Sperare Contra Spem

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Exkurs: Hans Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr

1902 in La Chaux-de-Fonds geboren, wächst Adrienne von Speyr in einem streng protestantischen Milieu auf. Schon in früher Kindheit und Jugend verspürt sie den Drang, „Gott allein zu gehören, ihm mit ihrem ganzen Dasein restlos zur Verfügung zu stehen“309, kann innerhalb ihrer eigenen Kirche jedoch keine diesem innersten Wusch entsprechende Lebensform und somit keine religiöse Heimat finden. „Mit jedem Pastor setzt es neue Diskussionen ab: sie fühlt sich unerklärlich enttäuscht, der ihr vorgetragene Protestantismus dünkt sie leer, ‚Gott ist anders‘ erklärt sie aufs bestimmteste ihren Lehrern.“310

Zwei Elemente sind es vor allem, die sie schmerzlich vermisst: Zum einen fehlte ihr die Dimension der Mütterlichkeit.311 Eine Marienvision, die sie als Fünfzehnjährige hat, und vor allem „nach der Konversion der unglaublich intime Umgang mit der Mutter des Herrn wird ihr die Antwort auf das Fehlende geben.“312 Zum anderen sehnt sie sich nicht minder intensiv nach der Möglichkeit der Beichte, der bevollmächtigten Sündenvergebung. Noch 1940, im Jahr ihrer ersten Begegnung, konvertiert Adrienne von Speyr bei Hans Urs von Balthasar.

Schon bald darauf macht sie erste geistliche Erfahrungen, die sich zunehmend intensivieren. Die mystischen Einsichten, die ihr dabei zuteil werden, bilden die Grundlage für das, was Speyr und Balthasar immer deutlicher als an sie gemeinsam ergehenden Auftrag Gottes „ganz auf der Linie der großen, aus der Trad. bekannten ‚geistlichen Freundschaften‘ bzw. ‚Doppelsendungen‘“313 erkennen. Diese Sendung findet ihren Niederschlag sowohl auf der Ebene christlicher Lebensführung wie auf im engeren Sinne theologischdogmatischer Ebene, wobei unbedingt daran zu erinnern ist, dass beide Ebenen sich nach balthasarschem, aber auch nach speyrschem Verständnis notwendig wechselseitig durchdringen.

Im Hinblick auf Möglichkeiten, Ernst mit einem Leben ganz aus dem Glauben zu machen, wächst schon früh bei von Speyr, zunehmend dann auch bei Balthasar das Bewusstsein, von Gott dazu beauftragt zu sein, eine neue Gemeinschaft von Frauen und Männern zu gründen, die zwar mitten im weltlichen Leben stehen und arbeiten, sich aber dennoch zu einem Ordensleben im Geiste ignatianischer Spiritualität verpflichten. „Die Besten sollten sich hier zusammenfinden, die wichtige Stellungen in der Gesellschaft einnehmen sollten und stark genug wären, um in der schwierigen Position zwischen Welt und Kloster zu stehen.“314

In diesem Sinne wird 1944 die Johannesgemeinschaft gegründet; im Oktober 1945 entsteht als erster der weibliche Zweig. Die Initiative, das eigentlich Neue, Originelle geht dabei von Speyr aus. „Sie hat nicht nur eine Weltgemeinschaft gegründet, sondern dieses Institut auf eine umfassende Theologie gegründet, die wesentlich von ihr stammt.“315 Balthasar seinerseits bemüht sich, ihre Impulse theologisch gleichermaßen zu untermauern wie auszuwerten und einzuordnen. „Für Balthasar sind die sog. ‚Weltgemeinschaften‘ … die existentielle Klammer, welche die ‚konkrete Universalität‘ des christlichen Glaubens in seiner ganzen Spannung heute am ehesten lebensmäßig [und nicht nur theoretisch] zusammenhalten und in eine gesellschaftlich greifbare Gestalt bringen kann.“316 In dieser Form christlichen Lebens erkennt er die Zukunft der Kirche, und er weiß sich sicher von Gott dazu beauftragt, am Aufbau dieser Zukunft gestaltend mitzuwirken. Als das ursprüngliche Vorhaben, die Johannesgemeinschaft im Raum der Gesellschaft Jesu anzusiedeln, scheitert, weil die Ordensoberen Zweifel an der Echtheit des Auftrags, vor allem aber an der Integrität der Beziehung zwischen ihrem Mitbruder und Speyr hegen, tritt Balthasar darum schweren Herzens aus dem Orden aus, um seinem Auftrag in unverbrüchlicher Treue dienen zu können.

