Störtebekers Erben

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Kapitel 3

Es war ein grausames Bild. Noch niemals in seinem Leben hatte der Inselbürgermeister Kai-Uwe König auch nur etwas vergleichbar Schreckliches gesehen. Eine Hysterikerin, hatte er gedacht, als ihn der Anruf erreichte. Die junge Frau, die mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter als Tagesausflüglerin auf die Insel gekommen war, weinte und schrie ins Telefon, und er wurde nicht richtig schlau aus dem Gestammel. Er hatte nur verstanden, dass sie etwas Schreckliches gesehen hatte und den Wattwagenfahrer Andrej, der in der Saison für ihn arbeitete, losgeschickt. Dieser hatte ihn gebeten, dringend an den kleinen Friedhof zu kommen. »Hier liegt Hein. Chef muss kommen sehen er selbst.«

Genauer gesagt lag Hein nicht, sondern sein blutiger abgetrennter Kopf steckte auf dem Geländer der kleinen Holzbrücke, die über den Sumpf zum Friedhof der Namenlosen führte. Ein großer Nagel war durch den Schädel getrieben, um den Kopf dort festzumachen.

Wortlos zeigte Andrej hinter den Gedenkstein, wo der Rest des Körpers lag, am kopflosen Hals hatte sich eine Blutlache gebildet. Die junge Frau, die ihn angerufen hatte, saß mit fast grünlicher Gesichtsfarbe auf der Wiese.

Kai-Uwe König wandte sich schnell ab, lange hätte er den Anblick nicht ertragen. Es war eindeutig, der Inselkaufmann war tot, und zwar auf eine ausgesprochen grausame Art und Weise umgebracht worden. Was war mit ihm geschehen? Und wie konnte so etwas Entsetzliches nur auf dieser kleinen stillen Insel geschehen. Es schien ihm wie ein böser Traum. Auch, dass es ausgerechnet einen Freund aus Kindertagen getroffen hatte, wenngleich sie sich in den letzten Jahren aus dem Weg gegangen waren. Aus gutem Grund.

Als im letzten Jahr mitten in der Sommersaison mehrere Brieftaschen gestohlen wurden, war das eine Sensation, über die alle Insulaner nebst Gästen wochenlang redeten. Ansonsten brauchte die Insel nicht mal einen eigenen Polizisten, nur die Wasserschutzpolizei beäugte die Bewohner argwöhnisch, wenn mal wieder ein Schiff oder eine Jacht auf den umliegenden Sandbänken strandete. So manche Rumflasche oder Zigarettenstange von liegen gebliebenen Segelbooten war in der Vergangenheit überraschend in den Vorratskammern aufgetaucht.

Mit dem Rücken zum kleinen Friedhof winkte er Andrej zu sich. Vor seinen Mitarbeitern wollte er seine Ratlosigkeit auf keinen Fall zugeben, obwohl seine Gedanken wie wild durcheinander gingen. Er zeigte auf den Weg vor dem kleinen Friedhof und kommandierte: »Absperren. Du bleibst bis auf Weiteres hier, keinen durchlassen!«

Margo hatte sich auf die Holzbank am Fuß des Turms gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen, es war eine Herausforderung gewesen, die volle Kaffeetasse über die seitlich am Turm angebaute Holztreppe unbeschadet nach unten zu tragen. Überhaupt, die Arbeit war das reinste Fitnesstraining. Zwei Treppen hinab in den Keller, über 100 Stufen hinauf unter die Kuppel des Turms, die einmal in der Woche gereinigt werden musste.

Die Bank vor dem Turm war ihr Lieblingsplatz, vor allem während der Ebbe, wenn sich mit lautem Hufschlag die Wattwagen vom Festland ankündigten. In genau festgelegter Reihenfolge fuhren sie vor und stellten sich auf dem Platz zwischen Leuchtturm, Inselkaufmann und Schullandheim auf. Dann wurden die Pferde ausgespannt, kauten gemächlich eine Ration Futter und erleichterten sich auf den jahrhunderte alten Steinen. Vermutlich waren sie verlegt worden als der Turm gebaut wurde, der vor einigen Jahren 700-jähriges Jubiläum hatte.

»Hey Margo, was ist mit deinem Nachbarn los«, rief ihr Jan, ein Wattwagenfahrer, zu, der sich manchmal während ihrer Zigarettenpause zu ihr auf die Bank setzte.

