Ideologie, Identität, Repräsentation

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3. ›Falsches Bewusstsein‹ oder Pluralität der ökonomischen Diskurse?

Nehmen wir zum Beispiel das äußerst heikle Gebiet der ›Verzerrungen‹ der Ideologie und die Frage des ›falschen Bewusstseins‹. Nun ist unschwer zu sehen, warum solche Formulierungen Marx’ Kritiker dazu brachte, über ihn herzufallen. Der Ausdruck ›Verzerrungen‹ wirft unmittelbar die Frage auf, weshalb Leute, die ihr Verhältnis zu ihren Existenzbedingungen in den Kategorien einer verzerrten Ideologie leben, nicht erkennen können, dass sie verzerrt ist, während wir es mit unserer überlegenen Weisheit, bewaffnet mit richtig gebildeten Begriffen, können. Sind die ›Verzerrungen‹ einfach Unwahrheiten? Sind es absichtlich geförderte Fälschungen? Wenn ja, durch wen? Funktioniert Ideologie wirklich wie bewusste Klassenpropaganda? Und wenn Ideologie vielmehr Produkt oder Funktion ›der Struktur‹ als einer Gruppe von Verschwörern ist, wie erzeugt dann eine ökonomische Struktur einen im voraus garantierten Set ideologischer Effekte? Offensichtlich sind die Ausdrücke, so wie sie sind, hilflos. Sie lassen sowohl die Massen als auch die Kapitalisten wie erklärte Deppen aussehen. Sie ziehen zudem eine merkwürdige Sichtweise der Bildung alternativer Bewusstseinsformen nach sich. Man muss annehmen, dass diese dann entstehen, wenn den Leuten die Schuppen von den Augen fallen, oder wenn sie, wie aus einem Traum erwacht, das Licht erblicken, das durch die Transparenz der Dinge ummittelbar auf ihre essentielle Wahrheit, deren verborgene strukturelle Prozesse strahlt. Dies ist eine Darstellung der Entwicklung des Arbeiterklassenbewusstseins, die auf dem recht wunderlichen Modell des Heiligen Paulus und der Straße von Damaskus beruht.

Machen wir selbst eine kleine Ausgrabung. Marx nahm nicht an, dass Hegel deshalb, weil er den Höhepunkt spekulativen bürgerlichen Denkens darstellte und die ›Hegelianer‹ sein Denken vulgarisierten und verhimmelten, kein Denker ist, mit dem man rechnen musste, von dem zu lernen sich lohnte. Noch mehr gilt dies für die klassische Politische Ökonomie, von Smith bis hin zu Ricardo, wobei wiederum die Unterscheidungen zwischen verschiedenen Ebenen einer ideologischen Formation wichtig sind: der klassischen Politischen Ökonomie, die Marx ›wissenschaftlich‹ nannte; der Vulgärökonomie, die mit ›bloßer Apologetik‹ beschäftigt ist; und dem ›Alltagsbewusstsein‹, mit dem die praktischen bürgerlichen Unternehmer ihre Gewinnchancen kalkulieren – orientiert, aber (bis der Thatcherismus aufkam) völlig unbewusst, am Denken von Ricardo oder Adam Smith. Noch aufschlussreicher ist es, wenn Marx betont, dass (a) die klassische Politische Ökonomie tatsächlich ein mächtiges und gehaltvolles wissenschaftliches Werk war, welches (b) nichtsdestoweniger eine wesentliche ideologische Grenze, eine Verzerrung enthielt. Diese Verzerrung hat Marx zufolge nicht unmittelbar etwas zu tun mit Fehlern oder Lücken in der Argumentation, sondern mit einem weitergehenden Verbot. Die verzerrten oder ideologischen Merkmale entsprangen der Tatsache, dass sie die Kategorien der bürgerlichen Politischen Ökonomie, als Grundlage jeder ökonomischen Kalkulation, voraussetzten, da sie es ablehnten, die historische Bedingtheit ihrer Ausgangspunkte und Prämissen zu sehen. Andererseits entsprangen sie der Unterstellung, dass die ökonomische Entwicklung mit der kapitalistischen Produktion nicht bloß ihren bis dahin höchsten Punkt erreicht habe (damit stimmte Marx überein), sondern ihren endgültigen Abschluss und Höhepunkt. Danach konnte es keine neuen Formen ökonomischer Verhältnisse mehr geben. Die Formen und Verhältnisse der kapitalistischen Produktion würden ewig fortbestehen. Genaugenommen waren die Verzerrungen in der bürgerlichen theoretischen Ideologie, in ihrer ›wissenschaftlichen‹ Form, nichtsdestoweniger real und substantiell. Zahlreiche Aspekte ihrer wissenschaftlichen Gültigkeit wurden aber dadurch nicht beseitigt, und sie war daher nicht einfach deshalb falsch, weil sie innerhalb der Grenzen und des Horizonts bürgerlichen Denkens befangen war. Andererseits beschränkten die Verzerrungen ihre wissenschaftliche Gültigkeit, ihre Fähigkeit, über gewisse Punkte hinauszugelangen, ihre eigenen inneren Widersprüche zu lösen, ihre Kraft, außerhalb der Hülle der in ihr widergespiegelten gesellschaftlichen Verhältnisse zu denken.