Bedeutsamer als die Gründung des Säkularinstituts ist im Hinblick auf die uns hier beschäftigende Frage nach dem Theologieverständnis Balthasars die theologische Zusammenarbeit beider, die unmittelbar aus den geistlichen Erfahrungen Speyrs erwächst. Während ihrer mystischen Zustände steht Balthasar ihr als Chronist zur Seite. Sein „Beitrag bestand darin, die Diktate zu stenographieren und sie, nach dem ausdrücklichen Wunsch Adriennes, in eine ‚kirchlich-präzise‘ Sprache zu übertragen.“317 Auch diese Form der Zusammenarbeit begreifen beide ausdrücklich als Moment ihrer gemeinsamen Sendung. „Diese Sendung ist wesentlich theologisch in der umfassenden Bedeutung des Wortes. Es bedeutet nämlich, das Wort Gottes zu empfangen und zu vermitteln, zu bedenken, zu ‚interpretieren‘ und in die menschliche Wirklichkeit einzupflanzen.“318 Worum es also geht, sind nicht etwa die Zustände der Mystikerin, die sie selber zeitlebens skeptisch beargwöhnt319, sondern einzig und allein der in der mystischen Erfahrung objektiv mitgeteilte Gehalt. Diesen aber allererst zu ermitteln und folgend zur Sprache zu bringen, bedarf es nach der Überzeugung Speyrs und Balthasars in ihrem gemeinsamen Fall des doppelten Charismas. „Während sie das Charisma der mystischen Erfahrung einbringt, bringt er das Charisma des Amtes mit, das ebendiese Erfahrungen prüft, einordnet und deutet.“320 Balthasar selbst nennt als unabdingbare Voraussetzungen, über die er zu diesem Zweck verfügen musste, „die zuerst philologische, dann philosophisch-theologische Ausbildung mit ihrer Ausrichtung auf eine Kenntnis der spirituellen Tradition, innerhalb derer ich das Besondere und Neue der Einsichten Adriennes zu situieren vermochte“321.

Genau hier eröffnet sich nun ein gewichtiges Problem, das denn auch in der Balthasar-Rezeption bis auf den heutigen Tag zu Irritationen führt. Balthasar legt ausdrücklich Wert darauf, bei seinen Mit- und Niederschriften „nirgends ergänzt, abgerundet, weggelassen“322, sondern lediglich im Bedarfsfall „kleine stilistische Änderungen angebracht“323 zu haben, und weist jeden Verdacht, seine eigene Theologie gleichsam in den Mund Speyrs gelegt zu haben, weit von sich. „Der entscheidende Grund …, weshalb die Diktate A’s – und zwar alle – keinesfalls auf ‚Suggestion‘ von meiner Seite beruhen können, ist die Originalität ihrer Theologie [meiner bisherigen gegenüber] und deren erstaunliche Kohärenz trotz so vieler verschiedenartiger Themen.“324 Zwar gesteht er zu, von Speyr sei, vor allem zu Beginn ihrer Beziehung, durch die vielen, intensiven religiöser Gespräche durchaus auch von ihm geprägt worden,325 kommt aber insgesamt zu der Einschätzung: „Im ganzen habe ich theologisch mehr von ihr erhalten, als sie von mir“326.

