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3.1 Der Poststrukturalismus: Roland Barthes und das Ende der res gestae

Als programmatisch erweist sich in diesem Zusammenhang Roland Barthes Aufsatz Historie und ihr Diskurs, der im Original 1967 und ein Jahr später in seiner deutschen Übersetzung erscheint.1 Barthes ist einer der ersten Vertreter des französischen Poststrukturalismus, der sich mit dem historischen Erzählen (das bei Barthes die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts meint) im Unterschied zu einem literarischen auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang wirft Barthes die Frage auf, ob das historische Erzählen sich tatsächlich »durch irgendeinen spezifischen Zug, durch eine zweifelsfreie Relevanz von der imaginären Erzählung, wie man sie in der Epopöe, dem Roman, dem Drama findet«, unterscheide.2

In einem ersten Schritt differenziert Barthes zwischen dem Akt des Aussagens (énonciation) und der Aussage (énoncé), schließt also an die bereits bekannte Problematisierung des Kollektivsingulars Geschichte an, der sowohl die historischen Fakten (res gestae) als auch das Erzählen davon (historia rerum gestarum) meint. Um die Subjektivität jedes Aussageaktes nachzuzeichnen, untersucht Barthes die »Umschaltelemente« (shifters), die den Übergang zwischen énoncé und énonciation markieren, etwa die (subjektive) Auswahl der Quellen, auf die sich der Akt des Aussagens stützt, vor allem aber die Konfrontation der unterschiedlichen Zeitebenen, die sprachlich ausgedrückt werden: die (präsentische) Zeit des Aussagens und die (vergangene) Zeit des ausgesagten Stoffes. Als Beispiel für jene Diskurselemente, die das Verhältnis dieser Zeiten steuern, führt Barthes die Geschichtsraffung, den Zickzackkurs oder Sägezahnstil (Unterbrechung der Handlungschronologie) sowie die Einleitung des historischen Diskurses an, in der »der Anfang des ausgesagten Stoffes mit dem Beginn des Aussagens zusammenfällt.«3 Relevant sind mit Barthes diese Verschränkungen von erzählter Zeit und der Zeit des Diskurses (mit Barthes auch Papierzeit) nicht, weil sie subjektive Selektionsverfahren des Historikers, sondern ein Erzählverfahren sichtbar machen, das jedes historische Geschehen entchronologisiert und einer »komplexen, parametrischen« Zeit eingliedert. Diese verlaufe nicht mehr linear und werde allein vom Historiker, der über beide Zeitebenen verfügt, überschaut. Ein solches Erzählen ist mit Barthes ein genuin mythisches: Mythos und historischer Diskurs vereinen sich im Bestreben, »das chronologische Abspulen der Ereignisse durch Bezüge auf die seinem Wort zugehörige Zeit zu doppeln.«4

Bezugnehmend auf das Kommunikationsmodell Jakobsons widmet Barthes sich im Anschluss den im Diskurs vorhandenen Zeichen des Aussagenden/Absenders, jenen Signalen also, die den Historiker als Subjekt des Aussageaktes sichtbar machen. Mit Blick auf die um einen gesteigerten Realismus und Objektivität bemühte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts stellt Barthes fest, dass ein »objektiver« historischer Diskurs niemals existieren könne, sondern dass ein Mangel an Zeichen, die auf den Aussagenden verweisen, im Gegenteil als Referenzillusion (illusion référentielle) zu verstehen sei – als Versuch des Historikers also, sich selbst als die den Diskurs ordnende Distanz verschwinden und allein das Bezugsobjekt (référent) sprechen zu lassen. Dieser Versuch ist mit Barthes, beim Historiker wie beim Romancier, zum Scheitern verurteilt, denn: »Wir wissen, daß der Mangel an Zeichen ebenfalls bezeichnend ist.«5