Diese Beziehung zwischen Marx und den klassischen Politischen Ökonomen repräsentiert auf weitaus komplexere Weise das Verhältnis von ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹ innerhalb einer so genannten wissenschaftlichen Denkweise, als viele von Marx’ Kritikern angenommen haben. Tatsächlich trugen kritische Theoretiker bei ihrer Suche nach größerer theoretischer Strenge, nach einer absoluten Trennung zwischen ›Wissenschaft‹ und ›Ideologie‹ und einem sauberen epistemologischen Bruch zwischen ›bürgerlichen‹ und ›nichtbürgerlichen‹ Ideen selbst erheblich dazu bei, die Beziehungen zu vereinfachen, die Marx weniger theoretisch ausführte als praktisch herstellte (d.h. in der Form, in der er tatsächlich die klassische Politische Ökonomie sowohl als Stütze wie als Gegner benutzte). Wir können die spezifischen ›Verzerrungen‹, die Marx der Politischen Ökonomie vorwarf, umbenennen, um später auf ihre allgemeine Anwendbarkeit zurückzukommen: Marx nannte sie die Verewigung von Verhältnissen, die tatsächlich historisch spezifisch sind, und den Effekt der Naturalisierung, der die Produkte einer spezifisch historischen Entwicklung als universell gültig behandelt, als seien sie nicht durch historische Prozesse entstanden, sondern gewissermaßen von Natur aus.

Wir können einen der umstrittensten Punkte – die ›Falschheit‹ oder die Verzerrungen der Ideologie – von einem anderen Standpunkt aus betrachten. Es ist bekannt, dass für Marx die spontanen Kategorien des gewöhnlichen bürgerlichen Denkens ihre Grundlage in den Formen auf der ›Oberfläche‹ des kapitalistischen Kreislaufes haben. Marx stellte insbesondere die Bedeutung des Marktes und des Austausches fest, wo Verkäufe und Profite gemacht werden. Dieser Zugang lässt, so Marx, den kritischen Bereich – die ›verborgne Stätte‹ – der kapitalistischen Produktion selbst außer Acht. Einige seiner wichtigsten Formulierungen entspringen diesem Argument.

Zusammengefasst lautet es wie folgt: Der Austausch auf dem Markt erscheint als das, was im Kapitalismus die ökonomischen Prozesse regiert und reguliert. Die Marktverhältnisse stützen sich auf eine Reihe von Elementen, und diese erscheinen (sind repräsentiert) in jedem Diskurs, der von diesem Standpunkt aus versucht, den kapitalistischen Kreislauf zu erklären. Der Markt führt, unter den Bedingungen des gleichen Tauschs, Konsumenten und Produzenten zusammen, die nichts voneinander wissen – und wissen müssen, sofern die ›unsichtbare Hand‹ des Marktes da ist. Ebenso bringt der Arbeits-Markt jene zusammen, die etwas zu verkaufen (Arbeitskraft) und solche, die etwas dafür zu bezahlen haben (Löhne): ein ›gerechter‹ Preis wird ausgehandelt. Da der Markt wie durch Zauberei funktioniert, indem er ›blindlings‹ die Bedürfnisse und ihre Befriedigung aufeinander abstimmt, gibt es darin keine Zwänge. Wir können ›wählen‹, ob wir kaufen und verkaufen wollen oder nicht (und wohl auch die Konsequenzen tragen: diese Seite ist jedoch nicht so gut repräsentiert in den Marktdiskursen, die auf der positiven Seite der Wahlmöglichkeiten mehr ausgearbeitet sind als bezüglich der negativen Konsequenzen). Käufer und Verkäufer brauchen weder den Antrieb durch guten Willen noch Nächstenliebe oder Kameradschaft, um im Markt-Spiel erfolgreich zu sein. In der Tat funktioniert der Markt am besten, wenn jede Partei sich nur durch ihr Eigeninteresse beraten lässt. Er ist ein System, das durch die realen und praktischen Imperative des Eigeninteresses angetrieben wird. Dennoch verschafft er ringsum eine bestimmte Art von Befriedigung. Der Kapitalist stellt Arbeitskraft ein und macht seinen Profit; der Grundbesitzer vermietet sein Eigentum und erhält eine Rente; die Arbeiterin erhält ihren Lohn und kann so die Lebensmittel kaufen, die sie braucht.

