Brand und Mord. Die Britannien-Saga

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Ad Abum, Juni 441

Ceretic

Wieder hatten die Sachsen einen spektakulären Sieg über die Pikten errungen. Trotz – oder auch gerade wegen – Vortimers Verrat. Ceretic selbst fühlte sich bestens, hatte er doch mit seinem Einfall, die Boote über den Abus zu schleppen, die Sachsen gerettet, ohne Vortimers Befehle zu missachten.

Während einige Sachsen die Boote zurück zum Südufer brachten und das Übersetzen des britannischen Heeres begann, schritt Ceretic den Hang hinauf, um sich selbst einen Überblick zu verschaffen. Oben winkte ihm Ordulf freundlich zu. Zusammen mit anderen Sachsen stand er um einige am Boden kauernde Gestalten herum. Beim Nähertreten erkannte Ceretic die mit Kalkwasser hochgekämmten Haare und geflochtenen Schnurrbärte der Pikten. Er pfiff leise durch die Zähne: Elf Gefangene hatten die Sachsen gemacht. Sie knieten, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Höhenzug.

„Hast du hier das Kommando?“, fragte er Ordulf.

Der grinste stolz: „Ja, Hengist hat mich beauftragt diese Anhöhe zu besetzen!“

Ceretic verbarg sein Schmunzeln unter einem anerkennenden Nicken. „Und wie war es?“, fragte er dann.

„Schlimm, ein wahrer Speersturm. Es waren an die hundert Mann. Und ich dachte, sie würden uns geradewegs in den Fluss zurückwerfen. Aber dein Talisman hat mir wieder geholfen.“ Dabei kramte er das kleine Bronzekreuz hervor.

Ceretic sah kurz darauf und die Sehnsucht nach Rowena traf ihn wie ein Schlag. Er riss sich mit aller Gewalt zusammen. „Und wer sind die? Die überlebenden Pikten?“, wollte er wissen.

„Leider sind die meisten entkommen. Die hier sind unsere einzigen Gefangenen“, erklärte Ordulf mit bedauerndem Schulterzucken.

Ceretic wandte sich den Pikten zu, die seinen Blick feindselig und trotzig erwiderten. Der erste war ein schlanker Bursche mit wachen Augen. Ohne die blaue Bemalung und das nun ebenfalls blaue rechte Auge hätte er eigentlich ganz gut ausgesehen. „Was habt ihr hier zu suchen?“, fuhr Ceretic ihn barsch an, erhielt aber keine Antwort.

Einer der Sachsen trat dem Mann in die Rippen. „Du sollst antworten, du Hund“, rief er auf Sächsisch.

Ceretic erkannte zu seinem Erstaunen den einäugigen Halvor. Kein Wunder, dass er schlecht gelaunt war, wo ihn Hengist nun ausgerechnet Ordulfs Befehl unterstellt hatte. „Lass mich das machen“, wies er den Ebbingemannen an und wandte sich wieder den Pikten zu. Mit Erstaunen registrierte er die Unterschiede zwischen den einzelnen Männern. Bisher hatte er die Pikten nur als einen Haufen wilder, blau bemalter Dämonen gesehen, aber dies waren einzelne Männer und Jungen mit Gesichtern und ganz eigenen Ausdrücken von Furcht oder Trotz den Augen.

„Wie heißt du?“, fragte er den schlanken Jungen, der ihm bisher die Antwort verweigert hatte.

Der schaute ihn zunächst wieder trotzig an. „Kilian“, gestand er dann aber mit einem Seitenblick auf Halvor, der immer noch mit grimmig zusammengepressten Lippen neben ihm stand.

„Kilian, du weißt, dass ihr sterben müsst“, eröffnete Ceretic dem Pikten ohne Umschweife. Er sprach langsam und deutlich, in der Hoffnung, dass ihn zumindest der Junge mit den intelligenten Augen verstehen würde.

„Warum sollte ich euch dann antworten? Bring es hinter uns“, entgegnete der Pikte in seinem scheußlichen Dialekt.

„Es macht einen Unterschied, wie man stirbt“, entgegnete Ceretic ungerührt. „Wenn ich dir den Kopf abschlage, wirst du mir im Jenseits dienen müssen.“

Der Kilian genannte Pikte sah ihn an und Ceretic hatte den Eindruck, seine ohnehin schon blassen Züge erbleichten um eine weitere Nuance. Nach einer kaum merklichen Pause antwortete er verbittert: „Schlag mir den Kopf ab, erstich mich oder häng mich auf. Für euch Christen ist das doch einerlei!“ Aber die kurze Pause und der drängende Tonfall der Antwort verrieten ihn.

