Leas Steine

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DIE ENTSCHEIDUNG

Langsam arbeitet sich Klara wieder ein. Sie besucht einige Künstler, wählt Bilder und Objekte aus und stellt Ausstellungen zusammen. Sie achtet auf sich, schaut auf ihre Ernährung und versucht Stress zu vermeiden, aber von einer versöhnlichen Stimmung ist sie noch weit entfernt. »Wir sollten jetzt endlich Mamas Wohnung ausräumen, dass wir sie bald zum Verkauf anbieten können. Ich könnte das Geld gut gebrauchen. Bist du wieder fit genug?« Andreas sitzt bei Klara im Wohnzimmer.

»Ja, wir müssen endlich damit anfangen«, murmelt Klara kleinlaut. Am liebsten würde sie sich davor drücken. Sie hat Angst vor den Gefühlen, die aufsteigen, wenn sie sich in der Wohnung ihrer Mutter befinden und ihre Sachen aussortieren. Die Gespenster der Kindheit!

Sie reservieren sich dafür das kommende Wochenende. Klara freut sich über Andreas’ Engagement, aber sie weiß auch, dass es ihm vor allem um sein Erbe geht. Die Möbel und anderes sperriges Gut lassen sie von einer Entrümpelungsfirma abtransportieren, um die kleinen Dinge müssen sie sich wohl oder übel selbst kümmern und das heißt, sich noch einmal mit Erinnerungen und aufsteigenden Gefühlen auseinanderzusetzen.

Den Kleiderschrank ihrer Mutter zu leeren, kostet Klara die größte Überwindung, denn seit sie denken kann, war der Schrank ihrer Mutter verschlossen, für die Kinder ein absolutes Tabu! Sie erinnert sich, wie gerne sie nur ein einziges Mal in den Schrank geschaut, an den Kleidern ihrer Mutter den leichten Parfumgeruch geschnuppert hätte, um wenigstens auf diese Weise eine Nähe zu ihr herstellen zu können. Doch der Schlüssel wurde sicher im verschlossenen Schreibtisch ihrer Mutter verwahrt. Zögernd, als täte sie etwas Verbotenes, öffnet sie den Schrank.

Teure Designer Kleider, Abendroben, teilweise noch mit Preisschildern versehen, hängen wohlgeordnet in Plastikhüllen auf den Bügeln. Im unteren Teil des Schrankes stehen die passenden Schuhe und Handtaschen. Klara holt tief Luft.

»Andreas komm einmal ins Schlafzimmer! Schnell!«

Sie kann nicht fassen, was sie da sieht. Der teure Traum ihrer Mutter! Seit sie sich erinnern kann, hatten sie nie genügend Geld. Der Vater habe kaum Unterhalt bezahlt, klagte ihre Mutter ständig. Wenn andere Kinder auf Klassenfahrten gingen, mussten Andreas und sie zu Hause bleiben, da nicht genügend Geld vorhanden war.

Andreas fehlen die Worte.

»Das kann doch nicht wahr sein! Für uns hat es kaum gelangt und hier hängen diese teuren Fummel, die sie noch nicht einmal getragen hat!« Andreas reißt die Kleider ärgerlich von den Bügeln. Schweigend füllen sie die Kleidersäcke. Jeder hängt seinen eigenen düsteren Gedanken nach.

Klara nimmt sich nun noch den Schreibtisch vor, dann ist die Wohnung endlich leer. Sie findet jede Menge alte Rechnungen und Prospekte, die sie sofort in den Papiersack steckt. Plötzlich hält sie in ihrer Bewegung inne. Ein adressiertes Briefkuvert weckt ihr Interesse. Klaus Winter liest sie. Ihre Mutter hat an ihren Vater geschrieben! Klara dreht das Kuvert um. Es ist zugeklebt. Mit zitternden Händen lässt sie den Brief in ihrer Tasche verschwinden. Jetzt im Moment möchte sie ihn Andreas nicht zeigen.

»So fertig!« Andreas kommt ins Zimmer. »Wie weit bist du?«

»Ich bin auch fertig.« Müde steht sie auf. »Morgen kann die Putzfrau kommen und übermorgen geht der Schlüssel an den Makler.«

Aufatmend verlassen sie die nun leere Wohnung. Jetzt ist die Kindheit endlich abgeschlossen, denkt Klara erleichtert. Trotzdem fühlt sie eine eigentümliche Leere in sich aufsteigen und ist froh, dass sie sich in Margos gemütlichem Haus zum Essen verabredet haben und dass dort ihre kleine Sunny auf sie wartet.

Margo und Sunny erwarten sie schon im Garten.