Sonst saßen die Tagesgäste, egal, zu welcher Uhrzeit sie eintrafen, mit dem Inselspezialgetränk Eiergrog, einem Kaffee oder Krabbenbrötchen auf der Terrasse vom Inselkaufmann unter den drei knorrigen Eichen. Doch heute waren seine Bänke aufeinandergestapelt und angekettet.

»Keine Ahnung«, sagte sie und dachte daran, dass Peter Hein offenbar am Abend vorher auch nicht zu Hause gewesen war, sie hatte ihn auch im »Seemannsgarn« nicht gesehen, obwohl dort fast die komplette Inselbevölkerung versammelt war.

Sie hatte gehört, dass ihr Nachbar manchmal am Morgen nicht rechtzeitig aufgeschlossen hatte, zumal in seinem Laden mit Ausschank und einem immer größer werdenden Gartenlokal manchmal bis in den späten Abend feuchtfröhlich gefeiert wurde. Aber an diesem Tag war das unwahrscheinlich, Niedrigwasser war gegen elf Uhr. Jeden Tag verschoben sich die Gezeiten um etwa eine halbe Stunde, das war das wichtigste Naturgesetz, denn hier diktierten noch immer die Gezeiten den Lebensrhythmus.

Aus dem kleinen Inselchen wurde ein hektischer Ort, wenn die Wattwagen für eine gute Stunde mehrere Hundert Menschen vor dem Turm absetzten. Margo war immer noch erstaunt, wie sich die ganze Stimmung von einer Sekunde auf die andere veränderte, und wie plötzlich nach der Abfahrt der Tagestouristen wieder Ruhe einkehrte.

Sie machte ihre Zigarette aus und beschloss, »Störtebekers Wunderkammer« einen Besuch abzustatten. Der kleine Laden befand sich unter der Pension im Turm, hatte aber einen eigenen Eingang, der über eine Stahltreppe zu erreichen war. Dort befanden sich noch die originalen Gewölbe, wo der Turmvogt, den die Hamburger Kaufleute zur Überwachung des Seeverkehrs in den Norden geschickt hatten, seine Amtsstube hatte. Unter seinen Räumen sollte angeblich der Pirat Störtebeker nach seiner Festnahme im Verlies geschmort haben. Mark Cors, der Ex-Schwiegersohn des Inselkaufmanns, der den Laden betrieb, hatte den berühmten Piraten verewigt. Sie trat ein und sah sich um, er hatte die Gewölbe weiß gestrichen und an vielen Stellen das Mauerwerk freigelegt, dazwischen standen Glasvitrinen mit seinen Schmuckkreationen aus Bernstein. Sie entdeckte ihn an einem der Glasschränke, wo er zwei älteren Damen seine Bernsteinschmuckstücke zeigte. Er breitete mehrere Colliers auf seinem Tresen aus und nickte Margo knapp zu. Sie wollte warten, bis er seine Kundschaft abgefertigt hatte, und sah sich nach neuen Kreationen und besonderen Bernsteinen um. Plötzlich kam eine blonde junge Frau auf hohen Absätzen in den Laden gestürmt und schrie mit überschnappender Stimme:

»Papa ist tot!«

Sie wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt, dann sah sie Mark feindselig an und kreischte: »Aber du freust dich ja vielleicht.« Er wollte ihr nachgehen, aber sie war schon dabei, die Treppe hinab zu stürmen, und schrie ihm noch »Fass mich nicht an« zu.

Die beiden älteren Damen standen erschrocken und unschlüssig herum. Beinahe hätte die wütende Frau Margo, die an der Tür stehen geblieben war, umgerannt. Sie sah sie hasserfüllt an und kreischte weiter: »Du Schlampe, du Erbschleicherin. Ich kann mir denken, was du vorhattest.« Margo war völlig perplex, und ehe sie eine Antwort parat hatte, hörte sie nur noch das schnelle Hämmern der Absätze auf der Stahltreppe vor dem Laden.

»Meine Ex-Frau«, erklärte Mark überflüssigerweise.

