen fiel, während sich Ordulf voll brennenden Zorns eine blutige Schneise hieb. Sein Schreien wurde unartikuliert. Doch sein Vorstoß blieb nicht unbemerkt. Die Pikten um ihn herum hielten erstaunt inne und die Sachsen kamen zu Atem.

„HENGIST!“, brandete hinter Ordulf ihr Schlachtruf auf, als sie wieder zum Angriff übergingen. Vor ihm schaute Halvor kurz zurück und Ordulf sah ihn einen Augenblick mit offenem Mund mitten im Kampf verharren. Doch auch er fasste sich und hieb mit neu entfachtem Mut auf die Pikten ein. Ordulfs Zorn verrauchte, bevor er den Ebbingemannen erreichte, aber er kam nicht zum Verschnaufen, denn nun riss ihn der sächsische Gegenangriff mit sich.

Da erscholl auch endlich das Dröhnen von Hufen. Rechts vor Ordulf warf sich Hengist mit den Reitern in die Flanke der Pikten. Der Tag war gewonnen! Sie warfen den Feind in den Sumpf.

„Anhalten“, brüllte Hengist über die Walstatt. Zu leicht konnten sich die Pferde im Morast die Beine brechen. Doch wenn die Pikten gehofft hatten, ihren Verfolgern im Sumpf damit zu entkommen, hatten sie sich geirrt. Mit sumpfigen Marschen kannten sich die Sachsen aus.

Ordulf warf am Rande des Sumpfes die Kleidung ab. Rasch raffte er den Schild eines gefallenen Pikten auf, vertauschte die grobe piktische Axt mit seinem Sax und blieb den Gegnern an den Fersen. Etliche Sachsen taten es ihm gleich. Die fliehenden Pikten fielen durch die kurzen Schwerter oder strauchelten und wurden in den Sumpf getrampelt. Insbesondere für die vornehmeren Pikten, die schwere Kettenhemden trugen, gab es kein Entrinnen. Wer nicht im Sumpf versank, wurde von den wütenden Sachsen erschlagen.

Am Abend hatten sich zu den weißen, aufgedunsenen Leibern der gefallenen Britannier unzählige blaue gesellt und eine rote Sonne tauchte die Walstatt in blutiges Licht. Von dieser Niederlage würden sich die Pikten nicht so rasch erholen!

X. Wenn die Waffen Schweigen, bleiben die Scherben

Ad Abum, Juni 441

Tallanus

„Silent leges inter arma“, seufzte Tallanus, als er über die grausige Walstatt schritt. Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze. Er hatte sich zu diesem Gang gezwungen, um sterbenden Christen die letzte Ölung zu erteilen. Doch obwohl er kaum auf gefallene oder verwundete Christen traf, zog ihn das Grauen derart in seinen Bann, dass er immer weiterlief, bis in der Senke schließlich nur noch gefallene Pikten lagen.

 

„Hier liegt er, sie haben ihn erschlagen!“, rief auf einmal ein älterer Britannier vor ihm.

Tallanus eilte heran. Vor ihm lag die von den Sachsen geplünderte Leiche von Koloman von Uerturios! Der junge Prinz war auf den Rücken gestreckt und starrte mit gebrochenen Augen in den Abendhimmel. Dicht unter dem Herzen zeigte sich eine scheußlich ausgefranste Wunde. Tallanus erkannte darin inzwischen mühelos das Werk eines der kurzen sächsischen Schwerter. Um ihn herum lagen besonders viele der blau bemalten Körper, hier musste der Kampf noch einmal aufgebrandet sein. Vielleicht war das den Heiden eine Lehre, Britannien von nun an in Frieden zu lassen.

Vortigerns Plan, sächsische Piraten als Auxiliares anzuwerben, trug überwältigende Früchte. Die Pikten waren seit Menschengedenken nicht mehr so gedemütigt worden. Sicherlich brauchten sie Jahre, um sich von dieser Niederlage zu erholen. Und als Beigabe waren sächsische Angriffe auf die Küste dieses Jahr ausgeblieben – ihre junge Mannschaft hatte Besseres zu tun.

Mit Mühe riss sich Tallanus von dem scheußlichen Bild los. Er hatte genug gesehen. „Mortui sepeliant mortuos suos“, murmelte er. Mögen die Toten ihre Toten begraben. Es wurde Zeit, dass er sich um die Lebenden kümmerte.