»Ach, tut das gut, euch beide zu sehen!« Sie nimmt ihre Freundin in den Arm und streichelt einer freudigen Sunny über den Kopf.

»War es so schlimm?«

»Viel schlimmer!« Klara lässt sich schwer in einen Korbstuhl fallen.

»Was war denn? Gibt es mit der Wohnung Probleme?« Margo schenkt ihr einen Tee ein und fordert sie auf, sich ein Brot zu nehmen. Klara nimmt erst einmal einen Schluck Tee, dann erzählt sie Margo von ihrem Fund im Kleiderschrank und von dem Brief.

»Das ist heftig! Was sagt Andreas dazu?«

»Der ist immer noch stinksauer. Den Brief habe ich ihm gar nicht gezeigt.«

Die beiden essen schweigend. Plötzlich fällt Margo etwas ein.

»Sag einmal, ist der Brief voll adressiert?«

Klara nimmt ihn aus der Tasche.

»Ja, es ist die gesamte Anschrift drauf. Woher sie die wohl gehabt hat?«

»Dann hast du ja jetzt die Adresse deines Vaters!«

Klara stutzt. Soweit hat sie überhaupt nicht gedacht!

»Ja, das stimmt, aber das interessiert mich nicht!«

Daheim kommt ihr Marianne in den Sinn: Du wirst geführt und wenn es sein soll, dann wirst du deinen Vater finden. Aber sie möchte ihn nicht finden!

Sie nimmt den Brief noch einmal in die Hand. Was hat ihre Mutter dem Vater wohl nach so langer Zeit geschrieben? Oder ist das gar nicht der erste Brief, den sie an ihren Mann geschickt hat? Diese Fragen lassen Klara nicht in Ruhe. Am liebsten würde sie den Brief lesen. Ich könnte ihn über Wasserdampf öffnen. Die Versuchung ist groß, doch die Skrupel überwiegen.

Die nächsten Tage ist sie viel unterwegs, besucht Künstler und besucht ihre Galerie in München. Ihre Mitarbeiterin möchte die Galerie gerne ganz übernehmen. Klara ist erstaunt, doch sie verspricht, es sich zu überlegen. Sie nimmt sich vor, mit Margo darüber zu sprechen. Vielleicht wäre eine Reduzierung der Arbeit nicht schlecht und sie müsste nicht dauernd nach München fahren. Je länger sie darüber nachdenkt, desto besser gefällt ihr der Gedanke, die Galerie aufzugeben.

Doch der Brief und die Fragen, die er aufwirft, lassen sie nicht in Ruhe. Sobald sie allein in ihrer Wohnung ist, tauchen die Gedanken daran auf wie lästige Besucher, die man nicht mehr loswird. Vielleicht sollte sie ihren Vater in Sorrent doch besuchen. Dieser Gedanke geht ihr nicht mehr aus dem Sinn. Als sie Margo in der Galerie trifft, schneidet sie das Thema an.

»Ich überlege, ob ich meinen Vater doch besuche.«

Margo nickt zustimmend.

»Ich würde das gut finden und vielleicht kann er deine Fragen beantworten.«

Immer wieder überlegt sich Klara, ob sie nun fahren soll, oder nicht. Als sie merkt, wie ihre Gedanken wieder zu kreisen beginnen und die Angst wiederkehrt, ruft sie Marianne an. Sie schildert ihr Problem.

»Klara, hast du Zeit? Kannst du herkommen?«

Klara bejaht freudig. Ein Wochenende bei Marianne ist genau das, was sie gerade braucht! Die Tage am Bodensee sind diesmal zwar verregnet und kühl, doch die Gespräche mit Marianne nehmen ihr den Druck und bringen ihr Klarheit. Sie möchte endlich Antworten auf ihre vielen Fragen erhalten! Im Herbst wird sie ihren Vater in Sorrent besuchen!

SORRENT OKTOBER 2013

Klaus tritt auf den Balkon hinaus. Er liebt den weiten Blick auf den Golf von Neapel, der unter dem blauen Himmel glitzert und funkelt, als ob tausend kleine Lichtgeister auf seiner Wasseroberfläche tanzen würden. Er lebt nun seit bald vierzig Jahren in Sorrent, doch diese Aussicht fasziniert ihn immer wieder auf das Neue.

Jetzt jedoch schweift sein Blick in die Ferne, ohne die Schönheit um sich herum wahrzunehmen. Vor einer Stunde brachte der Postbote den Brief. Er hatte den Stapel wie immer entgegengenommen und ihn noch auf den Stufen zurück ins Haus durchgesehen. Die Zeitung war darunter, zwei Briefe für Guiseppa, ein Werbeflyer von einem Pizzaflitzer und eben der Brief aus Deutschland, schnell erkennbar für ihn durch die ausländischen Marken.