Nun ›erscheint‹ aber der Austausch auf dem Markt auch in einem ganz anderen Sinn. Er ist der Teil des kapitalistischen Kreislaufes, den jeder klar sehen kann, das Stückchen, das wir alle täglich erfahren. Ohne zu kaufen und zu verkaufen, würden wir in einer Geldwirtschaft alle sehr schnell physisch und gesellschaftlich zu einem Stillstand kommen. Sofern wir nicht gründlich in andere Aspekte des kapitalistischen Prozesses verwickelt sind, wissen wir nicht unbedingt viel über die anderen Teile des Kreislaufes, die notwendig sind, wenn Kapital verwertet und der ganze Prozess reproduziert und erweitert werden soll. Und doch gibt es nichts zu verkaufen, wenn keine Waren produziert werden, und es ist zuallererst die Produktion – das jedenfalls hat Marx nachgewiesen –, in der die Arbeit ausgebeutet wird. Währenddessen ist die Art der ›Ausbeutung‹, die eine Marktideologie allenfalls sehen und begreifen kann, das ›Profitieren‹ – einen zu großen Anteil am Marktpreis zu erzielen. Der Markt ist damit der Teil des Systems, dem universell begegnet und der universell erfahren wird. Er ist der augenfällige, sichtbare Teil: der Teil, der beständig erscheint.

Wenn man nun diese generative Kategorienreihe, die auf dem Markttausch basiert, extrapoliert, dann ist es möglich, sie auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens auszudehnen und auch diese als nach einem ähnlichen Modell konstitutiert zu betrachten. Und dass genau dies der Fall ist, deutet Marx in einer mit Recht berühmten Passage an:

»Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen.« (MEW 23, 189 f)

 

Kurz, unsere Ideen von ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹, ›Eigentum‹ und ›Bentham‹ (d.h. Individualismus) – die herrschenden ideologischen Prinzipien des bürgerlichen Lexikons und die Schlüsselthemen der Politik, die in unseren Tagen unter den Auspizien von Mrs. Thatcher und dem Neoliberalismus ein machtvolles und unwiderstehliches Comeback auf der ideologischen Bühne erlebt haben – können von den Kategorien abgeleitet werden, die wir in unserem praktischen Alltags-Denken über die Marktwirtschaft verwenden. So entstehen aus der täglichen Welterfahrung die mächtigen Kategorien des bürgerlichen, rechtlichen, politischen, sozialen und philosophischen Denkens.

