Die Kunst, mit sich allein zu sein

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Drei Monate nachdem ich Mönch geworden war, brach ich ins Vorgebirge des Himalaya hinter Dharamsala auf. Ich war 21 Jahre alt. Mein Rucksack enthielt einen Schlafsack, eine Bodenplane, ein Handtuch, einen Wasserkocher, eine Schale, einen Becher, zwei Bücher, einige Äpfel, Trockennahrung und einen Fünf-Liter-Kanister mit Wasser. Der Monsun war gerade zu Ende gegangen: Der Himmel war kristallklar, die Luft rein, das Laubwerk üppig. Nach drei oder vier Stunden verließ ich den ausgetretenen Fußweg und stieg auf Wildpfaden einen steilen, spärlich bewaldeten Hang hinauf, bis ich den durch Felsbrocken verborgenen und von Zweigen überdachten grasbewachsenen Felsvorsprung erreichte, den ich bei einem früheren Streifzug ausfindig gemacht hatte.

Inspiriert von Erzählungen über indische und tibetische Einsiedler wollte ich herausfinden, wie es ist, von jeglichem menschlichen Kontakt abgeschnitten zu sein, allein und schutzlos. Ich wollte so lange hierbleiben, wie meine spärlichen Nahrungs- und Wasservorräte dies zuließen. Niemand wusste, wo ich war. Wenn ich stürzen und mir ein Bein brechen, von einer Kobra gebissen oder von einem Bären zerfleischt würde, wäre es unwahrscheinlich, dass man mich fände. Hoch in diesem Horst konnte ich noch die fernen Hornstöße und die knirschenden Getriebe von Bussen und Lastwagen weiter unten hören, was ich als einen Affront empfand.

Ich wachte in meinem taubedeckten Schlafsack auf. Nach dem Pinkeln und Meditieren zündete ich ein Feuer an, kochte Wasser, bereitete Tee zu, mischte ihn dann mit geröstetem Gerstenmehl und Milchpulver, um daraus einen Teigklumpen zu formen. Das war Frühstück und Mittagessen – gemäß der Ordensregel aß ich abends nicht.

Zu meinen Meditationen gehörten die Sādhanās, in die ich eingeweiht worden war, wobei ich mich entweder als zornvollen, büffelköpfigen, phallischen Yamāntaka visualisierte oder als nackte, menstruierende, rote Göttin Vajrayoginī. Ich führte diese tantrischen Praktiken im Wechsel mit einer Stunde achtsamen »Fegens« durch meinen Körper von Kopf bis Fuß durch und nahm dabei mit großer Sorgfalt all die flüchtigen Empfindungen und Gefühle wahr, die ihn durchströmten. Wenn ich nicht aß oder meditierte, intonierte ich eine Übersetzung von Śāntidevas Kompendium des Übens, einer Sanskrit-Anthologie über Lehrreden des Mahāyāna-Buddhismus aus dem achten Jahrhundert, die ich in ihrer Gesamtheit zu rezitieren gelobt hatte, während ich hier oben war.

»Es gab nie zuvor einen Buddha«, erklärte der Text in seinem viktorianischen Englisch, »noch wird es ihn in der Zukunft geben, noch gibt es ihn jetzt, der jene höchste Weisheit erlangen könnte, während er im Leben eines Haushälters verbliebe. Dem Königtum entsagend, als wäre es Nasenschleim, sollte man im Wald leben, nur der Einsamkeit zugewandt … Wie die Kräuter und Sträucher, die Pflanzen und Bäume sich weder fürchten noch bange sind oder ängstlich zittern, so muss der Bodhisattva, der im Wald weilt, seinen Körper als den Kräutern und Sträuchern, Pflanzen und Bäumen gleich betrachten, wie Gehölz, wie Gips an einer Wand, wie eine Erscheinung …«

Das Kompendium des Übens enthält Anleitungen zur eigenständigen Umsetzung. Sobald der Mönch sich im Wald niedergelassen hat, soll er »das, was er zuvor gelesen hat, dreimal in der Nacht und dreimal am Tag rezitieren, und zwar in einer Tonlage, die nicht zu hoch und nicht zu tief ist, nicht mit unruhigen Sinnen, nicht mit umherwandernden Gedanken, in aller Ruhe, die Trägheit beseitigend«. Ungehemmt lasse ich diese Worte in die Stille der Schluchten und den Wind erschallen.