Dennoch scheinen hier Zweifel angebracht. Zwar „steht völlig außer Frage, dass Hans Urs von Balthasars Arbeiten nach der Begegnung mit Adrienne von Speyr von deren Erfahrungen geprägt und inspiriert sind“327, aber es gibt durchaus auch Äußerungen Balthasars, die eine nicht unerhebliche Einflussnahme seinerseits auf die Gedanken Speyrs einräumen. So etwa, wenn er notiert, „daß durch meine literarische, philosophische und theologische Vorbildung ein Mittel bereitgestellt wurde, die Fülle ihrer (= Speyrs; S. H.) theologischen Einsichten aufzunehmen und ihnen einen angemessenen Ausdruck zu geben [da es nicht um einen mechanischen Prozeß ging, sondern Adriennes Beteiligung an der Auswortung des geistig Geschauten ihre eigene Mitwirkung erforderte, die aber wiederum etwas wie eine katholische Sicht und katholisches Vokabular bei mir voraussetzte], sodann zuweilen auch so, daß ich Dinge oder auch Personen, die sie zwar erkannte, aber nicht genau zu bestimmen wusste, festlegen konnte.“328 Hier liegt doch der Verdacht nahe, dass Adrienne von Speyr, die nie Theologie studiert hat, mit der Beurteilung der Angemessenheit der balthasarschen Diktion und Interpretation zuweilen schlicht überfordert gewesen sein dürfte.

Zu ähnlich kritischem Blick veranlasst Balthasars Zugeständnis, „dass, wenn während der Lektüre der Werke Adriennes der Eindruck entstehen könne, dass das ‚purer H. U. [von Balthasar]‘ sei, diese Vermutung durchaus zu Recht bestehe. Er selbst gebe ‚gewisse Konturen‘ vor, die aber ‚nicht das Gesamtergebnis, sondern nur den Weg‘ beeinflussten.“329 Hinzu kommen eine Reihe widersprüchlicher Aussagen.330 Einerseits etwa sagt Balthasar, in den Erfahrungen von Speyrs fänden viele seine Väterstudien Bestätigung oder gar Erfüllung331, andererseits erklärt er, dass die „Hauptthemen im Werk Adriennes in meinen Büchern vor 1940 keine Rolle spielen, so viel Kirchenväter und andere Theologen ich auch studiert haben mochte.“332

Als letztes Beispiel sei das Thema der vorliegenden Studie, Balthasars Theologie der Hölle genannt, die, wie ein Blick in seine einschlägigen Texte schnell belegt, ohne die Speyrsche Theologie des Karsamstags schlechterdings undenkbar wäre333, während es auch Aussagen Balthasars gibt, wonach seine „diesbezügliche Theologie vor meiner Begegnung mit Adrienne von Speyr [1940] durchaus abgeschlossen“334 gewesen sei.

Diese wenigen Hinweise mögen genügen. Sie sollten lediglich zeigen, dass die Entwicklungslinie auch zentraler theologischer Gedanken Balthasars keineswegs immer eindeutig nachzuvollziehen ist. Eine inhaltliche Synopse des gemeinsamen Werkes Balthasars und Speyrs steht bisher aus, wäre aber sicherlich auch im Hinblick auf die Balthasarforschung ein ertragreiches Forschungsprojekt.335 Bisher versuchen die meisten TheologInnen, dem Problem aus dem Weg zu gehen, indem sie eine Herangehensweise wählen, wie sie pointiert in dem von Werner Löser formulierten Vorschlag zum Ausdruck kommt: „Gegen Balthasars eigenen Rat wird man gut daran tun, diese (= Speyrs; S. H.) Bücher auf sich beruhen zu lassen, und sich nur mit dessen (= Balthasars; S. H.) eigenem theologischen Denken zu befassen.“336 Das aber kommt m. E. einer Selbsttäuschung gleich, weil es nun einmal kein Werk Balthasars gibt, das sich als solches sauber vom Werk Speyrs separieren ließe. Wo also in dieser Untersuchung die zentralen Inhalte der balthasarschen Theologie zur Darstellung kommen, soll dies ausdrücklich in dem Bewusstsein geschehen, dass es sich dabei um Ergebnisse eines Prozesses handelt, in dem die Erfahrungen und Erkenntnisse Adrienne von Speyrs und Hans Urs von Balthasars, in welcher Form auch immer, zusammenfließen.