Nach der Analyse des Aussageaktes geht Barthes zur Auseinandersetzung mit der historischen Aussage (énoncé), dem im Aussageprozess Bezeichneten, über. Diese setzt sich aus inhaltlichen Einheiten zusammen, die als Kollektionen zusammengesetzt und durch den Historiker strukturiert werden. Hier liegt die für das Selbstverständnis der Geschichtsschreibung brisante Einsicht Barthes verborgen: Denn dem Aussageakt analog verweist auch das Bezeichnete keineswegs auf eine objektiv erfahrene Wirklichkeit, sondern bleibt von seiner sprachlichen Konstitution determiniert: »Die Benennung stärkt die Struktur des Diskurses, weil sie diesem eine starke Artikulation gestattet.«6 Und erst die Benennung lässt das historische Faktum entstehen, jenseits des Wortes kann eine historische Wirklichkeit nicht existieren: »Das historische Faktum ist, linguistisch gesehen, an ein Privileg des Seins gebunden: Man erzählt, was gewesen ist; nicht, was nicht oder was zweifelhaft gewesen ist.«7

Weil die Fakten der Geschichte immer schon auf ein Auswahlverfahren, nämlich »das der Erinnerung Würdige, d.h. das [sic!] Bemerkens und Notierens Würdige« rekurrieren, vergegenwärtigt der historische Diskurs mit Barthes den einzigen, »bei der das Bezugsobjekt als etwas außerhalb des Diskurses Liegendes aufgefaßt wird, ohne daß es indessen je möglich wäre, es außerhalb des Diskurses in den Griff zu bekommen.«8

Diese von Barthes beschriebene Genese des historischen Faktums erweist ihre Modernität gerade im Vergleich mit unmittelbaren Vorgängerstudien wie der 1961 veröffentlichten und lange Zeit als Standardeinführung in das Studium der Geschichte (zumindest im angloamerikanischen Kontext) geltende Untersuchung Was ist Geschichte des britischen Historikers Edward Hallet Carr. In seinem ersten Kapitel (»Der Historiker und seine Fakten«) wendet sich Carr, hier noch in Übereinstimmung mit Barthes, vehement gegen die Auffassung, es gebe »gewisse grundlegende und für sämtliche Historiker verbindliche Fakten, die sozusagen das Rückgrat der Geschichte ausmachten«.9 Im Gegensatz zur Barthes’ sprachkritischer Problematisierung der Fakten im Kontext einer modernen Semiotik konzentriert Carr sich allerdings ganz auf die Figur des Historikers und seine subjektiven Selektionsverfahren, die über Form und Aussehen der Geschichte entscheiden:

Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge oder in welchem Zusammenhang.10

Das historische Faktum – im Gegensatz zum Faktum an sich, an dem Carr im Unterschied zu Barthes festhält – unterliegt mit Carr immer schon einer a-priori-Entscheidung des Historikers. Damit ist die Geschichte als historia rerum gestarum der Interpretation des Historiografen ausgeliefert, ebenso wie die Entscheidung, welche Fakten der Vergangenheit zu historischen Fakten im Zuge ihrer wissenschaftlichen Historisierung werden. So stellt mit Carr etwa die Schlacht von Hastings 1066 nur deshalb ein historisches Faktum dar, weil »dieser Umstand von den Historikern als ein bedeutendes historisches Ereignis angesehen wird.«11 Obwohl Carrs Relativismus hinter der kurze Zeit später aufkommenden poststrukturalistischen, später dann postmodernen Problematisierung jeglicher Wirklichkeit zurückbleibt, ist es doch bemerkenswert, wie entschieden dem zuverlässigen Zugriff auf historische Fakten durch den Historiografen eine Absage erteilt und damit die historische Referenzialität in Frage gestellt wird – wenngleich ausschließlich bezogen im Hinblick auf subjektive Entscheidungen des Historikers:

Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß.12

Carrs Plädoyer für einen soziologischen Zugang zur Geschichte, der zunächst die Figur des Historikers erforschen müsse und im Anschluss daran die von ihm ›konstruierten‹ Fakten, ist im Zuge einer streng poststrukturalistischen Geschichtswissenschaft unter Beschuss geraten, allen voran seine Differenzierung zwischen den keineswegs in Frage gestellten Fakten der Vergangenheit (facts from the past) und den historischen Fakten (historical facts) als Ergebnis unterschiedlicher Historisierungsprozesse.13