Ceretic grinste. Also stimmte diese Erklärung für die grausige Gewohnheit der Pikten, gefangenen oder gefallenen Feinden die Köpfe abzuschlagen. „Ich mache dir einen Vorschlag“, entgegnete er, immer noch grinsend. „Ich verspreche euch, dass ihr durch einen Hieb auf den Kopf und nicht durch Enthaupten getötet werdet. Wie ein Krieger in der Schlacht. Die Sachsen hier enthaupten Verbrecher wie euch nämlich vorzugsweise.“

Der junge Pikte sah ihn einen Moment lang ausdruckslos an. „Was willst du als Gegenleistung?“, fragte er schließlich misstrauisch.

„Die Wahrheit. Und wenn ich später feststelle, dass ihr gelogen habt, dann lasse ich eure Kadaver ausgraben und doch noch enthaupten.“

Kilian wurde noch bleicher. Ceretic konnte sehen, wie er mit sich kämpfte. „Was willst du wissen?“, fragte der Pikte schließlich.

„Wieso wart ihr hier? Wieso so wenige? Wie viele Pikten sind nach Süden gezogen? Wie heißt euer Anführer? Und vor allem, wo befindet sich eure Hauptstreitmacht?“ Den Namen des Anführers kannte Ceretic bereits, Prinz Koloman. Aber so könnte er prüfen, ob der Pikte die Wahrheit sprach.

„Und du schwörst bei allem, was dir heilig ist, dass ich nicht enthauptet werde?“, fragte der Gefangene zurück.

„Ich schwöre es dir bei meinem Gott und bei meiner Ehre als Ritter des Hochkönigs von Britannien“, antwortete Ceretic feierlich.

„Ich will dir vertrauen, Ritter. Du wirst mich nicht köpfen?“

Ceretic nickte genervt und der Pikte begann hastig zu sprechen: „Unser Anführer heißt Koloman, ein Prinz von Uerturio im Strath des Earn.“ Das stimmte soweit mit dem überein, was die Gefangen in Lindum berichtet hatten. „Als wir euch das letzte Mal so geschlagen hatten, wie Prinz Koloman es erneut tun wird, stellten wir fest, dass ihr alle Boote mit an das Südufer des Flusses genommen hattet.“ Ceretic nickte grimmig. Auch das wusste er bereits. „Daher ist Koloman mit über die Furten im Westen gegangen und hat euch auf diesem Wege verfolgt. Dann wurde unsere Vorhut im Süden von einem fremden Volk geschlagen.“ Hier blickte er finster zu den Sachsen hinüber. „Sie sind tatsächlich so groß, wie man sagt. Habt ihr sie aus der Unterwelt gerufen, diese Teufel?“

Ceretic lächelte dünn. Genauso dachten auch die meisten Britannier über die Sachsen. „Und dann ist Koloman umgedreht und hat euch beauftragt, den Fluss zu bewachen?“, fragte er.

„Ja, so war es. Sein Heer steht im Westen bei den Furten dieses Stroms. Er glaubte, ihr würdet euch nicht ein zweites Mal hierher wagen. Wir waren hier als Wachtposten aufgestellt, um Koloman zu warnen, falls ihr doch versucht euch auf diesem Weg an ihm vorbei nach Cair Ebrauc zu schleichen. Und das“, hier blickte er grimmig in Richtung Norden, wo seine geflohenen Kameraden verschwunden waren, „werden auch eure goldhaarigen Teufel nicht verhindern können.“

„Bleibt die Frage, wie viele Krieger Koloman bei sich hat“, bohrte Ceretic nach.

„Hunderte, mehr als man zählen kann“, behauptete der Pikte überzeugt. „Nun habe ich euch alles gesagt. Jetzt halte du dein Versprechen!“

Ceretic nickte grimmig. So etwas hatte er befürchtet. Sie hatten noch nichts gewonnen, die gerade geschlagene Truppe war nur ein kleiner Wachtposten. Wenn man daraus auf die Größe des eigentlichen Piktenheeres schließen konnte, dann waren es viele hundert, vielleicht sogar tausend Mann. In zwei bis drei Tagen könnte Kolomans Heer sie erreichen. Ihre einzige Chance lag darin, vor dem piktischen Heer Eboracum zu erreichen und sich mit Ahearns Truppen zu vereinigen.

„Du hast versprochen uns nicht zu köpfen, Herr“, unterbrach der gefangene Pikte seine Gedanken. Das „Herr“ war ihm trotz der verzweifelten Lage sichtlich schwer gefallen.