 

Im Hinblick auf die inhaltliche Fragestellung dieser Arbeit sind vor allem drei Themenkomplexe zu nennen, in denen von Speyr „systembildenden Einfluß auf Hans Urs von Balthasars Theologie“337 ausübt. Das Herzstück ihrer Theologie besteht in ihrer trintarischen Gotteslehre. „In diesem Zusammenhang entwirft sie eine trinitarische Ontologie (und) relativiert bzw. interpretiert mit einer Neuinterpretation des Werdens das traditionelle Theologumenon von der Unveränderlichkeit Gottes in Richtung einer trinitarisch motivierten Rede von der Lebendigkeit Gottes“338. Balthasar übernimmt ihre zentralen Gedanken und Anliegen; es wird im Einzelnen zu untersuchen sein, um welchen Preis. Zweitens ist von Speyrs Theologie der Beichte zu nennen, die ihren Niederschlag vor allem in Balthasars Stellvertretungslehre sowie in seiner Gerichtstheologie findet. Schließlich und vor allem ist noch einmal die Bedeutung der Theologie des Karsamstags zu erwähnen. Balthasar begreift diesen Ansatz als hilfreichen Versuch zur Wiederbelebung einer nahezu vergessenen Glaubensaussage. Im Sinne der theologischen Prüfung bringt er die zentralen Aussagen mit der christlichen Tradition ins Gespräch und entwickelt sie dergestalt zu einer Theologie der Hölle und, was das eigentlich Originäre ist, zu einer Theologie der Hoffnung für alle fort.

Damit wären die wesentlichen inhaltlichen Spuren Adrienne von Speyrs im Werk Balthasars umrissen. In eher formaler Hinsicht ist zudem, und damit kehren wir zum Ausgangspunkt dieses kurzen Exkurses zurück, ihre Theorie der Mystik zu nennen.339 Sie hat sich nicht nur auf die ihr zuteil werdenden mystischen Erfahrungen eingelassen und sich um ihre inhaltliche Auswertung bemüht, sie hat darüber hinaus auf einer Metaebene die Bedingungen der Möglichkeit wahrer christlicher Mystik und ihren theologischen Stellenwert reflektiert. Damit aber hat nach Balthasars Einschätzung „Adrienne von Speyr … die Mystik aus einer Winkelexistenz, in die sie, mehr und mehr verkannt, ja verachtet, von der offiziellen Theologie und Verkündigung verwiesen wurde, wieder zurückgeholt in die Mitte des Heilsgeschehens“340. Den Hauptakzent legt sie dabei entschieden auf die objektive Seite. Was einzig zählt, ist das Erfahrene; der Mensch in seiner übernatürlichen Zuständlichkeit ist irrelevant. „Sein ganzes Fühlen ist in den Dienst der zu erlebenden Schau gestellt; er verkörpert gleichsam etwas vom objektiven Empfinden Gottes.“341 Diese empfundene göttliche Wahrheit gilt es dann theologisch zum Ausdruck zu bringen. Balthasar kann in diesem Zusammenhang statt von objektiver Mystik auch von experimenteller Dogmatik342 sprechen, weil die mystische Erfahrung als unmittelbarer Ausgangspunkt für dogmatische Erkenntnisse ernst genommen wird. Er folgt Speyr in dieser Einschätzung und wertet sie seinerseits im Hinblick auf ein allgemeines Theologieverständnis aus.