Tatsächlich bleibt es Barthes’ Essay vorbehalten, den zentralen logischen Widerspruch, den Carrs Thesen aufrufen, konsequent aufzulösen. Carr, der an den Tatsachen der Geschichte festhält und nur deren Historisierung wie historische Repräsentation zum Problem macht, bleibt die Antwort auf die daraus resultierende Frage schuldig, wie diese angeblichen Tatsachen jenseits ihrer Versprachlichung im Zuge historischer Rekonstruktion überhaupt zu denken sind. Eben hier setzt die Kritik Barthes’ an, der das historische Faktum als tautologisches Phänomen entlarvt, das »zugleich Zeichen und Beweis der Realität« sei.14 Die Historie ist demnach immer schon, nicht nur als historia rerum gestarum (wie bei Carr), sondern auch als Abfolge der res gestae mit Bedeutung aufgeladen, so sehr der Historiker auch darum bemüht ist, das Bedeutete aus seinem objektiven Diskurs zu verbannen und das Reale zu bezeichnen:

Der historische Diskurs folgt nicht dem Realen, er läßt dieses nur bedeuten, wiederholt unablässig das das ist geschehen, ohne daß diese Behauptung je etwas anderes zu sein vermöchte als die be-deutete Kehrseite der ganzen historischen Erzählung.15

Damit liegt dem historischen Diskurs nicht mehr das Reale selbst, sondern mit Roland Barthes lediglich der Effekt des Realen (l’effet de réel) zugrunde.16 Die historische Erzählung als die der fiktionalen entgegengesetzte kann mit Barthes nicht bestehen, solange sie sich darauf beruft, das Reale zu bezeichnen. Denn das Zeichen der Historie ist, nach Barthes, fortan »weniger das Reale als das Intelligible.«17 Erstaunlich bleibt: So bahnbrechend Barthes Thesen hinsichtlich einer Geschichtsauffassung scheinen, die zwischen den Fakten der Vergangenheit und dem narrativen Modus, diese Fakten zu vergegenwärtigen, deutlich unterscheidet – sein Essay erweist sich als deutlich weniger wirkungsmächtig als etwa die Texte Hayden Whites.18

 

3.2 Die Narrativität der Geschichte: Hayden White

Hayden Whites 1973 veröffentlichte Studie Metahistory etabliert die These einer ›Poetik der Geschichte‹ und problematisiert den Wert einer eigenständigen ›historischen‹ Erkenntnis, da diese erst im Medium der Sprache sichtbar werde und damit bereits einer historischen Rekonstruktion unterworfen sei, die nach White eine grundsätzlich fiktive ist. Whites Überlegungen zur genuinen Verwandtschaft von Literatur und Geschichtsschreibung – programmatisch erfasst in seiner These von dem »historischen Text als literarisches Kunstwerk«1 und textanalytisch in seiner Untersuchung narrativer Strukturen der Geschichtsschreibung umgesetzt2 – führten in der Folge zu einer Revision und Repositionierung geschichtswissenschaftlicher Methoden und Überzeugungen.