Ich habe immer noch mein Exemplar dieses verblasst braunen gebundenen Buches. Aufgrund des verwischten lilafarbenen Stempels des Piccadilly-Buchverkaufsstands vermute ich, es Anfang der 70er Jahre in Dehli gekauft zu haben. Es liegt nun aufgeschlagen vor mir. Der muffige, pfeffrige Geruch, den ich mit indischen Büchern aus jener Zeit verbinde, steigt mir in die Nase. Ich bin wieder in den Wald zurückgekehrt, zu meinem in eine rote Robe gekleideten jüngeren Selbst, das mit verschränkten Beinen auf dem Boden sitzt und ernsthaft Śāntidevas Worte an einem Ort rezitiert, der »von Bäumen beschattet wird, mit Blumen, Früchten und Blättern, ohne Gefährdung durch tollwütige Hunde, wo es Höhlen und Berghänge gibt, leicht zu durchqueren, friedlich, unvergleichlich«.

Was von dieser Abgeschiedenheit bleibt, ist meine Erinnerung an das weitläufige Panorama der Ebenen des Punjab, den unermesslichen Himmelsbogen und die Umarmung der Berge, die dieses zerbrechliche Fleckchen der Selbsterfahrung beherbergten. Einmal stürzte sich ein wunderschöner bunter Vogel von den darunterliegenden Klippen, schwebte für einen Moment durch die Luft und verschwand dann aus meinem Blickfeld. Ein Hirte und seine Ziegen hätten mich eines Nachmittags beinahe entdeckt. Ich schaute verstohlen durch das Blattwerk zu ihnen hinüber, während die Tiere grasten und der drahtige sonnengeschwärzte Mann in eine grobe Wolltunika gehüllt auf einem Felsen lag.

Nachdem die Vorräte erschöpft waren und der Text rezitiert, wanderte ich zurück zu meinem Zimmer unten im Dorf McLeod-ganj. Während meiner fünf Tage auf dem Berg war ich auf den Geschmack des Mit-mir-Alleinseins gekommen, der mich seit dieser Zeit begleitet.

4

TEPOZTLÁN, MEXIKO, NOVEMBER 2013

Nacho, sein Sohn Nacho und ich steigen in einen Mitsubishi Pajero, verlassen das Gelände der Villa und fahren hinauf in die bewaldeten Hügel, die die alte Indianerstadt Tepoztlán umgeben. Ich habe den ganzen Tag lang kaum etwas gegessen und mir ist etwas schwindelig. Unterwegs holen wir den Mara’akame, Don Toño, und dessen Auszubildende ab: Andrés, José-Luis und Raúl. Wir halten an einem Bauernhaus im Dorf San Juan, um ein Metate mitzunehmen, eine rechteckige Platte aus einem Material, das wie dunkler Bimsstein aussieht. Die angeregte Unterhaltung legt nahe, dass es sich dabei um ein Objekt von einiger Bedeutung handelt, aber ich kann mir nicht vorstellen, welche.

Als wir in einen steilen unbefestigten Weg im Wald abbiegen, ist es Nacht. Der Geländewagen rutscht und heult auf, als seine Räder in Schlamm und Blättern durchdrehen. Wir klettern schnell raus und versuchen, das Auto den Hügel hinaufzuschieben, aber es gelingt uns nicht. Deshalb entladen wir Decken, Ponchos, prall gefüllte Einkaufstaschen und den Metate, teilen alles unter uns auf und schleppen uns vorwärts, geleitet vom schwankenden Lichtkegel einer Taschenlampe. In der feuchtkalten Luft können wir unseren Atem sehen.