Kapitel 4

Rike hörte das Zwitschern ihres Telefons schon, als sie die Tür noch gar nicht aufgeschlossen hatte. Eigentlich hatte sie frei, Überstunden abbummeln, und die Zeit für einen langen Spaziergang mit Prinz genutzt, ihren Mischlingsrüden, den sie vor einem halben Jahr aus dem Tierheim mitgenommen hatte. Das damals mitleiderregend winzige Häufchen Hund war inzwischen ein stattlicher Rüde geworden, dessen stürmische Liebesbekundungen eine weniger durchtrainierte und hochgewachsene Person umgeworfen hätten.

Obwohl sie ansonsten keine Frau war, die Probleme hatte, sich durchzusetzen, versagte ihre Autorität gegenüber ihrem Hundebaby, wie sie Prinz insgeheim noch nannte, das sie am Anfang mit der Flasche aufgepäppelt hatte. Sie nahm sich immer wieder vor, irgendwann mit dem Vierbeiner die Hundeschule zu besuchen. Jetzt zumindest schien er genauso erschöpft zu sein wie sie. Sie waren die drei Treppen von ihrem Haus zur Elbe hinuntergestiegen, wo Prinz sich am Strand ausgetobt hatte, und immer wieder vergeblich versucht hatte, Möwen zu fangen. Rike liebte es, den Binnenschiffen hinterherzusehen, die Sand oder Kies auf die Baustellen Hamburgs transportierten. Sie waren dann über eine Stunde elbaufwärts gelaufen, an Villen und einem Golfplatz vorbei, durch einen kleinen Wald und eine Fläche voll Heidekraut, eine Landschaft, die sie an ihre Kindheit erinnerte.

Das Handy, das zwischendurch verstummt war, zwitscherte leider schon wieder. Ärgerlich sah sie die Nummer der Polizeizentrale. Im letzten halben Jahr hatte sie Hunderte von Überstunden angesammelt, und doch wurde meistens sie angerufen, wenn Not am »Mann« war, schließlich war sie ja ledig und hatte keine Kinder.

»Von Menkendorf«, sagte sie schroff in den Hörer, als es wieder klingelte, und hörte überrascht die Stimme von Kriminaloberrat Karl Roth, dem obersten Leiter der Mordkommission. Der altgediente Kripomann war so etwas wie ihr Mentor, seit sie ihn noch als Jurastudentin nach der Vorlesung angesprochen und er sie ermutigt hatte, zur Polizeiakademie zu wechseln, um bei der Kriminalpolizei Karriere zu machen.

»Friederike, ich weiß, Sie haben sehr viele Überstunden gesammelt und noch nie eine Ermittlung geleitet. Aber wir haben einen Mordfall, und ich möchte, dass Sie diesen übernehmen. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mittlerweile genug Erfahrungen haben, und die Fähigkeiten bringen Sie sowieso mit«, sagte er in einem schmeichelnden Ton und warb weiter: »Das ist auch eine große Chance für Sie.«

Offenbar gab es wirklich einen Engpass, dachte sich Rike und wusste in dem Moment, dass sie ihrem Mentor diese Bitte schlecht abschlagen konnte.

Wegen der herbstlichen Grippewelle war das Kommissariat dünn besetzt, die Beamten von zwei der drei Hamburger Mordbereitschaften waren mit den Ermittlungen einer Todesserie im Altenheim mehr als ausgelastet.

 

»Da sitzt uns der Senator persönlich im Nacken«, erklärte Roth. Das Ganze, so lockte er, habe auch eine angenehme Seite, der Tote liege auf der Insel Neuwerk, dem schönsten Stadtteil Hamburgs. »Nehmen Sie die Spusi und das ganze Team mit«, ordnete er an und fügte hinzu: »Ach ja, Sie fliegen mit der »Libelle 1«. Im Moment ist der Schiffsverkehr ausgesetzt. Genießen Sie den Ausflug, so etwas werden Sie nicht oft geboten bekommen. So schwer kann es nicht sein, auf einer Insel mit 30 Einwohnern einen Mörder zu finden.«

Rike folgerte, dass er mit der »Libelle 1« wohl einen der beiden Hubschrauber der Hamburger Polizei meinte. Diese wurden vor allem für die Suche nach Vermissten oder die Überwachung von Demonstrationen eingesetzt, sie hatte noch nie gehört, dass Kommissare der Mordkommission damit zum Einsatz geflogen worden waren.

Das Ganze musste tatsächlich dringend sein. Sie sollte mit Volker Hendrichs, einem erfahrenen Kriminaltechniker, schnellstmöglich losfliegen, zwei Kollegen sollten ihnen folgen.