Wie Roland Barthes argumentiert Hayden White in Metahistory zunächst ausgehend von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und dem hier etablierten Geschichtsbegriff, welchem er »eine Art bewußter methodischer Naivität« unterstellt.3 Im Unterschied zu Barthes allerdings konzentrieren sich Whites Ansätze vorrangig auf den narrativen Charakter der Geschichtsschreibung, während die den polyvalenten Geschichtsbegriff ernstnehmende strukturalistische Differenzierung zwischen Signifikant und Signifikat (und deren letztliche Negierung) eine untergeordnete Rolle spielt.4 Es bleibt auffällig, mit welchem Nachdruck White als Begründer, zumindest aber Hauptvertreter des linguistic turn in der Geschichtswissenschaft wahrgenommen und auch kritisiert wird, obgleich er selbst weder zum turn an sich noch zu (sprach-)philosophischen Vertretern desselben Bezug nimmt. Tatsächlich liegt, so hat Frank Ankersmit festgestellt, der Ausgangspunkt seiner Reflexionen weniger in der Sprachphilosophie als vielmehr in der Literaturtheorie.5 Entsprechend wird White, das belegt die Wirkungsgeschichte seiner Studien, nur in den Anfängen seiner Rezeption als Historiker wahrgenommen, dann jedoch verstärkt von der literaturwissenschaftlichen Forschung berücksichtigt.6 Der ungewöhnliche Erfolg Whites setzt nicht unmittelbar nach der Veröffentlichung von Metahistory ein, sondern erreicht seinen Höhepunkt erst in den 1980ern und frühen 1990er Jahren. Während die geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen früh erfolgen und primär auf Whites Analysen der Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert eingehen, interessiert sich die Literaturwissenschaft auch gegenwärtig primär für Whites methodische Überlegungen, die er in seinem Einleitungskapitel zur »Poetik der Geschichte« und später in seinem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk programmatisch entwickelt. Insgesamt wird deutlich, dass mit der Rezeption der Thesen Whites, die in eine kontrovers geführte Diskussion um die Fiktionalität geschichtlicher Darstellungsweisen und ihrer poetischen modi resultiert, der linguistic turn endgültig zum narrative turn, wenn nicht gar zur »literarischen Wende«7 ausgeweitet wird.

In der Einleitung zu seinem Hauptwerk Metahistory formuliert White zunächst eine Prämisse, die an jene Positionen anzuschließen scheint, die sich seit Entstehung der modernen Geschichtsschreibung immer wieder selbstreflexiv mit der vermeintlichen Objektivität der Geschichtschreibung auseinandergesetzt haben:

Es ist öfter gesagt worden, das Ziel des Historikers sei es, die Vergangenheit zu erklären, indem er die »Geschichten«, die in den Chroniken verborgen liegen, »findet«, »erkennt« oder »entdeckt«, und der Unterschied zwischen »Historie« und »Fiktion« bestehe darin, daß der Historiker seine Geschichten »finde«, während z.B. der Romancier die seinen »erfinde«. Diese Vorstellung verschleiert jedoch, in welchem Ausmaß die »Erfindung« auch die Arbeit des Historikers prägt.8

Whites hier geäußerte Grundüberzeugung von der genuinen Verwandtschaft zwischen Literatur und Geschichtsschreibung aufgrund der sie einenden narrativen Verfahrensweisen erklärt noch nicht die zum Teil heftigen Vorwürfe, mit denen die Geschichtswissenschaft, allen voran die amerikanische, zunächst auf seine Thesen reagiert hat.9 Tatsächlich greifen Whites Thesen auf die Einsicht in die Fiktionalität historischer Darstellungen zurück, wie sie etwa in Deutschland in den 1970er Jahren (und damit lange vor der Übersetzung der Werke Whites ins Deutsche) von Historikern, insbesondere aber von Literaturwissenschaftlern vertreten wird. Programmatisch dokumentiert diese Positionen der von Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz und Jörn Rüsen herausgegebene Band zu Formen der Geschichtsschreibung, der auf eine Tagungssequenz in den Jahren 1979/80 zurückgeht.10 Hans Robert Jauss etwa verabschiedet hier, bemerkenswerterweise mit Verweis auf die Positionen Reinhart Kosellecks und nicht etwa Hayden Whites, das Ideal eines »naiven historischen Realismus« und fordert die Historiker auf, die an sämtlichen historiografischen Prozessen beteiligten Fiktionalisierungsverfahren ernst zu nehmen. Eine Trennung zwischen res factae und res fictae sei, so Jauss, nicht möglich, sondern allenfalls Resultat eines unhaltbaren Vorurteils:

Dieses Vorurteil hat die hermeneutische Reflexion mit der Einsicht aufgelöst, daß die res factae kein Erstes sind, sondern als ergebnishafte Tatsachen schon in den bedeutungsstiftenden Akten ihrer Konstitution elementare Formen der Anschauung und der Darstellung geschichtlicher Erfahrung voraussetzen. Deren fiktionalen Status zu klären, sind historische und literarische Hermeneutik in diesem Kolloquium gemeinsam aufgerufen.11