Er hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und den Brief mit zittriger Hand geöffnet. Lieber Klaus, stand dort in Computerschrift geschrieben. Sie hatte ihn nicht mit lieber Vater angesprochen! Es versetzte ihm einen Stich, obwohl ihm klar war, dass er diese Anrede nicht verdient hätte. Trotzdem!

Lieber Klaus,

nach dem Tod unserer Mutter haben wir beim Ausräumen ihrer Wohnung einen an Dich adressierten Brief gefunden. Sie wollte ihn wohl vor ihrem plötzlichen Tod an Dich abschicken. Da uns nun Dein Wohnort bekannt ist, habe ich mir gedacht, Dich auf meiner Italienreise zu besuchen und Dir den Brief persönlich zu übergeben. Wenn Du mit einem Treffen einverstanden bist, schreibe mir doch bitte zurück. Ich fahre Ende Oktober nach Lucca und würde so Mitte November in Sorrent eintreffen.

Mit freundlichen Grüßen. Klara

Die Kühle und die Distanziertheit in ihrem Brief schmerzen ihn jetzt, eine Stunde später, immer noch. Sie ist also gestorben! Ob sie krank war? Nein, Klara hat von einem plötzlichen Tod geschrieben. Es wird wohl ein Unfall gewesen sein. Sie hat ihm einen Brief geschrieben? Klaus spürt die bekannte Enge und die Schmerzen in der Herzgegend. Er geht in die Küche, um eine Tablette zu nehmen. Er will nicht wissen, was sie ihm geschrieben hat! Nicht schon wieder Vorwürfe, nicht nach all den Jahren! Er hat sich hier ein neues Leben aufgebaut. Sie hat kein Recht, mit ihrem Brief hier einzudringen!

Er setzt sich an den Küchentisch, atmet tief ein und aus und wartet, bis sich der holperige Herzschlag langsam wieder beruhigt.

»Klaus, meine Güte, du bist ja ganz weiß im Gesicht! Was ist denn los? Wieder das Herz?« Guiseppa beugt sich zu ihm hinunter und streicht ihm über den Kopf. »Sollen wir den Arzt anrufen?« Klaus schüttelt den Kopf.

»Es geht gleich wieder, ich habe schon eine Tablette genommen.« Er zeigt ihr den Brief. Guiseppa überfliegt kurz die Zeilen.

 

»Oh, das tut mir leid mit deiner Exfrau, aber dass Klara kommt, das ist doch schön!«

»Ich freue mich ja auch. Es war nur ein Schock, plötzlich, nach so vielen Jahren etwas von ihr zu hören.« Klaus steht leicht schwankend auf.

»Sei mir nicht böse, aber ich möchte jetzt ein wenig allein sein.« Freut er sich, dass Klara kommt? Er weiß es nicht. Eigentlich sollte ich doch überglücklich sein, Klara wiederzusehen, überlegt sich Klaus. Es gab eine Zeit in seinem Leben, da hätte er alles dafür gegeben, seine Kinder wiederzusehen, aber nachdem alle seine Versuche auf Ablehnung gestoßen waren, hatte er kapituliert und versucht, sie aus seinem Leben zu streichen. Er konnte die Enttäuschungen und die damit verbundenen Schmerzen nicht mehr ertragen. Er musste Rücksicht auf sein Herz nehmen. Jetzt kommt sie einfach so in mein Leben, weil es ihr gerade passt, begehrt er innerlich auf. Sie hat das Recht dazu, denn sie ist meine Tochter! Ich möchte mich ja auch freuen, aber jetzt, so unvermittelt, macht mir das Wiedersehen Angst. Ich habe keine Kraft mehr für Auseinandersetzungen. Dass solche auf ihn zukommen, das zeigt ihm der Brief mehr als deutlich. Klaus öffnet die Türe zu seinem Arbeitszimmer. Der Geruch von alten, in Leder gebundenen Büchern, von staubigen Papieren und dem leicht erdigen Duft seines Rasierwassers steigt ihm in die Nase und vermittelt ihm eine gewisse Geborgenheit und gibt ihm die Vertrautheit und Sicherheit zurück, die mit dem Eindringen der Vergangenheit in sein jetziges Leben erschüttert wird.