Zurück im Lager sah er zuerst nach verwundeten Britanniern. Es gab aber nur wenige Blessuren, um die sich bereits Vortigerns Wundärzte kümmerten. Die Sachsen hatten von Anfang an die Schlacht geführt und die Britannier waren erst zum Einsatz gekommen, als der Angriff der Pikten bereits gebrochen war. Sie feierten nun den leichten Sieg und die Rache für die Schmach, die die Pikten ihnen ein Dutzend Tage zuvor auf demselben Feld zugefügt hatten.

Doch auch aus dem Lager der Sachsen klang lautes Lärmen zu ihnen herüber. Vielleicht gab es dort Verwundete, die seines Beistandes bedurften? Möglicherweise war das eine Gelegenheit, ihnen ein Beispiel für Gottes Liebe vor Augen zu führen? Entschlossen machte er sich auf die Suche nach Ceretic, denn sein kurzes Gespräch – oder gerade Nicht-Gespräch – mit dem Ordulf genannten Sachsen am Vorabend der Schlacht hatte ihm deutlich gezeigt, dass er allein nicht weiterkommen würde. Er entdeckte den königlichen Ratgeber bald darauf inmitten der feiernden Britannier.

„Komm mit, du musst mir übersetzen“, forderte er seinen nicht mehr ganz nüchternen Freund auf. „Ich will sehen, ob es unter den Sachsen Verwundete gibt, die meiner Hilfe bedürfen.“

„Warum nicht“, antwortete Ceretic jovial. „Sie haben sich heldenhaft geschlagen und weißt du, wer das Schlachtenglück im letzten Augenblick zu unseren Gunsten gewendet hat? Niemand anders als der junge Ordulf, den ich persönlich vor dem sicheren Tode gerettet habe!“ Er sonnte sich kurz in der Bewunderung seiner Zechgenossen, die auf ihn eindrangen die Geschichte zu erzählen, bis Tallanus ihn etwas entnervt am Ärmel zupfte. „Wenn ich noch etwas ausrichten soll, dann müssen wir los. Du kannst doch später noch etwas trinken.“

Daraufhin hob Ceretic abwehrend die Hände. „Das ist eine lange Geschichte, die ich ein andermal erzähle. Ihr hört ja, jetzt werde ich bei den Sachsen gebraucht.“

Tallanus zog ihn mühsam mit sich fort. Er dirigierte seinen Freund in Richtung des sächsischen Lagers, welches ein wenig abseits bei den ehemaligen Wachfeuern hoch über dem Abus lag. Barbarischer Gesang und das Johlen Betrunkener klang ihnen schon von weitem entgegen.

Angewidert verzog Tallanus das Gesicht. „Diese Heiden können einfach kein Maß halten!“, schimpfte er, doch dann fiel sein Blick auf den leicht schwankenden Ceretic. Er seufzte und seine Züge wurden milder. „Wer kann es ihnen schon verübeln, bei unserem Vorbild. Und selbst unser Bischof hat noch nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, wie wir ihnen den rechten Weg zeigen können.“ Ceretic nickte unsicher und Tallanus fühlte sich dadurch in seinem Eifer bestätigt. „Auch Vortigern lässt sie nach ihren Sitten leben, solange sie nur als billige Söldner ihre Haut zu Markte tragen“, schimpfte er. Ceretic nickte wieder, blieb aber weiterhin stumm.

Plötzlich hielt Tallanus erschrocken inne. Neben einem der niedrigen Sträucher hatte er eine Gestalt entdeckt. Die johlenden Gesänge, die vom Lager herüberdröhnten, ließen den hingekauerten Mann noch einsamer erscheinen, als er ohnehin schon wirkte. „Frag ihn doch, ob er sich nicht über den Sieg freut“, forderte Tallanus Ceretic auf. Der Mann trug eine Augenklappe, was aber offenbar nicht auf eine frische Verwundung zurückzuführen war.

Ceretic zögerte. „Ich kenne den Mann“, informierte er seinen Freund. „Das ist einer jener Übeltäter, die drüben in Sachsen den jungen Ordulf töten wollten. Habe ich dir die Geschichte überhaupt schon erzählt?“

„Nein, hast du nicht, aber ich fürchte, das ist jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür“, entgegnete Tallanus.

Ceretic gab eine Reihe hauchender Laute von sich. Der Angesprochene blickte kurz auf, als habe er Ceretics Stimme erkannt. Sein eines Auge verengte sich kurz zu einem schmalen Schlitz und Tallanus musste nervös schlucken. Der Blick gefiel ihm gar nicht, doch dann seufzte der Einäugige resigniert und starrte wieder stumpfsinnig vor sich hin.