„Und das werde ich auch nicht tun“, antwortete Ceretic knapp und wandte sich ab. Er überlegte. Wie nur könnte er sein Versprechen erfüllen? Vortigern würde auf seine Zugeständnisse bestimmt nichts geben und bei Vortimer hätten sie vermutlich sogar das genaue Gegenteil zur Folge. Da kam ihm eine Idee. Vielleicht war der Hochkönig noch gar nicht auf dieser Seite des Abus angelangt. Somit läge das Kommando bei Hengist. Eilig lief Ceretic den Hang hinab, um den Sachsenfürsten zu suchen. Streng genommen waren es ohnehin seine Gefangenen. Bald fand er ihn am Fluss. Er starrte in den Nebel hinein und lauschte auf den gedämpften Lärm des übersetzenden Heeres.

„Wenn du dir sicher bist, dass du alles erfahren hast, mach mit ihnen, was du willst“, sagte Hengist, nachdem ihm Ceretic die Situation geschildert hatte. „Ich kann diese Halunken sowieso nicht verstehen. Du hast dir für den Einfall, die Boote über den Fluss zu schleppen, schließlich etwas verdient. Die Gefangenen gehören dir.“

Das Vorrecht Gefangene abzuschlachten ist sicherlich nicht die Belohnung, die ich mir wünsche, dachte Ceretic bitter, aber es war Eile geboten. Sonst käme ihm Vortimer doch noch dazwischen. Und er hatte dem Barbaren nun einmal sein Wort gegeben.

Er lief zurück zu Ordulf und den Gefangenen. „Ich habe den Kerlen hier versprochen, dass wir sie nicht köpfen, sondern mit einem Schlag aufs Haupt töten. Hengist hat zugestimmt. Also macht euch an die Arbeit.“

Ordulf sah ihn erschrocken an. „Aber sie sind doch wehrlos“, protestierte er. „Wir könnten sie als Sklaven verkaufen“, schlug er nach einem Augenblick des Nachdenkens vor.

„Tut einfach, was Hengist gesagt hat“, knurrte Ceretic kurz angebunden und wandte sich ab. Da hörte er hinter sich ein grässliches Krachen und ein angstvolles Aufstöhnen. Er fuhr herum. Halvor hatte dem ersten der Pikten mit einer Axt den Schädel eingeschlagen.

„Wenn Hengist es so will, hast du wohl kaum etwas dagegen, oder?“, fragte er und sah Ordulf herausfordernd an. Der lief rot an, zuckte dann aber resigniert die Schultern und ließ ihn gewähren. Ceretic fühlte sich auf einmal unsäglich müde und schmutzig.

 

Ich werde Tallanus bitten, mir die Beichte abzunehmen, nahm er sich vor. Eigentlich war die Beichte den voll ordinierten Priestern vorbehalten, aber Ceretic hielt sich lieber an Tallanus. In dem Wirrwar aus grausamen Barbaren und Ränkeschmieden in den eigenen Reihen war er der einzige, dem Ceretic noch voll vertraute. Und ich bin inzwischen nicht nur Vortimers Handlanger, sondern lasse jetzt schon selbst wehrlose Gefangene abschlachten. Warum tue ich das eigentlich?

Einen Augenblick war er ratlos. Ja, weshalb tat er sich das an? Doch dann fiel ihm Rowena ein. Rowena war alle Mühen wert. Wie er sie vermisste! Außerdem wurde es höchste Zeit, den Hochkönig von dem in Kenntnis zu setzen, was er von den gefangenen Pikten erfahren hatte.

Ad Abum, Juni 441

Tallanus

Der dichte Nebel hatte sich inzwischen zumindest teilweise aufgelöst, aber immer noch hingen schwere Regenwolken über den Hügeln zu beiden Seiten des Abus. Auf dem gegenüberliegenden Höhenzug sah Tallanus in der hereinbrechenden Dämmerung bereits die ersten Wachfeuer aufflackern. Das mussten die Sachsen sein. Das Übersetzen von Vortigerns Heer und Tross zog sich nämlich bereits Stunden hin. Nun endlich war auch der Bischof mit seinem Gefolge an der Reihe. Von den schwankenden Brettern des Bootes aus beobachtete er, wie sie sich langsam dem nördlichen Ufer näherten. Hier also hatten die Sachsen die Pikten ein weiteres Mal geschlagen. Eine große Übermacht, wie man sich im Heer erzählte, und die lähmende Furcht, die vor wenigen Tagen in Lindum Vortigerns Männer im Bann gehalten hatte, war einer Aufbruchsstimmung gewichen. Endlich legte das schaukelnde Boot an.