Wir kommen zu einer Lichtung, auf der ein einfaches, grob zusammengezimmertes Etwas steht. Ein Kreis von Holzpfeilern trägt ein Spitzdach aus Wellblech. Abgesehen von einer niedrigen umsäumenden Mauer ist der Raum ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt. In der Mitte des gestampften Lehmbodens befindet sich eine mit Asche und Holzkohlestücken gefüllte Grube. Wir stellen alles ab, was wir hochgetragen haben, und gehen dann nach draußen, um Feuerholz für die Zeremonie zu sammeln.

Niemand scheint in Eile zu sein. Die anderen plaudern, scherzen und rauchen Zigaretten. Es dauert etwa eine Stunde, bis wir genügend Äste und Baumstämme in den runden Raum gezogen und getragen haben, um damit das Feuer anzufachen. Der Mara’akame breitet eine Decke aus, setzt sich hin und beginnt, die Einkaufstaschen auszupacken. Gefiederte Utensilien kommen zum Vorschein, dann ein Hut mit Quasten, Handtrommeln, Schachteln mit billigen Kerzen, Tassen und schließlich ein sorgfältig in ein weißes Tuch gewickeltes Päckchen.

Aus dem Inhalt einer weiteren Tasche hat Andrés einen provisorischen Altar gebaut. Vor einem billigen Druck der Madonna von Guadeloupe arrangiert er Kerzen und Orangen. Er bittet jeden von uns, die Texte, die wir vorbereiten sollten, auf den Altar zu legen. An jenem Morgen hatte ich das dritte Gedicht der Vier Achter von Hand abgeschrieben. »Der Priester ohne Begrenzungen« lautet seine letzte Strophe,

beharrt nicht auf dem, was er weiß oder betrachtet hat.

Nicht leidenschaftlich, nicht leidenschaftslos,

ernennt er nichts zum Höchsten.

VIER ACHTER, 3:8

Ich hoffe, dieser Geisteshaltung weiterhin treu zu bleiben. Mit so viel Ehrfurcht, wie ich aufbringen kann, lege ich das gefaltete Blatt Papier vor die Madonna.

Don Toño bedeutet uns, zu ihm rüberzukommen. Er ist ein kleiner, stämmiger, dunkelhäutiger Mann wie viele der Bauern, die ich anderswo in Mexiko gesehen habe. Unter dem gelblichen Licht einer Paraffinlampe knotet er das in Stoff eingewickelte Päckchen auf und ein halbes Dutzend frischer Peyote-Kakteen, die er und Andrés am Vortag in der Wüste gesammelt haben, kommen zum Vorschein. Jede pralle mattgrüne Lophophora williamsii hat einen Durchmesser von ungefähr zehn Zentimetern und besteht aus sechs symmetrischen Segmenten. Der Mara’akamane schneidet sie auf und reicht die Stücke herum. Er zeigt mir, dem Neuling, wie man die ins Kaktusfleisch eingebetteten Fasern herauslöst. Nach diesem fummeligen Arbeitsgang wird jedes Stück mit einem zylindrischen Stein auf dem Metate zerrieben, an dessen Ende der Saft über einen trichterförmigen Rand in eine Schale abläuft.

Der Saft wird mit Wasser verdünnt und dann ganz unzeremoniell in einen Plastikbecher gegossen. Jeder von uns nimmt sich einen. Dem Beispiel der anderen folgend, trinke ich die Flüssigkeit in kleinen Schlucken, bis der Becher leer ist, dann fische ich mit meinen Fingern die verbliebenen Fruchtfleischfäden heraus. Alles hat einen leicht bitteren, aber nicht unangenehmen Geschmack. Ich spüre, wie sich die kalte Flüssigkeit in meinem leeren Magen sammelt.