2.2.3 Mystik als locus theologicus

„Dort, wo Wort Gottes nicht nur mit dem exegetischen und theologischen Verstand, sondern mit dem ganzen Herzen, der ganzen Existenz gehört, wo der Selbsterschließung des Herzens Gottes in Feuer und Nacht standgehalten wird: dort ereignet sich, was – nicht im vagen religionsgeschichtlichen und -philosophischen, sondern im katholisch-kirchlichen Sinn – Mystik genannt zu werden verdient.“343 Christliche Mystik bedeutet demnach vom Menschen her gesehen zunächst einmal eine Steigerung und Überhöhung der von jedem Gläubigen und insbesondere auch von jedem Theologen geforderten spirituellen Haltung des Zur-Verfügung-Stehens für das von Gott her Zugesagte.344 Dennoch wäre sie als menschliche Leistung, etwa als Ergebnis besonderer asketischer oder meditativer Anstrengungen, völlig falsch verstanden. Mystische Erfahrung ist vielmehr freie Gnadengabe und in diesem Sinne Heiligung; der Mensch hat von sich aus keinerlei Verfügungsmöglichkeit, er kann und muss sich nur zur Verfügung stellen.

Dies gilt umso mehr, als Balthasar davon ausgeht, dass die Charismen des Geistes „den genauen Punkt, auf welchen der Geist in einer bestimmten Epoche die Kirche aufmerksam machen möchte“345, anzeigen. Der Geist reagiert also gleichsam auf die Fragen und Nöte der jeweiligen Zeit und eröffnet neue Perspektiven und Zugänge, indem er „einen Menschen … wie unmittelbar in den Ursprung der Offenbarung zurückwirft, um in der durch den Geist allein herstellbaren Gleichzeitigkeit eine distanzlose Auslegung zu vollziehen.“346 Die zeitliche Distanz zwischen dem konkreten Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus und der einzelnen kirchen- und theologiegeschichtlichen Epoche wird somit überwunden, wodurch der geoffenbarten Wahrheit ganz neue Aktualität zuwächst.

Entscheidend ist nun, dass es sich bei solcher mystischer Erkenntnis nach balthasarschem Verständnis nicht etwa um die Einsicht in eher randständige Einzelfragen handelt. „Jedesmal ist es ein Grundaspekt der Offenbarung, der neu und wie erstmalig ins Licht gebracht wird, ein Gesichtspunkt, der durch die ganze Offenbarung hindurchgeht, und darum die Theologie als Auslegung der Offenbarung nicht gleichgültig lassen kann.“347 Was dem oder der Heiligen in der mystischen Schau als implizite Theologie zuteil wird, muss von der rationalen, wissenschaftlichen Theologie expliziert und so der Kirche allgemein zugänglich gemacht werden. Mystik kommt deshalb unbedingt dogmatische Bedeutung zu, oder, um es andersherum auszudrücken, Dogmatik bedarf der Mystik als „unmittelbare(r) Quelle der Fruchtbarkeit göttlichen Lebens in Kirche und Menschheit.“348

Zu dieser Überzeugung gelangt Balthasar vor allem auch mit Blick auf die Anfänge christlicher Theologie. „Betrachten wir die Geschichte der Theologie bis zur Hochscholastik, so fällt dem unbefangenen Blick auf, daß die großen Heiligen, jene nämlich, die es nicht nur durch eine gewisse persönliche Bemühung zu einer vorbildlichen Reinheit des Lebens gebracht haben, sondern offenkundig von Gott eine Sendung in die Kirche hinein erhalten haben, in der Mehrheit auch große Dogmatiker waren.“349 Ihre theologischen Einsichten beruhten auf und erwuchsen aus unmittelbarer, lebendiger Glaubenserfahrung und fanden ihrerseits wiederum Niederschlag in christlicher Lebenshaltung und -führung. „Kurz, diese Säulen der Kirche sind totale Persönlichkeiten: was sie lehren, das leben sie in einer so direkten, um nicht zu sagen naiven Einheit, daß der Dualismus der späteren Zeit zwischen Dogmatik und Spiritualität ihnen unbekannt ist.“350