Es lässt sich also davon ausgehen, dass die deutschsprachige ›Hochphase‹ der White-Rezeption in den 1980er und 1990er Jahren nicht dadurch zu erklären ist, dass der Historiker einen Angriff auf die Faktizität historischer Darstellung wagt, wie er vorher nicht versucht wurde. Vielmehr ist die leidenschaftliche Debatte wohl mit dem von White »behauptete[n] Ausmaß der Sprachlichkeit bzw. besser: Literarität der Historiographie«12 zu erklären, das die Unterschiede zwischen Dichtung und Historie vollkommen einzuebnen droht.13 Darüber hinaus geht es White weniger um die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert thematisierte Subjektivität des Historikers und deren Einfluss auf Form und Inhalte der Geschichtsschreibung als vielmehr um die jedem historischen Darstellungsversuch genuin inhärenten (und damit unvermeidbaren) modi narrativer Strukturierung, die in Whites Vorstellung einer allgemeinen Poetik der Geschichtsschreibung münden. Zuletzt verantwortet die Anzahl der White’schen Veröffentlichungen, die sich von den späten 1960er Jahren bis in die Gegenwart mit der Narrativität und Poetizität geschichtlicher Darstellungen beschäftigen, seine Stellung als ›Aushängeschild‹ der damit verbundenen Diskussion.

Wie nun gelangt White zu seiner Einsicht in die ›poetische Beschaffenheit‹ historischer Texte? Zusammengefasst interessiert er sich für die Tiefenstruktur historischer Darstellung, die er als emplotment, als Einbindung der »rohen historischen Aufzeichnung« (bei White das historische Feld) in einen plot begreift.14 Die »Geschicklichkeit des Historikers […], mit der er eine bestimmte Plotstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, denen er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt«, entscheidet über den Modus der Darstellung und verantwortet mit White ein genuin literarisches respektive fiktionsbildendes Verfahren, das wie folgt aussieht:

Zunächst werden die Elemente des historischen Feldes durch die Anordnung der zu erörternden Ereignisse in der zeitlichen Reihenfolge ihres Auftretens zu einer Chronik organisiert; dann wird die Chronik durch eine weitere Aufbereitung der Ereignisse zu Bestandteilen eines »Schauspiels« oder Geschehniszu-sammenhangs, in dem man klar einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß glaubt unterscheiden zu können, in eine Fabel umgewandelt. Diese Transformation der Chronik in eine Fabel wird durch die Kennzeichnung einiger Ereignisse der Chronik als Eröffnungsmotive, anderer als Schlußmotive und wieder anderer als Überleitungen bewirkt.15

Die Aufbereitung der historischen Ereignisse zu einer Fabel erfolgt nach White mit Blick auf die Wirkungsabsicht der von ihm zu schreibenden Geschichte sowie den damit verbundenen Lesererwartungen und ist mit einer dreifachen Interpretationsleistung des Historikers verbunden. Dieser müsse sich erstens für eine Erzählstruktur entscheiden, die der dargestellten Handlung Bedeutung verleiht. White kann sich dabei auf die von Northop Frye unterschiedenen archetypischen Erzählformen der Romanze, der Tragödie, der Komödie und der Satire berufen.16 Zweitens lege sich der Historiker, so White, vorab auf eine spezifische Argumentation fest, die an die zugrundegelegte »formale Schlußfolgerung« gebunden sei. Hier schlägt White in Anlehnung an Stephen C. Pepper formativistische, organizistische, mechanistische und kontextualistische Argumentationsmodelle vor.17 Drittens sei mit jeder historischen Darstellung eine ideologische Dimension verbunden, die White mit den vier (ursprünglich sind es fünf) ideologischen Grundpositionen Karl Mannheims zu erfassen sucht (Anarchismus, Konservatismus, Radikalismus und Liberalismus).18