Er setzt sich an seinen Schreibtisch und betrachtet die vollen Regale, die die gesamte Wand gegenüber einnehmen. Viele wertvolle, antiquarische Bücher bekannter Schriftsteller haben hier ihren Platz neben seinen eigenen Werken, in denen er über seine archäologischen Arbeiten in aller Welt berichtet. Er liebt seinen Beruf. Als er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr aktiv an Ausgrabungen teilnehmen konnte, hatte er das Angebot eines Lehrstuhls für Archäologie an der Universität Mailand gerne angenommen.

Das hier ist seine Welt! Dazu gehört seine zweite Frau Guiseppa, seine Tochter Francesca mit ihrem Mann Claudio, sein zweijähriger Enkel Giovanni und sein Nesthäkchen Lucia.

Klaus weiß nicht, ob er sein altes Leben mit dem jetzigen mischen möchte. Bisher hatte er stets darauf geachtet, dass eine strikte Trennungslinie seine beiden Leben voneinander abgrenzte.

Er nimmt den Brief noch einmal zur Hand. Es liegt an ihm, ob sie kommt! Er könnte ihr schreiben, dass er im November leider nicht zu Hause sei, dass er für längere Zeit ins Ausland reise. Vor was habe ich denn Angst, fragt er sich. Vielleicht wird es auch sehr schön. Ich könnte ihr sagen, dass nicht ich es war, der damals gegangen ist. Hat sie eigentlich eine Ahnung davon, was damals geschehen ist? Karin wird es Klara sicher erzählt haben. Hoffentlich! Sie hat ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Andreas, sein Sohn, ist ihm ganz fremd, denn er war noch ein Kleinkind, als sie ihn verließ. Was wohl aus ihm geworden ist? Wie er aussieht? Hat er Ähnlichkeit mit mir? Er müsste jetzt so Mitte Vierzig sein. Ich habe viele Fragen, die ich Klara gerne stellen würde. Ich habe erwachsene Kinder, die ich gar nicht kenne. Fremde!

Draußen wird es laut und unterbricht ihn in seinem monologhaften Denken. Ein Auto fährt auf den Hof, eine Autotür schlägt zu und das freudige Gebell seines Hundes verliert sich in Guiseppas lautem, italienischem Redeschwall. Er hört die ruhige, tiefe Stimme von Salvatore, seinem Freund und Hausarzt. Guiseppa hat ihn also doch angerufen! Klaus seufzt, erhebt sich mühsam und geht langsam seinem Freund entgegen.

»Ciao, Salvatore, nett, dass du vorbeischaust. Gibt es einen Grund für deinen lieben Besuch?«

Der Arzt zieht die linke Augenbraue hoch und sieht seinen Freund erstaunt an.

»Frag nicht so scheinheilig. Du weißt ganz genau, warum ich hier bin!«

»Alles halb so schlimm. Du siehst ja, es geht mir wieder besser. Ein kleiner Anfall und schon bekommt es meine liebe Frau mit der Angst zu tun. Aber Unkraut vergeht nicht!« Lächelnd nimmt er Guiseppa in den Arm und reicht dem Arzt die Hand.

»Komm herein und trinke einen Espresso mit uns.«

»Ja, gerne, aber erst nachdem ich dich untersucht habe.« »Aber mir geht es wirklich wieder gut!« Klaus verdreht die Augen.

»Keine Widerrede! Andiamo!«

Geraume Zeit später sitzen sie auf der großen Terrasse und genießen den grandiosen Ausblick auf das Meer. Die Sonne scheint an einem strahlend blauen Himmel.

»Was war denn los? Guiseppa hat nur gesagt, dass du wieder einen Herzanfall hattest. Du musst aufpassen, Klaus! Tunlichst keine Aufregungen. Es kann einmal auch nicht mehr so glimpflich ausgehen.« Salvatore schaut seinen Freund prüfend an.

»Ich habe einen Brief von meiner Tochter bekommen. Meine Exfrau ist plötzlich gestorben und Klara, meine Tochter, möchte mich hier besuchen. Das hat anscheinend meinen Herzschlag ein bisschen beschleunigt, aber so schlimm, wie Guiseppa meint, war es jetzt auch nicht.« Klaus lächelt seinem Freund zu, doch es ist ein gequältes Lächeln.