Balthasar wird nicht müde, diese seiner Beobachtung nach mit der Hochscholastik einsetzende Trennung von Spiritualität, Askese und Mystik auf der einen und dogmatischer Theologie auf der anderen Seite zu beklagen.351 „Die Überfrachtung der Theologie mit weltlicher Philosophie (hat) den spirituellen Menschen der Theologie entfremdet.“352 In der Konsequenz hat mystisches Erleben mehr und mehr den Rückzug in den Bereich reiner Subjektivität und Innerlichkeit angetreten, während die Theologie zunehmend objektiv und damit blutleer, abstrakt und schematisch wurde. „Wie dogmatische Theologie nicht ohne Philosophie auskommen kann, die ihr das Seinsverständnis vermittelt, so kann sie auch ohne die ‚Theo-philieder Heiligen nicht auskommen, die ihr die Gottesliebe immer neu vermittelt.“353 Balthasar fordert deshalb eine Neubesinnung auf die unauflösbare Zusammengehörigkeit von überlieferter Dogmatik und Mystik, denn, so seine tiefe Überzeugung, „nur beide zusammen bilden [entsprechend dem Urbild in der Offenbarung] jene einzigartige ‚Gestalt‘ die im Licht der Gnade vom gläubigen Auge ‚gesehen‘ werden kann, ja in der Welt unübersehbar bleibt“354. Worum es ihm im Sinne eines lebendigen Glaubenszeugnisses geht, ist das je neue Durchdenken dogmatischer Aussagen vor dem Hintergrund experimenteller Erfahrungen. „Dabei sind die Mystiker und ihre Aussagen über Inhalte des christlichen Glaubens als gültige theologische Quellen ernstzunehmen.“355

Es gilt also auch hier, und, so wird man wohl sagen müssen, hier im besonderen Maße, der von Balthasar aufgestellte Grundsatz, dass Objektivität ihren ursprünglichen Erscheinungsort im Subjektiven hat. Um jedem Missverständnis zuvor zu kommen, sei noch einmal ausdrücklich betont: Balthasars Interesse gilt in keiner Weise den Zuständen mystischen Ergriffenseins oder den persönlichen Befindlichkeiten der MystikerInnen. „Entscheidend ist, dass das Objekt sich von sich her in einer es angemessen ausdrückenden und offenbarenden Form dem Geist und den Sinnen des Mystikers ein-bildet, und dabei durchaus auch dessen Einbildungskraft verwenden kann.“356 Im mystischen Erleben geht es also einzig und allein um die konkrete Erfahrung objektiver Offenbarung. Zwar richtet sich das Wort Gottes an das persönliche Vermögen und die individuellen Anlagen eines Einzelnen, aber alles Subjektive hat Bedeutung nur im Hinblick auf seine Werkzeuglichkeit für das jeweils Zugesagte. „Die Mitte der Sonderheit einer Spiritualität ist also nicht die Person des Trägers, sondern die Sendung von oben, die sich deshalb auch nie empirischpsychologisch aufrechnen und abgrenzen läßt.“357 Der Mensch wird ganz und gar von Gott ergriffen, seiner selbst entrückt und in den Dienst genommen. Christliche Mystik ist nach balthasarschem Verständnis reine Dienstmystik, der von Seiten des Mystikers einzig die Haltung grundsätzlichen Gehorsams entsprechen kann. Er muss einerseits in völliger Disponibilität bereit sein, sich stets neu überwältigen zu lassen, statt immer schon Bescheid wissen zu wollen; er ist andererseits aber auch verpflichtet, den objektiven Inhalt, das ihm Geoffenbarte unter weitestgehendem Ausschluss aller subjektiven Faktoren, an die Kirche zu übermitteln um in der Gemeinschaft der Gläubigen selbst erst zum rechten Verständnis des ihm Zugesagten zu finden. Als Kriterien echter christlicher Mystik benennt Balthasar dementsprechend „die Qualität des Jawortes, der reinen Dienstbereitschaft, des Durchgabewillens, der eigenen Anonymität, der völligen Durchlässigkeit für das Wort Gottes.“358