Dies ist ein kritischer locus classicus der Debatte; Marx extrapolierte daraus einige der Thesen, die dann das umkämpfte Gebiet der Ideologietheorie darstellen sollten. Erstens fixierte er als eine Quelle von ›Ideen‹ einen bestimmten Punkt oder ein bestimmtes Moment des ökonomischen Kreislaufs des Kapitals. Zweitens zeigte er, wie die Übersetzung der ökonomischen in ideologische Kategorien bewirkt werden kann: vom Äquivalententausch auf dem Markt zu den bürgerlichen Begriffen von ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹; von der Tatsache, dass jeder die Tauschmittel besitzen muss, zu den juristischen Kategorien der Eigentumsrechte. Drittens definiert er genauer, was er mit ›Verzerrung‹ meint. Denn dieses ›Abheben‹ von der Stelle des Austauschs im Kapital-Kreislauf ist ein ideologischer Vorgang. Er ›verschleiert, verbirgt, versteckt‹ – die Ausdrücke kommen alle im Text vor – ein anderes Set von Verhältnissen: die Verhältnisse, die nicht an der Oberfläche erscheinen, sondern die »in der verborgnen Stätte der Produktion« (MEW 23, 189) versteckt sind (dort, wo Besitz und Eigentum hausen, wo die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Enteignung von Mehrwert vor sich gehen). Die ideologischen Kategorien ›verbergen‹ diese darrunterliegende Realität und substituieren all diese Verhältnisse durch die ›Wahrheit‹ der Marktverhältnisse.

In vielfacher Hinsicht enthält nun diese Passage all die so genannten Hauptsünden der klassischen marxistischen Ideologietheorie auf einmal: einen ökonomischen Reduktionismus, eine zu einfache Entsprechung zwischen dem Ökonomischen und dem Politisch-Ideologischen; die Unterscheidungen wahr/falsch, Reales/Verzerrung, ›richtiges‹ Bewusstsein/falsches Bewusstsein. Möglich scheint mir jedoch auch eine ›Re-Lektüre‹ der Passage vom Standpunkt vieler zeitgenössischer Kritiken, und zwar in der Weise, dass (a) viele der grundlegenden Einsichten des Originals erhalten bleiben, während sie (b) erweitert werden durch einige der in letzter Zeit entwickelten Ideologietheorien.

Die kapitalistische Produktion wird im Sinne von Marx als Kreislauf definiert. Dieser Kreislauf erklärt nicht nur Produktion und Konsumtion, sondern auch die Reproduktion – die Art und Weise, wie die Bedingungen aufrechterhalten werden, um den Kreislauf in Gang zu halten. Jedes Moment ist lebenswichtig für die Erzeugung und Realisierung des Werts. Jedes legt gewisse determinierende Bedingungen für das andere fest – d.h., jedes ist abhängig vom anderen oder bestimmend für das andere. Wenn also ein Teil des durch Verkauf Realisierten nicht als Lohn an die Arbeit gezahlt wird, kann die Arbeit sich weder physisch noch gesellschaftlich reproduzieren, um am nächsten Tag wieder zu arbeiten und zu kaufen. Damit hängt auch die Produktion von der Konsumtion ab, auch wenn Marx in der Analyse dazu tendiert, den analytisch vorrangigen Wert der Produktionsverhältnisse zu betonen. (Dies hatte selbst wiederum ernsthafte Konsequenzen, weil es bestimmte Marxisten veranlasste, nicht nur der Produktion Priorität einzuräumen, sondern so zu tun, als hätten die Momente der Konsumtion und des Austauschs weder Wert noch Bedeutung für die Theorie – eine fatale, einseitig produktivistische Lesart.)

Ideologisch kann nun dieser Kreislauf auf verschiedene Weise konstruiert werden. Das ist etwas, worauf moderne Ideologietheoretiker insistieren, gegen die vulgäre Ideologie-Konzeption, nach der Ideologie einer festen und unveränderlichen Beziehung entspringt zwischen dem ökonomischen Verhältnis und der Art und Weise, wie dieses sich in Ideen ›ausdrückt‹ oder repräsentiert. Diesen Bruch mit einer einfachen Vorstellung von ökonomischer Determination der Ideologie strebten moderne Theoretiker an durch ihre Anleihen bei neueren Arbeiten über die Natur der Sprache und des Diskurses. Die Sprache ist das Medium par excellence, durch das Dinge im Denken ›repräsentiert‹ werden, und deshalb das Medium, in dem Ideologie erzeugt und transformiert wird. In der Sprache aber kann dasselbe gesellschaftliche Verhältnis unterschiedlich repräsentiert und konstruiert werden, und zwar deshalb, weil die Sprache ihrer Natur nach zu ihrem Referenten nicht in einer eindeutigen Relation fixiert, sondern ›multireferentiell‹ ist: sie kann unterschiedliche Bedeutungen dessen konstruieren, was offenbar dasselbe gesellschaftliche Verhältnis oder Phänomen ist.