»Freust du dich nicht auf ihren Besuch?«

»Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher. Auf der einen Seite ja, andererseits werden Dinge aus der Vergangenheit wieder aufgerollt, die ich eigentlich hinter mir lassen möchte.«

»Ich habe zwar keine Ahnung, was dich belastet, aber dass du die ganzen Jahre eine schwere Last mit dir trägst, das habe ich immer gespürt. Im Studium habe ich gelernt, dass alles, was wir an Schmerzhaftem oder an Traumata aus der Vergangenheit ins Unterbewusstsein verdrängen und es nicht anschauen und bearbeiten, sich irgendwann seinen Weg nach außen bahnt. Schlimmstenfalls durch eine Neurose, bestenfalls, wenn man so sagen kann, durch eine körperliche Krankheit. Vielleicht täte es dir gut, mit deiner Tochter zusammen die Schatten der Vergangenheit anzuschauen, um sie endlich zu verscheuchen. Was immer eure Familie belastet, es wäre gut, wenn ihr darüber sprechen würdet.« Salvatore steht auf und tritt an das Balkongitter. Er lässt seinen Blick schweifen. Unter ihm auf der linken Seite liegt die Stadt Sorrent, leicht rechts erhebt sich in der Ferne ihr Hausberg, der Vesuv, und schräg davor liegen die Inseln Capri und Ischia. Er möchte dem Freund Gelegenheit geben, das Gesagte zu verarbeiten. Klaus sollte sich endlich seiner Vergangenheit stellen, denkt er. Ich kann nur seine Symptome mit Tabletten behandeln, aber wie lange lässt sich sein krankes, belastetes Herz im Zaum halten? Salvatore dreht sich um. Klaus tritt zu ihm und lehnt sich ebenfalls an das Geländer.

»Du hast Recht! Ich werde Klara einladen. Wir müssen über die Vergangenheit reden. Sie hat ein Recht darauf!« Klaus fühlt sich mit einem Mal leichter, wie befreit.

»Ja, das fühlt sich für mich gut an. Später werde ich ihr schreiben.«

Salvatore legt ihm den Arm um die Schulter. Eine ganze Weile stehen die beiden Männer schweigend nebeneinander und blicken auf das Meer hinaus.

Liebe Klara, schreibt er in seiner schwungvollen, leicht schnörkeligen Handschrift.

Ich danke Dir für Deinen Brief. Der Tod Deiner Mutter tut mir sehr leid, aber er führt uns nach so langer Zeit wieder zusammen und darauf freue ich mich. Bis bald und eine schöne Reise durch Italien.

Viele liebe Grüße. Dein Vater.

Als der Brief verschlossen und mit Klaras Anschrift versehen vor ihm auf dem Schreibtisch liegt, spürt er Freude in sich aufsteigen. Beschwingt nimmt er den Brief und geht zu Guiseppa in die Küche. Er umfasst von hinten ihre rundliche Taille und schwingt sie im Kreis zu sich herum.

»Mamma mia, Klaus, was ist denn in dich gefahren?« Guiseppa kichert und streicht sich die wirren, graumelierten Locken aus der Stirn.

»Ich gehe in die Stadt und gebe den Brief auf. Ich habe Klara eingeladen. Und weißt du was?«

»Was, mein Liebster?«

»Ich freue mich, wenn sie kommt!« Schwungvoll, mit großen Schritten verlässt Klaus das Haus und geht mit einem Ticino, der an der Leine aufgeregt hin und her springt, nach Sorrent.

Seine älteste Tochter kommt zu ihm!

Klaus freut sich auf Klaras Besuch. Jeden Tag kommt er mit einer neuen Idee, was er mit ihr alles unternehmen möchte und was er ihr alles zeigen will. Guiseppa kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie freut sich, dass sich sein großer Wunsch, seine Tochter wiederzusehen, endlich erfüllt.

»Guiseppa, Klara soll meine Steinsammlung erben, wenn ich einmal nicht mehr bin.«

Sie sitzen bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse. Es ist noch ein relativ milder Oktoberabend. Die frühe Dunkelheit lässt den Mond über dem Meer seine silberne Bahn zeichnen.

»Wie kommst du jetzt gerade auf einen solchen Gedanken? Fühlst du dich nicht wohl?« Guiseppa sieht Klaus erschrocken und forschend an.

»Nein, nein, du musst keine Angst haben! Es geht mir gut. Ich wollte dir nur meinen letzten Willen für Klara mitteilen. Man weiß ja nie, was morgen ist.«

Klaus verliert sich in seinen Gedanken. Wie waren sie an dem bewussten Morgen glücklich gewesen, bis dann plötzlich das Schicksal zugeschlagen hatte. Danach war nichts mehr, wie es vorher gewesen war. Alles zerstört und das Glück schien für ihn für immer verloren zu sein. Was sein altes Leben betraf, so war das tatsächlich der Fall. Dass ihm in diesem Leben noch einmal ein neues Glück vergönnt sein würde, daran hatte er damals nicht mehr geglaubt. Klaus seufzt auf. Als er Guiseppas fragenden Blick sieht, zwingt er sich zu einem Lächeln. »Ich habe gerade daran gedacht, wie glücklich ich bin, dass ich dich gefunden habe.« Er nimmt Guiseppas kleine Hände in die seinen und drückt sie fest.