Der Mara’akame fragt mich nach meinen Gründen für die Teilnahme an diesem Kreis. Ich sage ihm, dass ich in diesem Jahr sechzig Jahre alt geworden bin und eine Bilanz meines Lebens ziehen möchte, einen Schritt zurücktreten und betrachten, was ich in den letzten vierzig Jahren als Schüler, Praktizierender und Lehrer des Buddhismus erreicht habe. Um dies zu bewerkstelligen, habe ich mich entschlossen, meine Erfahrungen unter dem Einfluss von Psychedelika nochmals zu durchdenken. Als junger Mann hatten sie einen so prägenden Einfluss auf mich, dass ich mich dem Dharma zugewandt habe. Es ist für mich von Bedeutung, diese Substanzen im Rahmen einer religiösen Zeremonie sowie unter Anleitung eines Schamanen und in Begleitung anderer einzunehmen, und nicht einfach nur allein oder mit Freunden eine Pille einzuwerfen.

 

Wir versammeln uns in einem Kreis um das Feuer herum. Das wilde, knisternde Flammenspiel erzeugt noch nicht viel Wärme. Ich sitze da mit verschränkten Beinen, eingehüllt in einen roten Poncho aus dicht gewebter grober Wolle. Etwas entfernt von mir legt sich der Mara’akame auf den Boden, zieht eine blaue Heizdecke über sich und schläft ein. Nacho, der Jüngere, beginnt, einen einfachen Rhythmus auf einer Trommel zu schlagen.

Während der ersten ein oder zwei Stunden – ich habe keine Uhr und nur ein schwaches Zeitgefühl – bin ich davon überzeugt, dass nichts passiert. Ich verspüre eine leichte Magenverstimmung, die gelegentliches Aufstoßen von nach Kaktuspüree schmeckender Luft verursacht. Gewiss, ich erlebe eine gewisse Stille und Klarheit, aber nicht mehr, als wenn ich die gleiche Zeit in Meditation verbracht hätte, was genau das ist, was ich bisher getan habe. Wenn ich mich so umsehe, scheint sich von den anderen niemand Sorgen zu machen. Sie unterhalten sich leise, laufen ein bisschen umher, um ihre Beine zu strecken, klopfen eine Weile auf eine Trommel. Ich schreibe meine Besorgnis meiner Unerfahrenheit mit dieser mir neuen Medizin zu.

5

Über die Einsamkeit

Michel de Montaigne

Ausgewählte Passagen aus den Essais

Es war eine melancholische Gemütsverfassung und damit eine Gemütsverfassung, die deutlich im Widerspruch zu meiner Natur stand, hervorgerufen durch den Verdruss der Einsamkeit, der ich mich vor einigen Jahren übergeben hatte, die mir zum ersten Mal diesen Tagtraum in den Kopf setzte, mich mit dem Schreiben zu beschäftigen. ||

Inzwischen glaube ich, dass das einzige Ziel der Einsamkeit darin besteht, mit mehr Muße und Behagen allein zu leben. ||

Ich bin nicht von Natur aus dem hektischen Treiben bei Hofe abgeneigt: Ich habe einen Teil meines Lebens darin verbracht und bin es gewohnt, in solchen Menschenmassen frohgemut meinen Geschäften nachzugehen – allerdings nur gelegentlich und wenn es mir beliebt. Meine Pedanterie bindet mich indes zwangsläufig an die Einsamkeit. Zuhause, in einem geschäftigen Haushalt mit vielen Besuchern, sehe ich viele Menschen, aber selten diejenigen, mit denen ich gerne rede. ||

Indem wir uns vom Amtsgebäude und Marktplatz befreien, befreien wir uns nicht von den wesentlichen Kümmernissen unseres Lebens. Ehrgeiz, Habgier, Unentschlossenheit, Ängste und Sehnsüchte werden uns wohl kaum verlassen, nur weil wir die Adresse wechseln. Sie verfolgen uns von sich aus in Klöster und philosophische Fakultäten. Weder Wüsten noch Höhlen, noch Büßerhemden, noch Selbstkasteiung können uns von ihnen befreien. ||