Es mag der Fall sein oder auch nicht, dass Marx in der zur Diskussion stehenden Passage eine feste, determinierte und unveränderbare Beziehung zwischen dem Austausch auf dem Markt und seiner Aneignungsweise im Denken unterstellt. Ich denke jedoch nicht, wie man aus dem bisher Gesagten entnehmen kann, dass dem so ist. Nach meiner Auffassung hat ›der Markt‹ in der bürgerlichen politischen Ökonomie und im spontanen Bewusstsein der praktischen Bürger eine, in der marxistischen ökonomischen Analyse aber eine ganz andere Bedeutung. Mein Argument wäre deshalb, dass Marx implizit sagt, es sei ausgesprochen merkwürdig, wenn in einer Welt, in der es Märkte gibt und der Austausch das ökonomische Leben beherrscht, keine Kategorie existieren würde, die uns erlaubt, in Bezug darauf zu denken, zu sprechen und zu handeln. In diesem Sinne drücken alle ökonomischen Kategorien – bürgerliche oder marxistische – bestehende gesellschaftliche Verhältnisse aus. Ich denke aber, aus dem Argument folgt auch, dass die Marktverhältnisse nicht immer durch dieselben Denkkategorien repräsentiert sind.

Es gibt keine feste und unveränderbare Beziehung zwischen dem, was der Markt ist, und der Art und Weise, wie er in einem ideologischen oder erklärenden Rahmen konstruiert wird. Wir könnten sogar sagen, dass eine der Absichten des Kapital gerade die ist, den Diskurs der bürgerlichen Politischen Ökonomie – den Diskurs, in dem der Markt am geläufigsten und im selbstverständlichsten Sinne verstanden wird – zu verschieben und durch einen anderen zu ersetzen: einen Marktdiskurs, der sich in das marxistische Schema einfügt. Deshalb sind die beiden Zugangsweisen zum Verständnis der Ideologie nicht völlig widersprüchlich, sofern die Stelle nicht allzu buchstäblich genommen wird.

Wie steht es nun mit den ›Verzerrungen‹ der bürgerlichen Politischen Ökonomie als einer Ideologie? Eine Lesart ist, dass sie, da Marx die bürgerliche Politische Ökonomie ›verzerrt‹ nennt, ›falsch‹ sein muss. Diejenigen, die ihr Verhältnis zum ökonomischen Leben ausschließlich in deren Denk- und Erfahrungskategorien leben, haben somit per definitionem ein ›falsches Bewusstsein‹. Hier müssen wir wiederum auf der Hut sein vor zu schnellen Schlussfolgerungen. Zum einen macht Marx einen wichtigen Unterschied zwischen ›vulgären‹ Versionen der Politischen Ökonomie und fortgeschrittenen Versionen wie derjenigen von Ricardo, von der er deutlich sagte, dass sie »wissenschaftlichen Wert« habe. Was kann er aber nun in diesem Kontext mit ›falsch‹ und ›verzerrt‹ meinen?

Er kann nicht meinen, dass der Markt nicht existiere. Der ist in der Tat allzu wirklich. In bestimmter Hinsicht ist er gerade das Lebenselixier des Kapitalismus. Ohne ihn hätte der Kapitalismus niemals den Rahmen des Feudalismus gesprengt; und ohne seine unablässige Kontinuität würde die Zirkulation des Kapitals zu einem plötzlichen und katastrophalen Stillstand kommen. Ich denke, diese Worte machen nur Sinn, wenn wir an eine Darstellung des aus einer Wechselbeziehung zahlreicher Momente bestehenden ökonomischen Kreislaufes denken, die vom Standpunkt eines einzigen dieser Momente erfolgt.

Wenn wir in unserer Erklärung nur ein Moment hervorheben und nicht das differenzierte Ganze oder »Ensemble« berücksichtigen, dessen Teil es ist, oder wenn wir, um den ganzen Prozess zu erklären, Denkkategorien verwenden, die nur einem dieser Momente zugehören – dann riskieren wir eine »einseitige« Darstellung, wie es Marx (im Anschluss an Hegel) nennen würde.