»Ich danke dir für alles, meine Liebe.«

Guiseppa muss ihre plötzlich aufsteigenden Tränen hinunterschlucken. Es ist wie ein Abschied! Weg mit diesen dummen Gedanken, ruft sie sich selbst zur Ordnung.

»Komm, mein Schatz, es ist schon spät und kühl wird es langsam auch. Lass uns zu Bett gehen. Morgen ist auch noch ein Tag!«

»Geh schon vor. Ich bleibe noch ein bisschen auf. Ich bin noch nicht müde.« Klaus sieht Guiseppa nach, wie sie mit dem Tablett in den Händen in das Haus geht. Meine liebe Frau, denkt er zärtlich. Guiseppa, die diese Liebe in ihrem Rücken spürt, dreht sich noch einmal um und wirft ihm einen innigen Blick zu.

Er dreht sich wieder um und lehnt sich an das Terrassengeländer. Er steht lange dort und schaut mit weitem Blick auf den Golf, der unter ihm im silbernen Mondlicht glänzt. Dann dreht er den Kopf und blickt auf Sorrent, das ihm mit seinen unzähligen Lichtern zu Füssen liegt. Ich habe meine neue Heimat lieben gelernt und doch habe ich mein Heimweh nie ganz verloren. Gott sei Dank hat Guiseppa das nie erfahren, denkt Klaus. Seufzend dreht er sich um. Mit einem letzten Blick verlässt er die Terrasse. Warum bin ich heute Abend so melancholisch? Klaus schüttelt über sich selbst den Kopf. Bald kommt Klara! Er freut sich auf ihre gemeinsamen Unternehmungen und Gespräche. Vielleicht hätte ich damals, als es mir wieder besserging, beharrlicher um das gemeinsame Sorgerecht kämpfen sollen, dann wären mir meine eigenen Kinder heute nicht fremd.

Als er das Wohnzimmer betritt, spürt er eine große Müdigkeit, die ihn körperlich und geistig erfasst. Kurz ausruhen, denkt er und setzt sich in seinen Lieblingssessel. Sein Blick fällt auf die Madonna und auf das rote Licht davor, das durch den Luftzug der offenen Terrassentür lebhaft flackert und lustige, kleine Schatten auf die Statue wirft. Er liebt die Mutter mit ihrem Kind. Als er nach Italien kam, staunte er über die vielen Statuen und Bilder, die überall an Hauswänden, in kleinen Gebetsstöcken in den Gassen und natürlich in den Kirchen zu finden sind. Bald darauf, als er und Guiseppa heirateten, hielt die Madonna auch Einzug in seinem neuen Haus und immer häufiger fand er den Weg zu ihr. An manchen Tagen, wenn ihn seine Traurigkeit zu überwältigen drohte, fand er bei ihr wieder zu seinem inneren Frieden und Gleichgewicht zurück. Er lässt sich tief in seinen Sessel sinken und nimmt die friedvolle Stille, die ihn umgibt in sich auf. Ihm ist feierlich zu Mute.

Er schließt die Augen. Bald kommt Klara!

Seit sich Klara zu der Reise entschieden hat, wechseln sich Erwartungsängste, Unsicherheit und auch Freude in ihr ab. Wie Vater wohl aussieht und ob ich ihn überhaupt erkenne? Klara malt sich in Gedanken immer wieder die Begegnung mit ihm aus, mal positiv, voller gegenseitiger Freude und Vertrautheit, ein anderes Mal erlebt sie fast spürbar ihre gegenseitige Fremdheit und Distanz. Sie muss sich selbst jedes Mal aufs Neue Mut zusprechen. »Sunny, morgen gehen wir auf eine große Reise und du darfst mit.« Sunny schaut Klara erwartungsvoll an und als ob sie es verstanden hätte, wedelt sie freudig mit dem Schwanz.

 

»So, jetzt gehen wir zu Margo.«

Zur Einstimmung auf ihre Italienreise hat Margo sie zu einem Pizzaessen eingeladen. Mit einer Flasche italienischem Rotwein und mit Sunny macht sich Klara auf den Weg. Mit dem Auto braucht sie nur zehn Minuten zum Haus ihrer Freundin. Draußen breitet sich schon die frühe Dunkelheit des Oktobers aus und feuchter Nebel wabert um die Häuser. Die hell erleuchteten Fenster von Margos kleinem Häuschen wirken einladend und heimelig. Klara kann sie vom Gartenweg aus in ihrer Küche werkeln sehen. Klara schlingt sich ihren Schal enger um den Hals und beeilt sich, ins Warme zu kommen.