„Der ist wohl betrunken“, bemerkte Tallanus. „Lass uns lieber wieder gehen. Sieht nicht so aus, als bräuchte der hier unsere Hilfe.“ Ihn fröstelte. Die Sachsen waren doch wilde Barbaren! Was hatte ihn nur dazu getrieben sich so vertrauensvoll in ihre Hand zu begeben? Am liebsten wäre er fortgelaufen. Zum Glück hatte er wenigstens Ceretic mitgenommen.

Doch gerade als er sich abwandte, antwortete der Fremde. Tallanus verstand natürlich nichts, aber er hatte inzwischen genug Sächsisch vernommen, um die Stimmung des Sprechers anhand des Tonfalls einzuordnen. Dieser Sachse klang nüchtern und vor allem zutiefst betrübt. Nach einem kurzen innerlichen Kampf gewann sein Mitleid die Oberhand über die Angst. Langsam drehte er sich um und zwang sich, eine freundliche Miene aufzusetzen. Doch das Auge des Fremden suchte so verzweifelt seinen Blick, dass ihm sofort die Schamesröte über die eigene Feigheit ins Gesicht stieg. Wie hatte er daran denken können einfach wegzulaufen? Serve male et piger – du fauler und unnützer Knecht, so würde der Herr Jesus auch zu ihm sagen, wenn er dereinst in aller Herrlichkeit an der Spitze der himmlischen Heerscharen käme, um die Welt zu richten. Er würde niemals zum Priester oder gar Bischof taugen, die Not dieses Unglücklichen hätte er auch ohne Worte spüren müssen.

„Was hat er gesagt?“, wandte er sich an Ceretic.

Der Angesprochene runzelte die Stirn. „Ich verstehe ihn zwar, aber ich verstehe nicht, was er meint“, antwortete der langsam.

„Was sagt er denn nun?“, drängte Tallanus. Auf einmal brannte es ihm geradezu unter den Nägeln zu erfahren, was den Sachsen quälte.

„Er sagt: Er hat mein Leben gerettet und mich doch vernichtet“, übersetzte Ceretic.

Tallanus spürte, wie sein eigener Herzschlag sich beschleunigte. Dieser Mann litt Seelenqualen! War das ein Zeichen des Himmels, dass er hier nicht nur körperliche, sondern auch tiefere seelische Verletzungen heilen sollte? „Was ist es, was dich quält? Erzähle es mir, denn es ist meine Aufgabe, bedrängten Seelen beizustehen!“, behauptete er aufgeregt und diesmal übersetzte Ceretic ungefragt.

„Dieser Swæn, der mir mein Auge genommen hat – ich kenne die Geschichte –“, übersetzte und kommentierte Ceretic gleichzeitig, „der hat mich damals verschont, aber mit welcher Arroganz! Zwei meiner Geschlechtsgenossen sind seinetwegen gestorben. Und heute, als uns der Feind hart bedrängte, ist er einfach hinter mir zurückgewichen und hat mich im Stich gelassen. Da habe ich meinen Hass herausgeschrien. Und was hat der Kerl gemacht? Er ist umgedreht und hat mich und die ganze Schlacht gerettet! Mein ärgster Feind hat mir das Leben gerettet. Und schlimmer noch, er ist stärker und mutiger als ich und auch als all die Anderen, mit Ausnahme Hengists vielleicht. Ich schulde ihm ewigen Dank und Gefolgschaft, aber die erlittene Schmach und die Treue zu meinem eigenen Geschlecht fordern, dass ich ihn hasse und vernichte. Mein gerettetes Leben verlangt, dass ich ihm meine Dienste anbiete, aber die Gesetze der Blutrache gebieten, dass ich ihn töte. Ich sehe keinen Ausweg, als mir selbst das Leben zu nehmen!“, übersetzte Ceretic wortgetreu. Dann drehte er sich zu seinem Freund um. „Und? Kannst du ihm nicht helfen? Du kennst dich doch mit solchen Dingen aus.“ Er sah Tallanus erwartungsvoll an und auch der Sachse blickte mit einer Mischung aus Schmerz und Spannung zu ihm auf.