Der Chef hatte ihr ausgerechnet Robert Galinowski zugeteilt, mit dem sie gemeinsam auf der Polizeiakademie gewesen war. Ein unangenehmer Wichtigtuer, der nichts konnte, als hohle frauenfeindliche Sprüche zu klopfen, und versuchte, sich damit zu profilieren. Sie waren während der Ausbildung mehrfach aneinandergeraten. Die andere Kollegin, Mareike Schmidt, kannte sie nur flüchtig, die junge Frau war erst vor zwei Wochen in ihre Abteilung versetzt worden. Eigentlich gehörten fünf Polizisten zu einer Mordbereitschaft, doch Roth hatte erklärt, dass er unmöglich mehr Mitarbeiter abstellen könne. Er selbst wollte die Ermittlungen von Hamburg aus koordinieren.

Rike fuhr ihren Rechner hoch und druckte eine Mail mit einem Briefing aus, das sie während der Fahrt lesen wollte.

Während des Gesprächs mit Roth hatte sie nicht zugeben wollen, dass sie keinerlei Vorstellung hatte, wo sich diese Insel eigentlich genau befand. Sie gab den Namen in einen Kartendienst ein und war erstaunt. Neuwerk lag ganz und gar nicht in der Nähe von Hamburg, sondern 100 Kilometer weiter nördlich vor Cuxhaven in der Nordsee. Trotzdem gehörte der Ort administrativ zu Hamburg-Mitte. Man lernte in dem Job doch fast jeden Tag etwas dazu, das schätzte sie an der Polizeiarbeit.

Sie packte ein paar Kleidungsstücke und ihren Laptop in einen Seesack, dann schnappte sie sich den Hundekorb und Spielzeug für Prinz und klingelte am Haus nebenan. Sie hatte Glück, ihre Freunde Carlos und Stefan waren zu Hause. Die beiden waren für Rike in den letzten Jahren so etwas wie Familienersatz geworden, vor allem, nachdem ihre geliebte Großmutter erkrankt und bald darauf gestorben war. Wann immer sie von einer Sekunde auf die andere zu einem Einsatz gerufen wurde, hatten sie Prinz in Pflege genommen und sich nie über seinen Mangel an Hundebenehmen beklagt. Rike war eine der Trauzeuginnen der beiden Männer, als diese vor einem Jahr geheiratet hatten, und die drei verbrachten Weihnachten und manche Feiertage gemeinsam. Carlos, der Tänzer war und aus Italien stammte, schwankte unter der Umarmung der kräftigen Pfoten und kraulte dem Rüden liebevoll den Kopf. »Mein Lieblingskuscheltier«, sagte er zärtlich. Und: »Natürlich nehmen wir ihn«, fügte er hinzu, ohne dass Rike überhaupt fragen musste.

Sie stellte den Korb in die Küche, wo sich Stefan gerade bei einem Kaffee in die Sonntagszeitungen vertieft hatte. Er las täglich drei überregionale Zeitungen und war stets auf dem neuesten Stand der Weltpolitik und der wichtigsten kulturellen Ereignisse.

»Kaffee, Gnädigste?«, fragte er. Gelegentlich zog er Rike mit ihrem adeligen Namen auf, dabei hatte sie sich weitgehend von ihrer Familie abgenabelt und verachtete die Gepflogenheiten ihrer adeligen Verwandten, die ihre Zeit auf »standesgemäßen« Bällen oder Jagdgesellschaften verbrachten und sich sogar noch wie im letzten Jahrhundert mit Ihresgleichen verheirateten. Die Ablehnung beruhte wegen ihrer Berufswahl allerdings auf Gegenseitigkeit.

»Nein danke, ich muss leider«, sie verabschiedete sich schnell, damit Prinz erst gar nicht in Versuchung kam, jämmerlich jaulend hinter seinem Frauchen herzulaufen. Zudem hatte sie aus dem Fenster den blau-silbernen Streifenwagen gesehen, der sie abholen und zum Flughafen Fuhlsbüttel in den Norden der Stadt bringen sollte. Die beiden jungen Kollegen, die sie fuhren, kannte sie nicht. Sie hatte Mühe, die beiden zu überzeugen, erst auf der Elbchaussee Blaulicht und Sirene einzuschalten und nicht die gesamte Nachbarschaft zu beschallen.