„Wo sind denn unsere Quartiere?“, erklang da Albanus dünne Stimme. „Ich hoffe sehr, Vortigern hat an unsere Zelte gedacht. Von diesem Peturaria sollen ja nur noch Trümmer übrig sein.“

Tallanus seufzte. Der alte Mann dachte nur an sein eigenes Wohlergehen. Dabei war es doch ihre erste Pflicht, den erschlagenen Britanniern ein christliches Begräbnis zu bereiten. Er blickte kurz auf die gebeugte Gestalt mit dem aufgedunsenen Gesicht und den hängenden Tränensäcken. Was war nur aus dem sicherlich einstmals mutigen Glaubensmann geworden? Er selbst würde einen viel besseren Bischof abgeben … Das Bewusstsein der eigenen Unvollkommenheit traf ihn wieder wie ein Stich. War er nicht genauso auf seinen persönlichen Vorteil aus?

„Herr, sollten wir nicht nachsehen, ob die Pikten unsere gefallenen Krieger wenigstens begraben haben?“, schlug er respektvoll vor.

„Ja, geh und kümmere dich darum“, winkte Albanus genervt ab.

Rasch sprang Tallanus aus dem Boot, ebenso froh dem scheußlichen Schwanken des Bootes wie der üblen Laune seines Herrn zu entkommen. Während er an mehreren Gruppen sächsischer Krieger vorbei zügig den Hügel hinaufstrebte, genoss er die vom Regen gereinigte Abendluft. Selbst die kurze Bootsfahrt auf dem ruhigen Fluss hatte ihm zugesetzt. Er hasste diese schaukelnden Dinger. Dann konzentrierte er sich auf seine Aufgabe. Jenseits des Hügels, keine Meile weit entfernt im Norden, lag das Schlachtfeld und dort würde er die Überreste der gefallenen Britannier finden. Er versuchte sich innerlich auf den schauerlichen Anblick vorzubreiten, der ihn dort erwartete.

Bei den Wachfeuern auf der Hügelkuppe traf er auf weitere Sachsen. Ceretics junger Freund, der mit ihm nach Durovernum geritten war, befand sich unter ihnen. Tallanus winkte ihm zu, froh, zwischen den Barbaren ein bekanntes Gesicht zu finden. Als Antwort erhielt er zwar nur einige sächsische Worte, aber das Lächeln verstand er auch über die Sprachgrenzen hinweg. Inzwischen jagten ihm die rohen sächsischen Laute keinen Schrecken mehr ein wie anfangs in Regulbium.

Wortlos schritt er weiter und stolperte fast über die ersten Leichen. Er bekreuzigte sich. „Hier schon“, entfuhr es ihm. Aber es war kein Britannier, der dort in seinem Blute lag, sondern ein Pikte, wenn auch ohne die typischen blauen Muster. Vermutlich einer jener Unglücklichen, die sich den Sachsen am Nordufer entgegengestellt hatten. Tallanus blickte sich um und fuhr erschrocken zusammen. Da lagen noch weitere Leichen. Insgesamt waren es elf Stück. Das grausigste aber war, dass alle an Armen und Beinen gefesselt und brutal mit einem Hieb auf den Kopf getötet worden waren. Diese wilden sächsischen Barbaren hatten ihre gefangenen Feinde abgeschlachtet! Entsetzt starrte er zu den ruhig um ihre Feuer sitzenden Kriegern hinüber.

Das Bild von Álainn und dem Überfall auf Regulbium erschien vor seinem geistigen Auge. Traurig schüttelte er den Kopf. Omnes enim, qui acceperintgladium, gladio peribunt. Wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert fallen. Wie treffend war dies Wort des Herrn aus dem Evangelium des heiligen Matthäus. Wann würden endlich all diese Heidenvölker im Frieden Jesu Christi vereint werden?

Er schrak zusammen, als ihn etwas an der Schulter berührte. Es war der junge Sachse. Tallanus hatte in seinen Gedanken versunken gar nicht bemerkt, dass dieser das Wort an ihn gerichtet hatte. Entschuldigend zuckte er die Schultern. Er verstand ohnehin nicht, was der Sachse wollte. Der gab aber nicht nach und gestikulierte. Dann versuchte er die Sprachbarriere durch lautere Artikulation seines unverständlichen Idioms zu überbrücken. Schließlich zeigte er mit dem Arm in die Runde nach Norden und schüttelte dann den Zeigefinger hin und her.