Einseitige Erklärungen sind immer eine Verzerrung. Nicht im Sinne einer Lüge über das System, aber in dem Sinne, dass eine ›Halb-Wahrheit‹ nicht die ganze Wahrheit von irgendetwas sein kann. Mit solchen Vorstellungen wird man immer nur einen Teil des Ganzen repräsentieren. Man wird damit eine Erklärung produzieren, die nur teilweise adäquat – und in diesem Sinne ›falsch‹ – ist. Wenn man ferner nur Marktkategorien und -konzepte verwendet, um den kapitalistischen Kreislauf als ganzen zu verstehen, dann kann man viele seiner Aspekte buchstäblich nicht sehen. In diesem Sinne verdunkeln und mystifizieren die Kategorien des Markts unser Verständnis des kapitalistischen Prozesses: das heißt, sie befähigen uns nicht dazu, Fragen über sie zu sehen und zu formulieren, denn sie machen andere Aspekte unsichtbar.

Hat die Arbeiterin, die ihr Verhältnis zum Kreislauf der kapitalistischen Produktion ausschließlich in den Kategorien eines ›gerechten Preises‹ oder eines ›gerechten Lohns‹ lebt, ein ›falsches Bewusstsein‹? Ja, wenn wir damit meinen, dass es in ihrer Lage etwas gibt, das sie mit den von ihr verwendeten Kategorien nicht begreifen kann; etwas von dem Prozess als ganzem, das systematisch verborgen bleibt, weil die verfügbaren Begriffe ihr nur den Zugriff zu einem seiner vielen Momente erlauben. Nein, wenn wir damit meinen, dass sie sich vollkommen darüber täuscht, was im Kapitalismus vor sich geht.

Die Falschheit entsteht daher nicht aus der Tatsache, dass der Markt eine Illusion, ein Trick, eine Taschenspielerei wäre, sondern sie besteht nur im Sinne einer inadäquaten Erklärung eines Prozesses. Dabei wird ferne an die Stelle des ganzen ein Teil des Prozesses gesetzt – ein Verfahren, das in der Linguistik als »Metonymie‹ und in der Anthropologie, Psychoanalyse und (in einer speziellen Bedeutung) in Marx’ Werk als Fetischismus bekannt ist. Die anderen dabei ›verlorengegangenen‹ Momente des Kreislaufs jedoch sind unbewusst, nicht im Freudschen Sinne als vom Bewusstsein verdrängte, sondern in dem Sinne, dass sie unsichtbar sind bei den gegebenen Begriffen und Kategorien, die wir verwenden.

Dies ist auch hilfreich, um die sonst extrem verwirrende Terminologie im Kapital zu erklären, soweit sie das betrifft, was ›an der Oberfläche erscheint‹ (von dem manchmal gesagt wird, es sei ›bloße Erscheinung‹, das heißt nicht wichtig, nicht die wirkliche Sache), und was ›darunter verborgen‹ und in die Struktur eingebettet ist, weil es nicht auf der Oberfläche liegt. Entscheidend ist jedoch, dass – wie das Beispiel Tausch/Produktion deutlich macht – ›Oberfläche‹ und ›Erscheinung‹ nicht falsch oder illusorisch im gewöhnlichen Wortsinn bedeutet. Der Markt ist nicht mehr oder weniger ›wirklich‹ als andere Aspekte, zum Beispiel die Produktion. Die Produktion ist in Marx’ Terminologie nur das, womit wir die Kreislaufanalyse beginnen sollten: »… der Akt, worin der ganze Prozess sich wieder verläuft.« (Grundrisse, 15) Aber die Produktion ist vom Kreislauf nicht unabhängig, denn die gemachten Profite und die auf dem Markt gekaufte Arbeitskraft müssen in die Produktion zurückfließen. ›Wirklich‹ drückt deshalb nur einen gewissen theoretischen Primat aus, den die marxistische Analyse der Produktion einräumt. In jedem anderen Sinn ist der Austausch auf dem Markt ein genauso realer, materieller Vorgang und ein absolut ›wirkliches‹ Erfordernis für das System – wie die anderen Teile auch: alle sind »Momente eines Akts« (Grundrisse, 15).