Wenngleich auch jedes Charisma als einmalige Zuwendung Gottes zu einem konkreten Einzelmenschen zu verstehen und als solche in keiner Weise zu verzwecklichen ist, so gilt doch vor allem, dass „alles ‚Charismatische‘ mit dem Gliedcharakter des Einzelnen zusammenhängt.“359 Die Fülle der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus wird durch die Vermittlung des Geistes stets der Gesamtkirche in ihrer Universalität zuteil. Alle Einzeloffenbarungen sind daher als Ausgliederungen aus der einen endgültigen und unüberbietbaren Offenbarung, alle besonderen Charismen als Anteilhabe an der allgemeinen Charis zu begreifen.360 Balthasar will daher außergewöhnliche Charismen im paulinischen Sinne als „Teilaufträge Einzelner für die Gemeinschaft“361 verstanden wissen.

Kriterium für wahre christliche Mystik ist dementsprechend nicht zuletzt die Möglichkeit ihrer Kommunizierbarkeit und Vereinbarkeit. „In der Theologie der Heiligen geht es um ein integrales Denken, um ein umfassendes Begreifen des Sowohl-Als-auch.“362 Balthasar unternimmt keineswegs den Versuch, ein System aus Mystiken zu entwickeln, aus den Steinchen einzelner mystischer Erfahrungen gleichsam ein Mosaik zu erstellen. Weil er aber, wie dargelegt, von der objektiven Evidenz der göttlichen Wahrheit überzeugt ist, glaubt er sicher sagen zu können, dass alles Unwahre sich angesichts seiner Inkompatibilität mit dem Gesamt der christlichen Glaubenslehre notwendig selbst entlarven muss.

„Damit ist das besondere Wesen kirchlicher Mystik … hinreichend situiert. Sie steht als ganze im Raum der Freiheiten des Geistes, der aber im Raum der biblisch-kirchlichen Tradition weht. Es gibt für diese Mystik keinerlei Schema, nach dem die Phänomene sich einordnen und entwickeln liessen. Jedes … fällt senkrecht vom Himmel herab. Dennoch fügt es sich … sogleich in die Landschaft der Tradition ein: verleiht der Botschaft neues Leben“363. Theologie obliegt dann die rationale Durchdringung des dergestalt Geoffenbarten.

 

Bis hierher wurde der Versuch unternommen, in groben Zügen die wesentlichen Linien des balthasarschen Theologieverständnisses nachzuzeichnen. Dabei zeigte sich, dass er Theologie im Wesentlichen als Erhellung der einen Glaubenslehre im Licht konkreter Erfahrung göttlicher Selbstoffenbarung begreift. Die innere Form der Theologie ist demnach zu verstehen als „eine aktiv-passive Einstrahlung der göttlichen Herrlichkeit aus der Offenbarungsform her … Natürlich wird diese Primärform nur durch die sekundären Formen hindurch erreichbar – durch geprägte Worte, Begriffe, Bilder, Schemata“364. Als einzig möglicher Denkweg hin zu der Primärform angemessenen Sekundärformen gilt Balthasar seinsphilosophisches Denken aus meta-anthropologischer Perspektive, weil es seiner Überzeugung nach gleichermaßen geeignet ist, das Mysterium göttlicher Selbstoffenbarung zu wahren wie der Dynamik des Geschehens zwischen Gott und Mensch Rechnung zu tragen.

Zu fragen ist nun in einen weitern Schritt, zu welchen Sekundärformen Balthasar auf diesem Weg in seinem Werk findet, mit welchen Mitteln er also versucht, der Primärform, wie sie sich ihm darstellt, Gestalt zu verleihen.