Himmel, was für eine Not! Und obendrein war es ein Heide. Tallanus stöhnte. Ceretics hohe Erwartungen machten das Ganze nicht besser. Wieso habe ich den Mann nicht einfach in Ruhe gelassen? Bin ich überhaupt für die Heiden zuständig? Oh, serve male et piger!, schimpfte er sich in Gedanken nochmals. Was hat der liebe Heiland nicht alles um meinetwillen auf sich genommen? Und ich, sein unwürdigster Diener, bin erst zu feige und dann zu faul, um dieses unglückliche, verirrte und verwilderte Schaf zum guten Hirten zu führen?

Langsam setzte er sich gegenüber dem Sachsen auf die Erde. Wenn du mich als dein Werkzeug gebrauchen magst, Herr, dann gib mir auch die nötige Weisheit, betete er dabei im Stillen. Schließlich räusperte er sich und blickte dem Barbaren geradewegs in das gesunde Auge. „Hast du schon mal etwas von Vergebung gehört?“

Pert Acaiseid, August 441

Álainn

Krachend fiel die Schale zu Boden. Álainns rechter Zeige- und Mittelfinger schmerzten wieder wie am ersten Tag ihrer Gefangenschaft. Immer noch konnte sie kaum richtig zupacken. Doch im nächsten Augenblick vergaß sie den Schmerz in der Hand wegen des stärkeren Schmerzes im Gesicht. Nara hatte sie geohrfeigt.

„Du unnützes Ding, sieh, was du angerichtet hast!“ Die Scherben der Tonschale schwammen in der verschütteten Milch am Boden des runden Speichenhauses.

Álainn gehörte nun als Sklavin zu Eòghanns Sippe. Und wenn nicht Nara, Eòghanns Schwiegermutter, gewesen wäre, hätte sie sich sogar halbwegs in die Familie aufgenommen gefühlt. In dem kleinen Rundhaus, welches durch Mauervorsprünge, die wie die Speichen eines Rades ins Zentrum ragten, in mehrere Abschnitte aufgeteilt war, war der grausame Seeräuber Eòghann ein umgänglicher Mensch.

„Lass das Mädchen in Frieden“, kam der gerade eingetretene Hausherr ihr auch gleich zu Hilfe. „Du weißt doch, dass sie verletzt ist, du solltest ihr keine Aufgaben geben, die sie noch nicht verrichten kann“, knurrte er verärgert.

Álainn verstand den piktischen Dialekt inzwischen problemlos und sie genoss mehr Freiheiten, als sie als Sklavin erwartet hätte. Aber wohin sollte sie auch fliehen? Die Burg stand auf einem Felsvorsprung im stürmischen Ozean, hoch über den kleinen Buchten, in denen die Fischer- und Raubboote der Pikten lagen. Der einzige Zugang zu dem Felsen war nur wenig mehr als dreißig Schritte breit und zudem von einer Mauer geschützt. Der einzige Durchgang, eine etwa zehn Schritt lange Doppelung der Mauer, wurde durch drei hintereinanderliegende Türen verschlossen.

Doch auch jenseits dieses unüberwindlichen Hindernisses gab es für Álainn keine Hoffnung auf Flucht. Wohin sollte sie sich wenden, hunderte von Meilen von ihrer Heimat entfernt in einem unwirtlichen, rauen Land? Und sie war sich nicht einmal sicher, ob Pert Acaiseid überhaupt in Britannien oder nicht auf einer Insel lag. Die Menschen in der Siedlung waren für ihr Überleben jedenfalls ganz und gar aufeinander angewiesen und nun gehörte sie ebenfalls zu dieser Gemeinschaft. Eòghann hatte sie sogar manchmal ohne Bewachung und ohne jede Bedenken mit den Schafen hinaus auf die Weiden vor der Burg geschickt. Nun zog er sie am Arm von der zeternden Nara fort.

„Lass sie schimpfen. Du gehst heute wieder mit den Schafen auf die Weide oben im Westen“, beschied er.

So trieb Álainn bald Eòghanns Vieh durch die drei engen Pforten in der Mauerdopplung aufs Vorland. „Kommt mit, ich bring euch zu den besten Kräutern“, versprach sie den Tieren lockend. Sie kannte den Weg inzwischen gut und die Schafe folgten ihrer Stimme. Langsam löste sich ihre Anspannung und sie schritt rasch voran.