Auch die Ausdrücke ›Erscheinung‹ und ›Oberfläche‹ selbst stellen ein Problem dar. Erscheinungen können etwas konnotieren, das ›falsch‹ ist, Oberflächenformen scheinen nicht so tief zu gehen wie ›Tiefenstrukturen‹. Diese sprachlichen Konnotationen haben den unglücklichen Effekt, dass sie uns die verschiedenen Momente in der Form mehr/weniger real, mehr/weniger wichtig anordnen lassen. Aber von einem anderen Standpunkt aus ist das, was an der Oberfläche ist, was fortwährend erscheint, gerade dasjenige, was wir immer sehen, dem wir täglich begegnen, was wir ganz selbstverständlich als die offensichtliche und manifeste Form des Prozesses annehmen. Es ist dann nicht überraschend, dass wir spontan das kapitalistische System denken im Sinne der Teilstücke, die uns ständig beschäftigen und die so manifest ihre Präsenz bekunden. Was kann die Abpressung von »Mehrarbeit« als ein Begriff ausrichten gegen so handfeste Tatsachen wie die Lohntüte, die Ersparnisse auf der Bank, die Groschen im Automaten, das Geld in der Ladenkasse? Selbst Nassau Senior, der Ökonom aus dem neunzehnten Jahrhundert, konnte die eine Arbeitsstunde, in der die Arbeiter den Mehrwert produzieren statt ihre eigene Subsistenz zu reproduzieren, nicht wirklich als eine solche Tatsache in den Griff bekommen (vgl. MEW 23, 237ff.).

 

In einer Welt, die vom Geldverkehr durchtränkt und allerorts durch Geld vermittelt ist, ist die Erfahrung des ›Marktes‹ für jeden die unmittelbarste, alltägliche und universelle Erfahrung des ökonomischen Systems. Es ist deshalb nicht überraschend, dass wir den Markt für ganz selbstverständlich nehmen, nicht fragen, was ihn ermöglicht, worauf er gründet oder was er voraussetzt. Es sollte uns nicht verwundern, wenn die Massen der arbeitenden Menschen nicht über die Begriffe verfügen, um an einer anderen Stelle des Prozesses einen Einschnitt zu machen, eine andere Anordnung von Fragen zu entwerfen, und an die Oberfläche zu bringen oder zu enthüllen, was die überwältigende Faktizität des Marktes fortwährend unsichtbar macht. Es ist klar, weshalb wir aus diesen fundamentalen Kategorien, für die wir alltägliche Wörter, Redewendungen und Idiomatische Ausdrücke im praktischen Bewusstsein gefunden haben, das Modell anderer sozialer und politischer Verhältnisse generieren. Schließlich gehören auch sie zum selben System und scheinen ganz nach dessen Muster zu funktionieren. Auf diese Weise sehen wir in der ›Wahlfreiheit‹ auf dem Markt das materielle Symbol der abstrakteren Freiheiten, oder im Eigeninteresse und im Konkurrieren um Marktvorteile die ›Repräsentation‹ von etwas Natürlichem, Normalem und Universalem in der menschlichen Natur selbst.

Ich möchte nun versuchen, einige Schlüsse aus der ›Re-Lektüre‹ der Passage von Marx zu ziehen, die ich vor dem Hintergrund der neueren Kritiken und der vorgebrachten neuen Theorien angeboten habe.