Aus diesem Grund genügt es nicht, sich von den Menschen zu entfernen, genügt es nicht, woanders hinzugehen. Wir müssen uns von den Gewohnheiten des gemeinen Volkes in unserem Inneren lösen. Wir müssen unser eigenes Selbst isolieren und es wieder in unseren Besitz überführen. Wir tragen unsere Fesseln immer mit uns herum; wir sind nicht vollständig frei. Wir richten unseren Blick immer wieder zurück auf die Dinge, die wir hinter uns gelassen haben; wir fantasieren andauernd über sie. ||

Unser Leiden ergreift uns in der Seele, und die Seele kann nicht sich selbst entfliehen. Also müssen wir sie zurückholen und zu sich selbst zurückführen. Das ist wahre Einsamkeit: Man kann sie in Städten und Königshäusern genießen, jedoch günstigerweise abseits davon. ||

Die Einsamkeit, die ich liebe und verfechte, besteht in erster Linie darin, meine Emotionen und Gedanken zu mir selbst zurückzuholen, nicht meine Schritte, sondern meine Sehnsüchte und Ängste zu begrenzen und zu bezähmen, mich zu weigern, mich um äußere Dinge zu sorgen, und unbedingt vor Knechtschaft und Verpflichtungen zu fliehen: Es geht weniger darum, sich aus der Menschenmenge, sondern vielmehr aus der großen Menge menschlicher Angelegenheiten zurückzuziehen. ||

Der Philosoph Antisthenes scherzte, ein Mann solle sich mit Besitztümern ausstatten, die schwimmfähig sind, so dass sie gemeinsam mit ihm dem sinkenden Schiff entkommen können. ||

Selbstverständlich sollten wir Frauen, Kinder, Besitztümer und allem voran gute Gesundheit haben: aber nicht, um so sehr an ihnen anzuhaften, dass unser Glück von ihnen abhängt. ||

Lasst diese Dinge uns gehören, aber nicht so fest verklebt und mit uns verbunden, dass wir uns nicht mehr von ihnen lösen können, ohne uns dabei unsere eigene Haut vom Leib zu reißen. Das Höchste auf der Welt ist es zu wissen, wie man für sich selbst sein kann. ||

Wir sollten uns hinter dem Geschäft einen Raum reservieren, nur für uns, gänzlich abgeschieden, wo wir, da er der wichtigste Rückzugsort für unsere Einsamkeit ist, unsere wahre Freiheit verwirklichen. Dort sollten wir unser übliches Gespräch mit uns selbst fortsetzen – in Privatheit, ohne Kontakt oder Kommunikation mit irgendetwas außerhalb davon –, wo wir mit uns plaudern und lachen können, als hätten wir keine Frau, keine Kinder, keine Besitztümer, keine Begleiter und keine Diener. Wenn es dann an der Zeit ist, diese Dinge zu verlieren, so wird es für uns nichts Neues sein, ohne sie zu sein. ||

Wir haben eine Seele, die sich sich selbst zuwenden kann; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten. Sie vermag anzugreifen und zu verteidigen, zu geben und zu empfangen. Mach dir keine Sorgen, dass Einsamkeit dich vor Langeweile verzehrt. ||

Wir müssen es wie jene Tiere anstellen, die ihre Spuren am Eingang ihres Unterschlupfs verwischen. Es sollte nicht mehr länger deine Sorge sein, dass die Welt von dir spricht; dein einziges Anliegen sollte sein, wie du zu dir selbst sprichst. ||

Zieh dich in dich zurück, aber bereite dich allem voran darauf vor, dich dort zu empfangen. Wenn du es nicht verstehst, dich selbst zu geleiten, wäre es doch Wahnsinn, dich dir selbst anzu vertrauen. Es gibt Wege des Scheiterns in der Einsamkeit wie in der Gesellschaft. ||

Wenn ich tanze, tanze ich; wenn ich schlafe, schlafe ich. Wenn ich allein in einem schönen Obstgarten spazieren gehe, sind meine Gedanken zuweilen mit dem beschäftigt, was anderswo passiert, dann wiederum bringe ich sie zurück zum Spaziergang, zum Obstgarten, zur Süße jener Einsamkeit und zu mir selbst. ||

Ehrlich gesagt erweitert begrenzte Einsamkeit meinen Horizont und öffnet mich nach außen: Ich stürze mich bereitwilliger in Staatsangelegenheiten und in die weite Welt, wenn ich allein bin.