Das Meer plätscherte sanft in der Bucht unter der Felsenfeste, die salzige Luft war warm und mischte sich mit dem Duft von Heidekräutern und Torfmooren. Tief unter ihr lagen die Boote ihres Dorfes. Allesamt Currachs, lederbespannte Holzgerippe. Draußen, jenseits der Bucht, sah sie die kugeligen Köpfe der Robben in der Dünung tanzen. Immer wieder verschwand einer, um eine Weile später an anderer Stelle aufzutauchen. Darüber zogen kreischende Möwen ihre Kreise. Vielleicht war das Leben hier im Norden doch erträglicher, als sie befürchtet hatte. Wenn nur die alte Hexe nicht wäre.

 

Nach einer guten halben Stunde erreichte sie die von Eòghann bezeichnete Weide. Doch die Ruhe währte nicht lange. Plötzlich vernahm sie hinter sich Hufgetrappel. Sie fuhr herum. Ein einzelner Reiter auf einem der flinken piktischen Ponys galoppierte den Pfad entlang, der von Westen nach Pert führte. Ängstlich blickte sie um sich. Sollte sie versuchen sich hinter den niedrigen Büschen zu verstecken? Doch der Reiter hatte sie sicher schon bemerkt.

Dann atmete sie auf. Es war Carney, der aus einer etwas südlicher gelegenen Siedlung kam. Vor einigen Monaten war er häufig in ihrem Hause zu Gast gewesen, um Kilian, Naras Sohn, den die alte Hexe über alles vergötterte, zu besuchen. Kilian selbst und er zogen dann irgendwann fort, zum fernen Königssitz in Forteviot. Denn der Prinz der Uerturio hatte die Männer der nördlichen Stämme aufgefordert gemeinsam mit ihm gegen die Britannier zu ziehen. Álainn hatte den Königssitz selbst natürlich noch nie gesehen, aber Forteviot galt bei allen piktischen Stämmen als der reichste und vornehmste Ort im Norden. Es hieß, Prinz Koloman, für den selbst die Mädchen in Pert Acaiseid zur Sonnenwendfeier eine Unzahl Blumenkränze gebunden hatten, sei mit vielen tausend Männern aus allen Stämmen nach Süden gezogen, um Beute zu machen.

Jedenfalls hatte Nara, seit ihr geliebter Sohn fortgezogen war, begonnen, Álainn immer häufiger zu schlagen. Zum Glück war Eòghann selbst nicht mit den Uerturio nach Süden gezogen, sonst wäre sie der Alten völlig schutzlos ausgeliefert gewesen. Eòghann war ja bereits früher im Jahr mit ihrem eigenen Häuptling, der sich zwar nicht König nannte, aber doch völlig unabhängig über seine Sippe und die Sturminseln herrschte, zu einem bescheideneren Raubzug an die britannische Küste gefolgt. Álainn hatte es am eigenen Leib erfahren.

Inzwischen war Carney, von einer Staubwolke umhüllt, bis zu ihr herangekommen. Pferd und Reiter schwitzten stark in der Sonne. Álainn hob die Hand zum Gruß, während die Schafe erschrocken auseinanderstoben, als der Fremde sein Pferd dicht vor ihr zügelte.

„Was bringst du für Nachricht?“, fragte sie neugierig.

„Großes Unheil, Gruagach straft uns fürchterlich. Die Britannier haben eine Rasse von grausamen Riesen zu Hilfe gerufen. Unser Heer ist geschlagen, der Prinz gefallen!“, rief er ihr zu und trieb sein Pferd gleich wieder im scharfen Trab voran.

Álainn war wie vom Donner gerührt. Was hatte das zu bedeuten? Riesen, Britannier? Was war geschehen? Sollte ihr Volk endlich die Kraft gefunden haben, sich der Pikten zu erwehren? Und dürfte sie nun auf Befreiung hoffen? Aber nein, Pert Acaiseid war so weit im Norden, so weit entfernt von Britannien, und sie war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt über Land oder nur mit den schnellen Booten der Pikten zu erreichen war.

Am Abend trieb Álainn die Schafe zur Burg zurück. Eine düstere Stimmung lag über den eng um den alten Broch gedrängten Rundhäusern. Leises Wehklagen drang aus mehreren Ecken und Winkeln an ihr Ohr. Sie sperrte die Schafe in den Pferch und trat leise in Eòghanns Haus. Der Hausherr saß in Gedanken versunken an dem niedrigen Torffeuer in der Mitte des Raumes und drehte ihr den Rücken zu. Seine Gattin Gwen hockte ihm mit rotgeweinten Augen gegenüber. Ängstlich spähte Álainn nach Nara, doch die lag wimmernd und völlig besoffen in ihrer Nische des Rundhauses. Álainn atmete auf, jedoch ein wenig zu laut, denn Gwens Kopf ruckte nach oben und sie sah Álainn hasserfüllt an.