»Wir haben unsere Anweisungen«, beharrte der Fahrer, normalerweise würde die Fahrt fast eine Dreiviertelstunde dauern. Rike war froh, dass sie sich zumindest noch kurz vorbereiten konnte. Viele Informationen hatte ihr Roths Sekretariat nicht zukommen lassen. Es ging um einen männlichen Toten, Verdacht auf Fremdeinwirkung. Das war alles, was über den Fall in den Unterlagen stand. Die Wasserschutzpolizei hatte nicht ausrücken können, da zu diesem Zeitpunkt Ebbe war und sie die Insel daher nicht mit dem Schiff erreichen konnten. Stattdessen hatte der Ortsvorsteher, das war so eine Art Bürgermeister, den Tatort abgesperrt. Dieser Kai-Uwe König war ihr Ansprechpartner für alle Fragen der Unterbringung und Logistik. Sie und ihre Kollegen sollten für die Zeit der Ermittlungen im Leuchtturm wohnen, wo der Hamburger Senat über eine eigene Etage verfügte. Roths Sekretärin hatte noch einige Seiten mit allgemeinen Informationen über die Region hinzugefügt.

Der Streifenwagen hielt am grauen Hangar der Hubschrauberstaffel, und Rike sah, dass die »Libelle 1«, einer von zwei Helikoptern, schon abflugbereit vor der Halle stand und bereits den Rotor angeworfen hatte. Sie bemerkte, dass der Kriminaltechniker Volker Hendrichs auf einem der drei Passagiersitze Platz genommen hatte. Der Flugtechniker nahm ihr das Gepäck ab und bat sie, schnellstmöglich ihren Platz einzunehmen. Er half ihr, sich anzuschnallen und die Kopfhörer aufzusetzen, ohne die man sich an Bord wegen des Lärms nicht verständigen konnte. Über Funk begrüßte sie der Pilot und erklärte, dass er in wenigen Minuten starten werde. Gerade hatte der Tower den Abflug freigegeben, da sich der Wind vorübergehend gelegt hatte. Rike hatte über Funk gefragt, ob der Hubschrauber nicht auf die beiden Kollegen warten könne. Der Pilot erklärte, dass der Hubschrauber wegen der Technik nur drei Passagiere mitnehmen könne. Er musste ohnehin zweimal fliegen und dabei auf dem Rückweg auch den Toten nach Hamburg transportieren. »Voraussichtliche Flugzeit 30 Minuten, ich wünsche einen guten Flug«, hörte sie über Funk.

Der Helikopter stieg steil nach oben und folgte der Elbe, überflog Cuxhaven, die Elbmündung, bis sie schließlich das dunkelblaue aufgewühlte Wasser der Nordsee unter sich sahen. Der Pilot meldete sich nochmals:

»Vor uns bei ein Uhr können wir die Insel Helgoland sehen, unser Reiseziel liegt jetzt genau unter uns. Vorbereitung zur Landung.«

Der Hubschrauber flog einen Bogen um ein fast viereckiges Landstück unter ihnen, das langsam größer wurde. An einem Ende sah sie einen weißen Turm, der aussah wie ein Fernsehturm, an der Südseite einen burgartigen roten Klinkerturm mit einer grünen Kuppel, einer davon musste der Leuchtturm sein, in dem sie auch wohnen sollten. Sie erkannte eine Handvoll Häuser, die wie bunte Bauklötzchen um den Rand der Insel wie hingestreut lagen, in der Mitte rannten Kühe und Pferde wohl wegen des Geräuschs panisch über die Wiesen. Direkt neben dem roten Turm setzte die »Libelle« auf einem gepflegten Grasplatz sanft ihre Kufen auf.

Kaum war der Rotor zum Stehen gekommen, näherte sich ein etwa 50-jähriger Mann mit Cowboyhut, Reithose und Wachsjacke.