„Ich soll nicht nach Norden gehen?“, fragte Tallanus erstaunt. Da hörte er eine bekannte Stimme hinter sich.

„Tallanus!“ Es war Ceretic, der mit großen Schritten auf sie zu eilte.

„Wie gut, dass du kommst!“, antwortete Tallanus erfreut. „Ich, oder besser wir“, dabei lächelte er den Sachsen an, der eine fragende Miene aufgesetzt hatte, „haben Verständigungsschwierigkeiten.“

Ceretic bekam schnell heraus, wo das Problem lag. „Ordulf, so heißt dieser Sachse, meint, es sei zu gefährlich allein weiter nach Norden zu gehen. Etliche Pikten sind entkommen und er fürchtet, dass Prinz Kolomans Späher noch durch das Gebiet streifen.“

Wieder unterbrach ihn der Sachse und Ceretic legte seine Stirn in Falten. Dann antwortete er ihm auf Sächsisch. Tallanus horchte fasziniert. Viele Kleriker sahen insgeheim auf die Leute herab, die kein Latein verstanden, aber diese barbarische Zunge musste noch viel schwieriger zu erlernen sein. Schließlich wandte sich Ceretic wieder ihm zu.

„Ordulf meint, wir könnten einen kleinen Erkundungsgang wagen. Er will uns aber mit einem seiner Männer begleiten.“

Der Sachse rief einen seiner Stammesgenossen herbei. Dann folgten sie Tallanus langsam in die Nacht hinaus. Als sie den Kreis der Wachfeuer verlassen hatten, hielt Tallanus an, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Eine graue Wolkendecke hing noch immer dicht über ihren Köpfen. Nur dann und wann drangen ein paar Strahlen des Mondes schwach durch die grauen Schwaden und die Mondhöfe erstrahlten gespenstisch in allen Farben des Regenbogens. Das lange Gras unter ihnen war feucht und verschluckte den Klang ihrer Schritte. Wie verwandelt erschien die Welt in den Nachtstunden. Überall sah er Hügel und Senken, in denen sich heimtückische Feinde verbergen konnten. Verwesungsgeruch drang ihm in die Nase. Seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten.

„Dort drüben liegt etwas.“ Ceretic fasste Tallanus plötzlich am Arm und wies auf einen länglichen Gegenstand, der vielleicht fünfzig Schritt vor ihnen im Gras lag. Tallanus bekreuzigte sich, dann lenkte er seine Schritte zu dem Schatten. Der Gestank verriet ihm schon bevor sie den Kadaver erreichten, was sie vor sich hatten. Es war die Leiche eines britannischen Kriegers. Nackt und kopflos, das weiße, aufgedunsene Fleisch leuchtete fahl in die Dunkelheit. Tallanus bekreuzigte sich erneut, dann kniete er bei dem Leichnam nieder und sprach ein schnelles Gebet.

Der Sachse riss Tallanus mit einer unverständlichen Bemerkung aus der Andacht.

„Ordulf hat recht, wir sollten jetzt lieber wieder zum Lager zurückkehren. Wir wissen nun ja, wie es um unsere Gefallenen steht.“

„Aber wir müssen ihn doch begraben“, protestierte Tallanus lahm, während sein Freund angestrengt in Richtung Norden blickte.

„Scht“, fuhr er ihn unvermittelt an. „Dort bewegt sich etwas.“ Mit angehaltenem Atem sah Tallanus auf, doch Ceretic zog ihn am Arm. „Schnell, zurück ins Licht der Feuer!“

Sie hasteten auf die orange glühenden Punkte der sächsischen Wachfeuer zu, während Ordulf und der andere Sachse mit erhobenen Schilden zurückblieben, um ihren Rückzug zu sichern. Tallanus hatte gar nicht bemerkt, wie ihm übel wurde, aber plötzlich musste er sich schwallartig erbrechen. Keuchend erreichte er den Lichtkegel der Feuer. Ihm war immer noch schlecht und der üble Nachgeschmack im Mund machte die Sache nicht besser. Nun kehrten auch Ordulf und sein Kamerad zurück. Sie riefen etwas auf Sächsisch und traten zu ihren Kameraden ans Feuer.

„Sie haben niemanden gesehen“, übersetzte Ceretic. „Ich hätte schwören können, dort hat sich etwas bewegt“, fügte er kopfschüttelnd hinzu. „Aber hier kann uns ja nichts mehr passieren. Komm jetzt besser mit, wir müssen dem Hochkönig melden, was wir gefunden haben“, forderte er und zerrte Tallanus weiter den Hang zum Abus hinab.