„Du freust dich wohl, Britannierin?“

Aber Eòghann wehrte ab. „Sie hat den ganzen Tag gearbeitet, was man von deiner Mutter da drüben nicht sagen kann. Also lass sie etwas zu Essen zu sich nehmen und in Frieden schlafen.“

Gwen sah ihr finster nach, als Álainn sich etwas Hafergrütze und Trockenfisch nahm und schüchtern in ihren eigenen Winkel des kleinen Radspeichenhauses zurückzog.

Eboracum, Juni 441

Ceretic

Gleich am nächsten Morgen gab Vortigern den Befehl zum Marsch nach Norden. Etwa fünfzig Mann blieben zurück, um die Bestattung der Gefallenen fortzusetzen und die wenigen Verwundeten vor versprengten Pikten zu schützen.

Vortigern ritt an der Spitze des Heerzuges, ihm folgten seine Ratgeber und die sächsischen Söldner. Viele unter ihnen trugen stolz piktische Waffen. Ceretics Augen suchten in ihren Reihen nach Ordulf, doch er erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Der junge Sachse trug ein prächtiges Kettenhemd mit vergoldeten Plättchen auf der Brust. Unter dem Herzen wies es ein gezacktes Loch auf, welches sein neuer Besitzer noch nicht repariert hatte. Als Ceretic sein Pferd neben ihn lenkte, bemerkte er, dass zwischen den eisernen Ringen noch getrocknetes Blut klebte. Doch das schien den jungen Sachsen weniger zu stören.

„Mal sehen, ob die eisernen Ringe wirklich so viel halten, wie man immer sagt“, erklärte er mit säuerlichem Grinsen.

„Mir ist ein fester Schild lieber, aber ich habe keinen mehr übrig.“

Erstaunt bemerkte Ceretic, dass Ordulf recht hatte und viele der Sachsen ohne Schilder marschierten. Eigentlich hätten sie dringend Zeit benötigt, um ihre Wehr in Stand zu setzen.

„Vortigern ist der Ansicht, Schnelligkeit sei wichtiger als Erholung“, antwortete er leicht spöttisch.

„Das habe ich bemerkt“, entgegnete Ordulf immer noch mit schiefem Grinsen. „Aber den Pikten, von dem ich dies hier habe“, dabei zeigte er auf sein neues Kettenhemd, „hat weder der schnelle Anmarsch noch sein Eisenhemd geschützt.“

Aller Sorgen ungeachtet marschierten sie den Tag über eine große Strecke, mal im Regen, mal in Sonne und Staub, immer weiter auf der endlosen Via Erminia Richtung Cair Ebrauc.

Ceretic ritt meist direkt bei Vortigern und den übrigen Ratgebern. Am Straßenrand entdeckte er mehrfach Ruinen und Trümmer verbrannter Gehöfte und Dörfer. Diesen Weg musste auch das piktische Heer gezogen sein, verbittert darüber, von den hohen Mauern Eboracums abgewiesen worden zu sein. Sie marschierten so rasch sie konnten. Obwohl die Männer von der Schlacht am Vortag noch geschwächt sein mussten, ließ Vortigern ihnen nur eine knappe halbe Stunde zur Mittagsrast. Bald schon drängte er weiter. Bis spät in den Abend hinein trieb er das Heer unbarmherzig vorwärts.

„Hier bleiben wir für die Nacht. Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir wieder auf“, verkündete Vortigern schließlich, als die Sonne hinter dem westlichen Horizont versank und die ersten Sterne am Himmel erschienen.

Erschöpft ließen sich die Männer neben der Straße fallen. Doch die Unterführer brachten sie wieder auf Trab. Zelte aufstellen, Feuerholz suchen, Wachen einteilen. Eigentlich war es schon viel zu spät, um geordnet zu lagern, und Ceretic vermutete, dass sie auf dem Gewaltmarsch eine nicht unerhebliche Zahl von Ausfällen und Nachzüglern hinter sich gelassen hatten.

„Herr, wenn wir weiter so marschieren, kommt nur die Hälfte von uns in Eboracum an“, wandte er sich daher an den König.

Doch der schüttelte unnachgiebig den Kopf. „Wir müssen Eboracum morgen unbedingt erreichen.“