»Frau von Menkendorf?«, fragte er und stellte sich als Inselbürgermeister Kai-Uwe König vor. Dann sah er sie und ihren Kollegen ratlos an. »Wen wollen sie denn zuerst verhören?«

Rike schüttelte den Kopf. »Wir würden uns gerne schnellstmöglich den Tatort ansehen, solange es noch hell ist.«

Kapitel 5

Noch immer stand Andrej vor dem Absperrband am Weg hinter dem Deich und ließ die Besucher erst auf ausdrückliche Anweisung seines Chefs passieren. Als Rike den angenagelten Schädel sah, ahnte sie, dass dies alles andere als ein netter Ausflug werden würde. Sie versuchte, sich auf die Schnelle alte Fälle ins Gedächtnis zu rufen, es war selten, dass die Täter ihre Opfer zerstückelten. Fälle mit abgetrennten Köpfen hatten sie nur theoretisch in der Polizeischule behandelt.

»Was für eine Tatwaffe wurde wohl hier benutzt?«, fragte sie Volker Hendrichs. Der kleine rundliche Mann mit Vollbart, der in einem weißen Overall steckte, zuckte mit den Schultern. Geschwätzigkeit konnte man ihm nicht gerade vorwerfen. Das war Rike aber allemal lieber als die makabren Witze, die einige Kollegen gerne rissen, am Tatort oder bei der Obduktion. Wohl ihre Art, Distanz zu den Ereignissen und den grausamen Schicksalen zu schaffen, aber Rike konnte mit diesem Versuch, die schrecklichen Bilder ihres Berufes zu verarbeiten, nur wenig anfangen.

Der Inselbürgermeister riss sie aus ihren Gedanken. »Das war noch nicht alles.« Er führte sie über die Brücke, an deren Geländer der Schädel aufgespießt war, auf einen kleinen Friedhof, auf dem Holzkreuze um einen Gedenkstein mit einer Inschrift standen, und zeigte ihr den Körper dahinter. »Kennen Sie den Mann?«, fragte sie König.

»Das ist nicht schwierig bei 30 Einwohnern.«

Rike wurde ungeduldig: »Name, Alter, Anschrift – ginge es denn bitte etwas genauer?«

König schüttelte entschuldigend den Kopf. »Sie müssen wissen, das ist mein erstes Mal … äh, mein erster Mord … als Bürgermeister. Hier passiert sonst nicht viel.« Er zeigte auf den Toten: »Das ist Peter Hein, er betrieb den Laden und die Gastronomie am Leuchtturm. Geschieden.« Rike notierte die Personalien und die Namen der Angehörigen, nachdem sie die Taschen des Opfers durchsucht hatte. Kein Handy, keine Papiere, kein Portemonnaie.

»Wir müssen den Toten abkleben, um die Faserspuren zu sichern«, sagte sie zu Hendrichs. »Er muss noch heute Abend nach Butenfeld, wenn wir hier fertig sind.« Das war ihr interner Name für die Gerichtsmedizin, nach der rückwärtigen Anfahrtsstraße für die Leichenwagen am Universitätsklinikum Eppendorf benannt, wo die Klienten der Mordkommission eingeliefert wurden. Der Hubschrauber stand bereits auf dem Landeplatz bereit, sie hatte die beiden Kollegen Robert Galinowski und Mareike Schmidt nur kurz empfangen und dann damit beauftragt, Wohnung und Arbeitsort des Opfers auf mögliche Kampfspuren und Auffälligkeiten zu überprüfen und dann zu versiegeln. Der Inselcowboy hatte die beiden zu dem Haus gebracht, das sich direkt neben dem Leuchtturm befand. Volker Hendrichs war noch damit beschäftigt, die Faserspuren am Körper des Toten zu sichern und den Tatort aus allen Perspektiven aufzunehmen. Sie würde die unangenehme Aufgabe übernehmen, die Angehörigen zu benachrichtigen und außerdem die Personendaten des Opfers prüfen.

Auf dem Weg zum Leuchtturm, wo sie wohnen und ihr provisorisches Büro einrichten sollten, überlegte sie. Was für ein schauriger Ort, dieser Friedhof der Namenlosen. Der Inselbürgermeister hatte ihr erklärt, dass dort bis zum Zweiten Weltkrieg alle Toten bestattet worden waren, die das Meer an den Strand der Insel gespült hatte. Warum hatte der Mörder den Toten ausgerechnet dort abgelegt? Dann dachte sie an den Kopf, der auf den Zaun genagelt worden war. An irgendetwas erinnerte sie dieses Bild. Sie dachte angestrengt nach, was für Fälle sie an der Polizeiakademie behandelt hatten. Diese Art, den Toten zur Schau zu stellen, hatte sie irgendwo schon einmal gesehen.