Sie fanden Vortigern inmitten seiner engsten Berater vor einem bunten Stoffhaufen, aus dem wohl demnächst sein prächtiges Zelt entstehen sollte. Vortimer, der bei seinem Vater stand, bedachte Ceretic mit einem finsteren Blick.

„Die Sachsen werden immer stolzer“, schimpfte er, doch ein Stirnrunzeln seines Vaters ließ ihn verstummen.

Was hatten die beiden nur?, fragte sich Tallanus. In den letzten Tagen war eine merkwürdige Kälte zwischen ihnen zu beobachten. Aber vielleicht war es nur die Anspannung, entschied er dann. Ihm ging es jedenfalls nicht besser. Er schluckte die bittere Galle herunter, die ihm immer noch aufstieß und räusperte sich.

„Wir haben das alte Schlachtfeld besucht“, erstattete er mit krächzender Stimme Bericht. „Unsere gefallenen Krieger liegen auf der Walstatt. Geplündert und enthauptet.“

Vortigern und sein Sohn wechselten einen kurzen Blick.

„Und ich habe von einigen Ge… Vor ihrem Tod haben einige Pikten ausgesagt, dass sie von Prinz Koloman von Uerturio angeführt werden. Die Sachsen haben ihnen inzwischen aber den Garaus gemacht“, übernahm Ceretic den Bericht.

„Das wissen wir doch bereits“, unterbrach ihn Vortimer augenrollend.

Doch sein Vater nickte Ceretic aufmunternd zu. „Noch etwas?“, fragte er.

„Der Prinz lagert mit dem Kern seines Heeres im Westen an der Nebenstraße, der Via Erminia, die den Abus auf Furten überwindet. Einige Pikten sind entkommen, weil die Sachsen zu wenig Riemen hatten, um gleichzeitig eine ausreichende Zahl von Kriegern über den Fluss zu setzen.“

Dabei warf Ceretic Vortimer einen bösen Blick zu. Dieser errötete bis unter die Haarwurzeln. Tallanus sah verwirrt von einem zum anderen und auch Vortigern schien die Pointe entgangen zu sein. Da war doch etwas zwischen den beiden vorgefallen, entschied er.

„Die geflohenen Pikten werden Koloman inzwischen von unserem Vormarsch in Kenntnis gesetzt haben. Insgesamt verfügt er über mehrere hundert oder sogar tausend Mann, aber das haben wir ja vor zwei Wochen bereits leidvoll erfahren. Wir sollten so schnell wie möglich nach Eboracum marschieren, um uns mit Ahearns Heer zu vereinigen“, beendete Ceretic seinen Bericht.

Tallanus sah Ceretic entsetzt an. „Aber wir müssen doch unsere Toten christlich bestatten“, flehte er.

Vortimer warf ihm einen vernichtenden Seitenblick zu. „Das dauert mindestens einen Tag und wenn Koloman sich beeilt, erreicht er uns in genau dieser Zeit oder schneidet uns den Weg nach Eboracum ab, secretarius.“ Das letzte Wort spie er aus als fürchte er, seinen Mund damit zu beschmutzen.

Tallanus zuckte zusammen. Wie hatte er es wagen können, im Rat des Königs ungefragt seine Meinung zu äußern?

„Es wird die Kampfmoral unserer Leute nicht fördern, wenn sie wissen, dass ihre Leichen nicht bestattet werden“, gab auch der alte Muirdoch zu bedenken.

Vortigern blickte eine Weile stumm zwischen seinen Beratern hin und her. Dann räusperte er sich. „Die Pikten sind zweimal vor uns geflohen, sie werden es nicht wagen, uns ein drittes Mal auf offenem Felde anzugreifen. Und bei Ahearn um Hilfe zu betteln kommt nicht in Frage“, entschied er. „Ich bin der Hochkönig und komme, um Eboracum und die nördlichen Königreiche zu erretten, nicht um gemeinsam mit ihnen den Feind zu schlagen. Morgen begraben wir unsere gefallenen Krieger und Bischof Albanus wird eine Messe für sie feiern.“

 

Ad Abum, Juni 441

Ordulf

Ordulf fuhr aus dem Schlaf hoch und wusste einen Moment nicht, wo er war. Die allzu lebendigen Bilder eines bluttriefenden Traumes verflüchtigten sich nur widerwillig und langsam. Er streckte seine Glieder. Alles tat weh und ein dicker Regentropfen fiel vom Zeltdach auf ihn herab. Die erlittene Gefahr und Angst, als sie sich nur von dem dünnen Lindenholz der eigenen Schilde gedeckt in den Hang drückten, wie Halvor die gefangenen Pikten erschlug, all dies hatte ihn mehr mitgenommen, als er es für möglich gehalten hätte. Im Kampf zu töten war etwas Natürliches, aber Wehrlose abzuschlachten? Tief atmete er die kühle Nachtluft. Im Osten graute bereits der Morgen. Dieser Tag würde genauso diesig beginnen, wie der letzte geendet hatte.