Neben die hier ausgeführte Interpretationsebene des Historikers, die die konstituierende Grundlage jedes emplotment darstellt, tritt eine zweite, sprachliche Ebene, die mit White den Prozess bezeichnet, in dem der Historiker die rohen Aufzeichnungen des historischen Feldes in seine eigene Sprache überführt, um es »so für die Erklärung und Darstellung vorzubereiten, die er danach in seiner Erzählung geben wird.«19 Diesen Prozess versteht White als das Erstellen eines vorbegrifflichen sprachlichen Protokolls, das durch den in ihm dominierenden Tropus charakterisiert ist. Logisch stringenter als noch in Metahistory führt White diesen Prozess, den er ausdrücklich als ›poetischen Akt‹ begreift, in seinem ein Jahr nach Veröffentlichung der Monografie erschienenem Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk aus. White bestreitet hier jegliche mimetische Auffassung historischer Erzählungen als »maßstabgetreue« Modelle einer historischen Wirklichkeit. Vielmehr charakterisiert er unter Rückgriff auf die Sprachphilosophie Charles S. Peirces und dessen Begriff des Ikons als Zeichen, das sich auf seinen bezeichneten Gegenstand durch das Merkmal der Ähnlichkeit bezieht, auch historische Erzählungen als Zeichensysteme. Diese verweisen, so White, sowohl auf die in der Erzählung beschriebenen historischen Ereignisse wie auch auf »den Typ von Geschichte oder Mythos, den der Historiker als Ikon der Struktur der Ereignisse gewählt hat«.20 Die Entschlüsselung der ikonischen Struktur einer historischen Erzählung lege schließlich jene »prägenerischen Plotstrukturen« offen, die verwendet werden, um unvertraute Ereignisse und Situationen mit Bedeutung aufzuladen. Dazu bedient sich der Historiker einer figurativen Sprache, deren Grundformen (in Metahistory als Tropen ausgeführt) White ausgehend von den Überlegungen Giambattista Vicos in der Metapher, der Metonymie, der Synekdoche und der Ironie auszumachen glaubt.21 In dieser Theorie der Tropen meint White das geeignete Instrument gefunden zu haben, mit dessen Hilfe er hofft, die Geschichtsschreibung und das vorherrschende Geschichtsdenken, »wie es im Europa des 19. Jahrhunderts Gestalt annahm«, analysieren zu können.22 Während Metahistory – und gerade die in Bezug auf dieses Werk »äußerst oberflächliche«23 Rezeption differenziert hier nur wenig – in erster Linie ein Beitrag zur Historiografiegeschichte des 19. Jahrhunderts bleibt und als solcher zumindest von den Historikern zunächst wahrgenommen wurde, bezieht White in seinem bereits im Titel programmatischen Aufsatz Der historische Text als literarisches Kunstwerk eine deutlich verschärfte Position. Der Text pointiert die Grundaussagen von Metahistory noch einmal, radikalisiert Whites (zumal hier nicht mehr nur für das 19. Jahrhundert beanspruchte) Thesen aber gerade dort, wo sie das Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung berühren, etwa wenn White hier über die historischen Quellen feststellt, sie seien

nicht weniger intransparent als die Texte, die der Literaturwissenschaftler untersucht. Und auch die Welt, die diese Dokumente darstellen, ist nicht zugänglicher. Das eine ist nicht mehr ›gegeben‹ als das andere.24

Diese Relativierung der wissenschaftlichen Aussagekraft historischer Quellen (die als Angriff auf die Wissenschaftlichkeit des Faches an sich gewertet wurde) mündet in die Nivellierung jeglichen Unterschieds zwischen Literatur und den historischen Erzählungen, die mit White nichts anderes sind als

 

sprachliche Fiktionen (verbal fictions), deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften.25

Historische Erzählungen wie literarische Texte zeichnen sich mit White gleichermaßen dadurch aus, »daß sie die metaphorischen Ähnlichkeiten zwischen Folgen von realen Ereignissen und den konventionellen Strukturen unserer Fiktion ausnutzen.«26 Beide Genres laden, indem sie eine Folge von Ereignissen zu einer nachvollziehbaren Geschichte konstituieren, diese Ereignisse mit der symbolischen Bedeutung auf, die sich in der Aufschlüsselung ihrer tropologischen Grundform erschließt.

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