6

Ohne bemerkt zu haben, wie und seit wann, befinde ich mich in einem veränderten Geisteszustand. Mein Bewusstsein ist auf subtile, aber intensive Weise geschärft. Ekstatisch spüre ich, wie elektrische Wellen meinen Körper durchströmen, mich dazu bringen, mich zu dehnen und zu stöhnen. Meine Wirbelsäule richtet sich auf, als wollte sie die Kontemplation, die mich ergriffen hat, vervollkommnen. Ich muss mich nicht mehr konzentrieren; das geschieht ganz von allein. Ablenkung ist keine Option; alle zufälligen Gedanken haben aufgehört. Während ich in das atmende, orangefarbene Herz des Feuers starre, bin ich auf intensive, stille Art geistig präsent.

Andrés rüttelt den Mara’akame sanft wach. Don Toño richtet sich auf, setzt den breitkrempigen Hut auf, dessen Quasten vor seinen Augen hin- und herschwingen, hebt eine Handtrommel auf und stimmt einen eindringlichen Gesang im Rhythmus seines Grundschlags an. Was auch immer er in seiner nasalen Stimme singen mag, es hat eine hypnotisierende Schönheit und Intensität. Etwas Uraltes und Melancholisches schwingt in seinen Worten in der Huichol-Sprache mit. Andrés zündet eine Zigarette an und steckt sie Don Toños zwischen die Lippen. Der Mara’akame nimmt einige tiefe Züge und trommelt weiter. Dann legt er sich hin und schläft wieder. Dieses Ritual wird sich im Laufe der Nacht mehrmals wiederholen.

Nacho, der Jüngere, flüstert mir ins Ohr: »Wie ist der Name deines Großvaters?« Ich sage: »Alfred.« Er sagt: »Das Feuer ist dein Großvater. Die Madonna ist deine Großmutter.« Ich spüre, dass dies ein Hinweis für mich sein soll, etwas zu tun. Ich weiß aber nicht, was er meint, und verspüre kein Bedürfnis nachzufragen. Eingetaucht in mein Alleinsein, fühle ich mich in seliger Losgelöstheit von allen anderen, bin mir gleichzeitig aber ihrer Anwesenheit – und wie diese mich unterstützt – überaus bewusst.

Raúl, ein junger Arbeiter mit dichten schwarzen Bartstoppeln, springt auf. Er nimmt alle Kräfte zusammen, spuckt mehrmals ins Feuer, starrt unverwandt in die Flammen und legt ein leidenschaftliches Bekenntnis ab. Er schlingt die Arme um seinen Körper, wiegt sich unruhig hin und her, jammert und weint, während ein Redeschwall aus ihm heraussprudelt. Irgendwann sieht es so aus, als versuchte er, sich in die Flammen hinein zu erbrechen, aber ohne Erfolg. Andrés kommt herüber und streicht mit an einem kurzen Stock befestigten Federn von Kopf bis Fuß über Raúls Körper; schüttelt sie dann über dem Feuer aus, als würde er Wassertropfen von ihnen abtropfen lassen.

Diese unerwartete Gefühlsbekundung lässt mich ungerührt, aber ich bin auch nicht getrennt von ihr. Ich fühle mich innerlich völlig transparent und rein, aber dennoch ganz eins mit Raúls Beichte. »Geh und sprich mit deinem Großvater«, drängt Nacho, der Jüngere. Ich ignoriere ihn.