Wie oft hat sie in der letzten Zeit hier ihre Zuflucht genommen. Immer war Margo für sie da gewesen und hatte sie mit einem Tee, Kaffee oder einem liebevoll zubereiteten Essen empfangen. Sie kommt gerne hierher. Margo hatte das Haus vor zehn Jahren günstig von einer alten Dame gekauft, liebevoll renoviert und modernisiert, dabei aber den alten Charme des Hauses erhalten. Ihr kleiner, verwilderter Garten vor dem Haus vergrößert mit seinen vielen blühenden Blumen, Stauden und einer naturbelassenen Blumenwiese das Idyll. Hinter dem Haus könnte man meinen, man befinde sich in einem italienischen Garten. Ein kleiner Springbrunnen und zwei grazile Marmorschönheiten, die erhaben inmitten rund geschnittener Buchsbäumchen verweilen, vermitteln dem Besucher, vor allem im Sommer, ein südliches Flair. Margo lebt ihre künstlerische Kreativität in der Gestaltung ihres Gartens aus. Ständig bringt sie von ihren Ausflügen und Reisen neue Sämereien und Pflanzen mit, die bei ihr meistens gut gedeihen. Sie hat ein grünes Händchen, das wird auch in ihrem Haus sichtbar, denn in beinahe jedem Zimmer stehen Grünpflanzen, viele jetzt auch zur Überwinterung.

Sie klingelt und Margo öffnet.

»Hallo Klara, Sunny meine Süße, schön, dass ihr da seid, kommt herein, am besten gleich in die Küche. Wir essen dort. Super, dass du einen Rotwein mitgebracht hast! Ich wollte dich anrufen und bitten, dass du einen mitbringst. Hab es dann aber wieder vergessen.«

Klara setzt sich an den großen Holztisch, der mit rotem Steingutgeschirr und bunten Servietten bereits gedeckt ist. In der Mitte des runden Esstisches steht ein Glaskrug mit einem üppigen Strauß gelber und roter Astern.

»Die Letzten aus meinem Garten«, wie Margo auf Klaras bewundernden Ausruf bemerkt.

Man merkt, dass Margo gerne kocht, denkt Klara, als sie die Küche betrachtet. Die Kücheneinrichtung ist altbelassen mit großem Büffet und Regalen, alles in hellem Holz gehalten. Sie hat das Flair einer alten, gemütlichen Bauernküche.

Auf der Fensterbank wachsen in bunten Steinguttöpfen Basilikum, Oregano, Schnittlauch und Zitronenmelisse. Von der Decke baumelt neben Zwiebelzöpfen auch ein Kranz aus kleinen, roten Peperoni und an einer Schnur hängen aufgereihte Knoblauchzehen.

Auf einem Servierwagen steht eine große, provenzalische Obstschale, in der blaue Trauben, rotbackige Äpfel und braungesprenkelte Bananen ein Stilllebenidyll zaubern, das eine stimmungsvolle Vorlage für ein Gemälde abgeben würde. Ich sollte wieder mit dem Malen anfangen, denkt sie. Ich könnte eigentlich meinen Skizzenblock mit auf die Reise nehmen, vielleicht finden sich ein paar schöne Motive.

»Ich habe mir gerade überlegt, dass ich meine Pastellkreiden mitnehme.«

»Find ich eine super Idee, ich möchte auch schon lange mal wieder etwas malen, aber glaubst du, ich komm dazu?« Margo schüttelt ein wenig resigniert den Kopf. Während sie den Salat mit Oregano, ihren Küchenkräutern, Balsamico und Olivenöl abschmeckt, steigen aus dem Backofen die feinen Düfte der fast fertigen Pizza und erfüllen den Raum.

»Langsam bekomme ich richtig Appetit«, stellt Klara fest. »Soll ich den Wein schon öffnen?«

»Ja, gerne, die Pizza ist in wenigen Minuten fertig.«

Klara schenkt den Wein in die bereitgestellten Gläser und zündet die Kerze an, die auf dem Tisch steht. Gedankenverloren schaut sie in das rubinrote Funkeln des Weines, der zur Hälfte die Kristallgläser füllt. Margo legt die Pizza auf ein großes Holzbrett und stellt sie auf den Tisch.