Nach einem kurzen Frühstück aus Hafer und Wasser erschien Willerich und überbrachte den Tagesbefehl. „Die Britannier wollen ihre Toten von vor einigen Tagen begraben. Wir sollen Wache stehen und sie vor umherstreifenden Pikten schützen.“

„Das wurde auch Zeit“, freute sich Ordulf. Sie waren mehrere Tage angestrengt marschiert und gestern dann der Flussübergang und das Scharmützel am Hang. Ein Tag der Ruhe würde ihnen guttun. Er entschied sich dafür, nur seinen leichten, unbeschlagenen Holzschild mit sich zu nehmen. Der gute Schild war am Vortag ohnehin ziemlich ramponiert worden und bedurfte dringend einiger Reparaturen. Wieder blickte er voll Stolz auf sein neues Langschwert und befestigte es neben dem Sax am Gürtel. Das Geräusch trabender Hufe ließ ihn aufschauen.

„Hengist hat einigen Reitern befohlen, die Umgebung zu sichern, und uns rechtzeitig zu warnen, falls doch noch Pikten auftauchen“, berichtete ihm Thiadmar, als er Ordulfs erstaunten Blick auffing. Mit dem frischen Verband um den Kopf sah er zwar noch etwas blass, aber schon viel besser aus als am Vortag, befand Ordulf.

„Wie viele Pikten wohl noch übrig sind?“, wunderte er sich, doch diesmal zuckte Thiadmar die Schultern. Offenbar war auch er überfragt. Wenn die Aussagen der Gefangenen stimmten, gab es jedenfalls noch mehr als genug.

Bereits dicht hinter dem Lager trafen sie auf die ersten Zeugnisse der vergangenen Schlacht. Auf den Hügeln und in den morastigen Senken davor lagen zahllose Leichen. Sie waren allesamt ausgeplündert und entkleidet. Am schaurigsten war jedoch, dass von den Köpfen jede Spur fehlte. Nach zehn Tagen nassen Wetters war die Verwesung schon weit vorangeschritten. Im Wind wehte der süße Gestank von Tod und Zerfall. Krähen und Feldtiere hatten sich an den Kadavern gütlich getan. Weiter unten am Hang hatten die Pikten ein grausiges Holzgerüst aufgerichtet, auf dem sie ihre vornehmsten Feinde wie lebendig aufgerichtet hatten, nur nackt und kopflos wie ihre Kameraden.

Die Sachsen nahmen auf einer Anhöhe, die nach Westen hin von einer sumpfigen Niederung begrenzt wurde, Aufstellung. Die Britannier machten sich hinter ihnen daran, Gräber auszuheben. Mehrere ihrer Priester – Ordulf erkannte sie inzwischen an den in der Stirn geschorenen Haaren – sprachen ihre Zauberformeln über den Toten und malten Kreuzzeichen in die Luft. Vermutlich wollten sie die Verstorbenen in ihre Gräber bannen, damit sie nicht als Untote ihr Unwesen trieben. Schaudernd stellte sich Ordulf vor, wie das ganze Heer ohne Köpfe in der Unterwelt leben mochte. Um sich wieder zu wärmen, drehte er sich den wenigen Sonnenstrahlen zu, die die trübe Wolkendecke durchbrachen.

„Ich erzähl dir mal ein Rätsel“, wandte er sich schließlich Thiadmar zu. „Nach dem gestrigen Tage solltest du es leicht erraten:


Ich bin ein einsames Ding,voll eiserner Wunden
Geschlagen von Klingen,geschunden mit den Spuren von Kämpfen
Müde der Schwerter,oft sehe ich Schlachten
Harte Fehden,keinen Frieden habe ich.
Keine Hilfe wird mir erscheinen,in der Hitze der Schlacht.
Bis von der ErdeIch elend vergehe.
Die gehämmerten Schwertersie hauen und schlagen
scharf und hart-schneidigder Schmiedehammer-Werk.
Nicht verweilend in Städtenmuss ich folgen dem Streit
wo sich Feinde treffen.Niemals fand ich
in den Stättenwo Männer sich sammeln
einen der mit Kräuternheilt meinen Kummer.
Doch die Wunden der Schwerter durch tödliche Hiebewerden stets schwerer bei Tag und bei Nacht.