Die Analyse wird nicht mehr durch die Unterscheidung zwischen dem ›Wirklichen‹ und dem ›Falschen‹ organisiert. Die verdunkelnden und mystifizierenden Effekte einer Ideologie werden nicht länger als Produkt einer Täuschung oder einer magischen Illusion betrachtet, noch werden sie einfach einem falschen Bewusstsein zugeschrieben, in das unsere armen, umnachteten, theorielosen Proletarier auf ewig eingekerkert wären. Die Verhältnisse, in denen die Leute leben, sind immer die ›wirklichen Verhältnisse‹, und die Kategorien und Begriffe, die sie verwenden, helfen ihnen, diese gedanklich zu erfassen und zu artikulieren. Aber – und damit bewegen wir uns möglicherweise im Gegensatz zu der Emphase dessen, womit ›Materialismus‹ gewöhnlich assoziiert wird – die ökonomischen Verhältnisse können nicht von sich aus eine bestimmte, festgelegte und unveränderliche Art und Weise vorschreiben, um sie begrifflich zu erfassen. Es kann in unterschiedlichen ideologischen Diskursen ausgedrückt werden. Mehr noch, diese Diskurse können das Denkmodell anwenden und auf andere, im strengen Sinn ideologische Bereiche übertragen. Es kann sich ein Diskurs entwickeln – zum Beispiel der neueste Monetarismus –, der den großen Wert der ›Freiheit‹ ableitet aus der Freiheit vom Zwang, die Frauen und Männer an jedem Werktag wieder auf den Arbeitsmarkt wirft. Auch haben wir die Unterscheidung ›wahr‹ und ›falsch‹ verworfen und durch andere, genauere Ausdrücke wie ›partiell‹, ›adäquat‹ oder ›einseitig‹ und ›in seiner differenzierten Totalität‹ ersetzt. Zu sagen, dass ein theoretischer Diskurs uns ein konkretes Verhältnis adäquat im Denken erfassen lässt, bedeutet, dass der Diskurs uns einen vollständigeren Begriff liefert von den verschiedenen Beziehungen, aus denen dieses Verhältnis sich zusammensetzt, und von den vielfältigen Bestimmungen, die dessen Existenzbedingungen bilden. Das bedeutet, dass unser Zugriff konkret und vollständig ist, statt eine dünne, einseitige Abstraktion zu sein. Einseitige Erklärungen, die partielle, den Teil-fürs-Ganze nehmende Erklärungstypen sind, die uns lediglich erlauben, ein Element (den Markt, z.B.) zu abstrahieren und zu erklären, sind genau auf dieser Grundlage inadäquat; und nur insofern können sie als ›falsch‹ betrachtet werden. Obgleich der Ausdruck streng genommen irreführend ist, wenn wir dabei etwas wie eine einfache Alles-oder-Nichts-Unterscheidung zwischen dem Wahren und dem Falschen oder zwischen Wissenschaft und Ideologie im Kopf haben. Glücklicher- oder unglücklicherweise passen gesellschaftliche Erklärungen selten exakt in solche Schubfächer.

Wir haben bei unserer ›Re-Lektüre‹ auch versucht, einige sekundäre Aussagen aufzunehmen, die aus neueren Theorien über ›Ideologie‹ stammen, im Bemühen zu sehen, ob und inwiefern sie mit den Marxschen Formulierungen inkompatibel sind. Wie wir gesehen haben, bezieht sich die Erklärung auf Begriffe, Ideen, Terminologien, Kategorien, vielleicht auch auf Bilder und Symbole (Geld; Lohntüte; Freiheit), die uns erlauben, einen bestimmten Aspekt des gesellschaftlichen Prozesses im Denken zu erfassen. Sie versetzen uns in die Lage, uns und anderen vorzustellen, wie das System arbeitet, warum es so funktioniert, wie es funktioniert.

Derselbe Prozess – Produktion und Austausch im Kapitalismus – kann innerhalb unterschiedlicher ideologischer Rahmen mit Hilfe verschiedener ›Repräsentationssysteme‹ ausgedrückt werden. Es gibt den Diskurs über ›den Markt‹, den Diskurs der ›Produktion‹, den Diskurs der ›Kreisläufe‹: jeder produziert eine unterschiedliche Definition des Systems. Jeder verortet uns auch unterschiedlich – als Arbeiter, Kapitalist, Lohnarbeiter, Lohnsklave, Produzent, Konsument usw. Jeder platziert uns als gesellschaftliche Akteure oder als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe in einem besonderen Verhältnis zu dem Prozess und schreibt uns bestimmte gesellschaftliche Identitäten vor. Mit anderen Worten: die verwendeten ideologischen Kategorien positionieren uns in Bezug auf die Darstellung des Prozesses, wie sie im Diskurs geschildert wird. Der Arbeiter/die Arbeiterin, der/die sich als ›Konsument‹ auf seine/ihre Existenzbedingungen im kapitalistischen Prozess bezieht – sozusagen durch dieses Tor in das System eintritt –, hat am Prozess durch eine Praxis teil, die sich von der Praxis derer unterscheidet, die als ›Facharbeiter‹ ins System eingeschrieben sind – oder als ›Hausfrau‹ überhaupt nicht darin eingeschrieben sind. Alle diese Einschreibungen haben Effekte, die real sind. Sie produzieren eine materielle Differenz, da unsere Handlungsweise in bestimmten Situationen davon abhängt, wie wir die Situation definieren.