»Kannst du bitte das Messer rüberreichen?«

Klara schrickt aus ihren Gedanken auf und gibt Margo das Messer. Später, als sie sich am Küchentisch gegenübersitzen und das Essen genießen, fragt Margo: »Wann fährst du morgen?«

»Sehr früh«, bemerkt Klara. »Ich denke, dass ich so gegen fünf Uhr abfahre. Ich bin schon richtig aufgeregt. Auf die Reise freue ich mich, aber ob es richtig ist, dass ich meinen Vater besuche, weiß ich immer noch nicht. Ich fühle mich so hin und hergerissen.«

»Hast du ihm eigentlich geschrieben, dass du kommst?« »Ja«, meint Klara. »Erst dachte ich, ich gehe unangemeldet vorbei, klingle einfach und stelle mich vor. Aber schon der Gedanke, dass ich mich als seine Tochter vorstellen muss, ist mir unangenehm. Ich finde es befremdlich, wenn ich daran denke, dass wir uns bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße wahrscheinlich gar nicht erkennen würden.« Klara seufzt und schwenkt den Wein sachte in ihrem Glas, bevor sie einen Schluck daraus nimmt. »Ich habe ihm einen kurzen Brief geschrieben und ihm mein Kommen angekündigt, kein konkretes Datum, nur so in etwa.«

»Das finde ich vernünftig. Du kannst nicht einfach unangemeldet bei ihm auftauchen.«

»Aber er konnte so einfach ohne Abschied aus unserem Leben verschwinden, oder, wie?« Klara springt vom Stuhl auf und läuft unruhig hin und her.

»Komm, setz dich wieder hin und hör auf, so ein Drama daraus zu machen. Es ist immerhin über vierzig Jahre her und du kennst seine Version der Geschichte noch nicht. Ich finde es gut, dass du dich endlich mit ihm triffst. Ihr müsst euch aussprechen.« Margo schaut Klara ernst an. »Du hast ja recht. Marianne hat dasselbe gemeint. Weißt du, was sie beim letzten Besuch zu mir gesagt hat, als wir uns voneinander verabschiedeten? Ich solle ihr einen Stein von Italien mitbringen. Komisch, nicht wahr. Sie wusste zu dem Zeitpunkt noch gar nicht, dass ich dorthin fahre. Und warum ausgerechnet einen Stein?«

»Bei Marianne wundert mich das nicht, sie scheint immer ein bisschen mehr zu wissen und zu spüren.« Margo schenkt sich Wein nach. »Möchtest du auch noch Wein? »Nein danke, ich muss ja noch fahren, lieber einen Kaffee.«

Nach einer Stunde bricht Klara auf. Margo nimmt sie fest in die Arme.

»Ich wünsche euch beiden eine ganz schöne Reise. Viel Erfolg mit deinem Vater. Genieße und nutze die Zeit. Mach dir um die Galerie keine Sorgen, es läuft alles bestens! Auch die neue Mitarbeiterin ist gut eingearbeitet. Und du sei schön brav!« Sie streichelt Sunny über den Kopf. »Bitte melde dich ab und zu oder sende mir wenigstens eine SMS, damit ich mir keine Sorgen mache.« Margo unterdrückt mühsam ihre aufsteigenden Tränen. Es wird eine längere Zeit dauern, bis sie sich wiedersehen. Obwohl Margo sich sehr freut, dass Klara diese Reise unternimmt, empfindet sie trotzdem den Schmerz des Zurückbleibens und sie vermisst sie jetzt schon. Margo steht noch lange am Küchenfenster und sieht Klaras Auto hinterher, dessen Rücklichter im Nebel verschwinden.

Klara ist mit Kofferpacken beschäftigt. Sie weiß nicht so recht, was sie einpacken soll. Ist es Anfang November warm in Sorrent oder ist es eher kühl? Sie entscheidet sich für beide Kleidungsvarianten, so ist sie, wenigstens was das Wetter betrifft, auf der sicheren Seite. Ihr ist auch noch nicht klar, wie lange sie bleiben wird. Mit Margo hat sie vier Wochen vereinbart. Mal sehen, wie lange ich es aushalte und wie es sich mit meinem Vater überhaupt entwickelt, denkt sie, während sie ihre Kosmetikartikel im Bad zusammensucht. So, jetzt noch das Fressen, den Napf und die Schlafdecke für Sunny, dann bin ich fertig. In Gedanken geht sie das Eingepackte noch einmal durch. Das Ladegerät für ihren Computer hat sie vergessen einzupacken. Nun stehen die Koffer fertig gepackt im Flur. Mittlerweile ist es Zeit für sie, ins Bett zu gehen, denn morgen möchte sie um vier Uhr aufstehen.

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