Na, was bin ich?“

Ordulf blickte gespannt, doch Thiadmar grinste säuerlich. „Den Hinweis auf unser gestriges Abenteuer hättest du dir sparen können. Ich wäre auch so drauf gekommen.“

„Und was meinst du, was ich bin?“, drängte Ordulf. Das Rätsel war eines seiner besten.

„Ein Schild natürlich“, entgegnete Thiadmar und Ordulf musste enttäuscht gestehen, dass der junge Haduloher richtig geraten hatte.

Unter diesem und anderen Zeitvertreiben plätscherte der Vormittag langsam dahin. Ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst am frühen Nachmittag wurde Ordulf plötzlich durch den dumpfen Klang schlagender Hufe aus seiner Lethargie gerissen. Er blickte auf und erkannte einen Reiter, der sich ihnen von Westen her rasch näherte. Bald zügelte er sein Pferd. Die Niederung zwischen ihnen war zu sumpfig, um sie auf dem Pferderücken zu überwinden.

„Es ist Wedigo“, kommentierte Halvor, der auch heute wieder zu Ordulfs Gruppe gehörte. Der verdammte Ebbingemanne muss ungeheuer scharfe Augen haben, dachte Ordulf. Oder vielmehr ein ungeheuer scharfes Auge, korrigierte er sich und lächelte grimmig.

Erst eine ganze Weile später konnte er den Reiter ebenfalls erkennen. Er strebte an Ordulfs Gruppe vorbei, direkt dem Lager zu.

Kurze Zeit später kam Hengist selbst auf seinem britannischen Pferdchen zu ihnen hinausgetrabt. „Prinz Koloman will uns die Ehre eines Besuches geben“, berichtete er.

„Kolomans Heer soll fast tausend Mann zählen“, bemerkte Ordulf. Seine Männer wechselten unruhige Blicke.

Ungerührt fuhr Hengist fort: „Vortigern will, dass wir hier auf der Hügelkette warten, bis er seine Männer hinter uns zur Schlacht formiert hat. Wir Sachsen stehen wieder ganz vorn. Du, Ordulf, wirst deine Leute hier und die nächste Gruppe dort rechts anführen. Ihr bildet einen Schildwall und haltet diesen Hügel, ganz egal, was auch passiert. Klar?“

„Und wenn die Pikten nicht angreifen wollen?“, fragte Ordulf. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie direkt nach dem Eilmarsch, der sie bis hier gebracht hatte, durch den Sumpf und den Hügel hinauf, einen Angriff wagen würden.

Hengist sah ihm fest in die Augen. „Keine eigenwilligen Aktionen. Vortigern will abwarten. Wenn die Pikten gegen alle Vernunft Vortigerns Angebot zur Schlacht auf diesem Boden annehmen, falle ich ihnen mit den Reitern in die Flanke. Du bleibst mit deinen Männern hier oben, bis ich euch etwas anderes befehle.“ Als Ordulf nickte, fuhr er fort. „Aber du hast recht. Das werden sie nicht tun, zumindest nicht mehr heute. Es ist ohnehin schon erstaunlich, wie sie so rasch hier sein konnten. Aber egal, du bleibst mit deinen Leuten, wo ihr seid, nämlich auf diesem Hügel.“

Das war nun wirklich die längste Rede, die Ordulf jemals von Hengists Lippen vernommen hatte. Er würde also auf dem Hügel bleiben. Komme, was wolle. Schade nur, dass er seinen eisenbeschlagenen Schild und die beiden Wurflanzen nicht mehr holen konnte.

„Wir bilden einen doppelten Schildwall!“, rief er seinen Leuten zu. Das Befehlen fühlte sich ungewohnt an und er hoffte inständig, dass es niemandem auffiel. Zu seiner Erleichterung gehorchten die Männer aber sofort. Die strengen Übungen in Beufleet zahlten sich aus. Ordulf trat einen Schritt vor und ließ seinen Blick über die Aufstellung schweifen. Seine etwa dreißig Männer standen ganz am rechten Flügel. Von hier konnte er gut beobachten, wie die Britannier ihre Schaufeln und Hacken davonwarfen und zu den Waffen eilten. Einige Zeit später tauchten die Schnellsten von ihnen wieder auf. Sie nahmen links neben den Sachsen Aufstellung. Ordulf beobachtete gespannt, wie es immer mehr wurden.