Auf der Glut am Rande des Feuers wird ein Becher sichtbar, an dem das Email stellenweise abgeplatzt ist. Wir nehmen ihn abwechselnd, um in kleinen Schlucken ein heißes, braunes Getränk zu schlürfen, das den Magen wärmt und beruhigt. Der Geschmack ist irgendwie vertraut, aber auch seltsam. Ich erfahre, dass es sich um Schokolade handelt, die mit getrocknetem Peyote vermischt ist. Ob diese zusätzliche Dosis irgendeine Wirkung hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Solche Fragestellungen sind nicht mehr von Interesse. Alles, was zählt, ist die reine Intensität des Augenblicks, die scharfe Klarheit der Sinne, die ekstatische Stille.

Es wird getrommelt, nun besser koordiniert, begleitet von Tanz. Andrés zieht sein Hemd aus, krümmt und verdreht sich neben dem Feuer. Die schweißnasse Haut seines mageren Oberkörpers glänzt in den Flammen. Er setzt sich neben mich. In einer Mischung aus Englisch und Französisch frage ich ihn: »Wenn Peyote die Medizin ist, was ist dann die Krankheit, die sie heilt?« Er sagt: »Ein verschlossenes Herz.«

Als wir später am Morgen wieder in Tepoztlán sind, hat die Nacht um das Feuer herum eine traumartige Qualität angenommen. Eine gesteigerte Klarheit und Stille des Geistes bleiben mir erhalten. Die Welt erscheint weiterhin leuchtend und hell. Ich fühle mich, als wären meine Sinne, mein Nervensystem und meine Gehirnzellen sauber gewaschen worden. Es wird einige Wochen dauern, bis die Wirkung der Medizin nachlässt.

Hat allein das Meskalin im Peyote das hervorgebracht? Hätte ich die gleiche Erfahrung gemacht, wenn ich, allein, in meinem Wohnzimmer exakt die gleiche Dosis genommen und dabei Bach gehört hätte ? Haben die vergangenen vierzig Jahre der Dharma-Praxis einen Unterschied bewirkt? Ich vermute, dass das Zerreiben der Kakteen, Großvater Feuer, die Gesänge, die Beichten, der Madonna ein Gedicht darbringen, mit verschränkten Beinen in Meditation sitzen, mein Stillsein, das Fasten am Vortag, meine Beweggründe, an der Zeremonie teilzunehmen, allesamt eine Rolle gespielt haben.

Ich verstehe langsam, dass die Zeremonie eine existenzielle Bekräftigung dessen war, was ich bisher in meinem Leben getan hatte und derzeit tat. Für ein paar Stunden, um es mit den Worten von Carlos Castaneda auszudrücken, hatte sie »die Welt angehalten« und mir ermöglicht, »zu sehen«. In der Terminologie des Buddhismus, ließ sie mich »die Beendigung der Reaktivität« »schauen« und im »Todlosen« weilen. Ohne irgendeine Notwendigkeit, in Konzepte oder Worte gefasst zu werden, bekräftigte sie, dass das Leben, das ich als Schriftsteller, Künstler und Lehrer gewählt hatte, angemessen war. Ich erkannte, dass ich diese Welt ohne Bedauern verließe, würde ich jetzt sterben.

 

Achtzehn Monate später erhalte ich eine E-Mail von Nacho, dem Älteren. »Während einer Meditationssitzung vor zwei Tagen«, beginnt sie, »wurde mir zum ersten Mal klar, wie schön Stille ist. Und ich muss sagen, dass ich in dieser Sache viel von dir gelernt habe, insbesondere als wir in Tepoztlán waren und du anfingst zu schweigen, immer intensiver, es war schon nahezu unangenehm, bis wir fast alle in Stille verweilten und ich verstand.« Die ganze Zeit über hatte ich Andrés’ Bemerkung über »ein verschlossenes Herz« als milden Tadel empfunden, da ich es unterlassen hatte, aktiver an der Zeremonie teilzunehmen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.

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