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2.3 Der Historismus des 19. Jahrhunderts

Das aufklärerische 18. Jahrhundert vergegenwärtigt, so konnte gezeigt werden, jene Epoche, die den Beginn der Geschichtswissenschaft als autonome akademische Disziplin markiert und von einem entsprechenden Bemühen um ihre Professionalisierung geprägt ist. Zu diesem gehört die Differenzierung zwischen einer sich erst entwickelnden wissenschaftlichen Historiografie und der zeitgenössischen Poesie, mithin zwischen Historiker und Dichter.

Im 19. Jahrhundert hingegen rücken beide Bereiche im Zuge der Etablierung der Geschichte als eigenes Wissenschaftsfach und einer damit verbundenen Ausweitung fachinterner Reflexionen zumindest vorgeblich auseinander. Die historische Forschung gewinnt an Relevanz und löst, so hält etwa Hans Schleier in seinem Epochenüberblick fest, die didaktisch-rhetorischen Funktionen ab, die man im 18. Jahrhundert etwa mit der Dichtkunst Gottscheds verbunden hatte. Nun avancieren eine sorgfältige Editionsarbeit, die Verwertung neuer Quellen sowie die Archivarbeit zum neuen Maßstab historischen Erkenntnisgewinns.1 Als Historismus im engeren Sinn bezeichnet Schleier dieses neue geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis, das nun mit Vertretern wie Wilhelm von Humboldt, Leopold von Ranke oder Georg Waitz die Geschichtsauffassungen und die Historiografie durchdringe und »die Suche nach genauem Detailwissen und neuen Quellen« fördere.2 Diesen enger gefassten Historismus-Begriff scheint auch Hans-Jürgen Goertz zu meinen, wenn er in Aufklärung und Historismus jene Epochen erkennt, die – gerade in ihren Differenzen – auf noch anhaltende Diskussionen um die Darstellbarkeit einer ›historischen Realität‹ und dabei auf einen Umgang mit der Wirklichkeit verweisen, »der heute noch eine Rolle spielt«. 3

Die Gleichsetzung neuer geschichtstheoretischer Überlegungen wie geschichtswissenschaftlicher Praktiken des 19. Jahrhunderts mit dem Begriff des Historismus ist hingegen nicht unumstritten: Noch immer herrscht in Bezug auf ihn kein Konsens, allen voran die 1990er Jahre stehen für die Brisanz der Debatte, wenngleich Daniel Fulda zuzustimmen ist, der diesbezüglich anmerkt, dass die Anzahl der Historismus-Begriffe »glücklicherweise« hinter die Menge der Fachvertreter zurückfalle, die sich an der Diskussion beteiligen.4

Einflussreich erweist sich in diesem Zusammenhang das Bemühen einer Gruppe von Historikern um Jörn Rüsen, die den Historismus, im Sinne der oben formulierten Epochenbezeichnung Schleiers, als Begriff für eine grundsätzliche ›Verwissenschaftlichung‹ historischen Denkens und Forschens etablieren. Diese habe mit der Spätaufklärung eingesetzt, präge insbesondere die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts und habe hier einen »Prozeß dauernden Wissenszuwachs in Gang gesetzt«.5 Die besondere Leistung eines so verstandenen Historismus’ sei es gerade, die Historiografie jenseits einer rein »literarischen Veranstaltung« neu begründet und dem historischen Denken »seine spezifisch moderne Form« verliehen zu haben – »nach den Prinzipien methodischer Rationalität organisiert, die in der neuzeitlichen Kultur notwendige Bedingungen wahrheitsfähiger Erkenntnis sind.«6

Daneben existiert eine zweite, weiter angelegte Begriffsdefinition, die den Historismus auf philosophische Debatten im ausgehenden 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bezieht. Historismus wird hier nicht auf den Bereich der Geschichtswissenschaft begrenzt, sondern interdisziplinär ausgeweitet und bezeichnet als ein konstitutives Phänomen der Moderne die Überzeugung von der historischen Bedingtheit aller kulturellen Erscheinungen.7 In die Krise ist dieser Historismus-Begriff geraten, weil er mitunter (und allzu vorschnell) mit Relativismus und Positivismus gleichgesetzt wurde, mithin reduziert wurde auf eine

zur Stoffhuberei entartete Tatsachenforschung – eine Geschichtsforschung, die jedes Beliebige aus der Vergangenheit thematisieren kann, ohne jemals nach der Bedeutung des Vergangenen für die eigene Gegenwart zu fragen, eine handlungslähmende Geschichtsforschung mithin, die den Grundsatz, der Historiker müsse sich von den geistigen und politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit distanzieren, zu ihrem Postulat erhebt.8

Gerade dieser relativistisch und positivistisch gefärbte Historismusbegriff, schlagwortartig verknüpft mit dem Diktum Rankes, Aufgabe der Geschichtsschreibung sei es, zu zeigen, »wie es eigentlich wirklich gewesen« 9, hat zu erklärten Angriffen auf die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geführt: Sichtbar gemacht nicht erst durch Vertreter einer strukturalistischen (Roland Barthes) oder narrativistischen (Hayden White) Geschichtsauffassung, sondern bereits durch Zeitgenossen wie Friedrich Nietzsche. Dieser verhandelt bekanntermaßen in seinen Unzeitgemässen Betrachtungen den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und verurteilt darin die seines Erachtens dominierende einseitige Orientierung an historischen Fakten, jenes alles und jeden »verzehrende[] historische[] Fieber«.10 Die Kritik Nietzsches am »überhistorischen« Menschen und an dessen konsequenter Deutung gegenwärtiger wie künftiger Phänomene aus dem Geist der Vergangenheit heraus verbindet sich mit einer kritischen Reflexion historischer Authentizität. Mit Nietzsche ist es Merkmal sowohl der monumentalischen wie der antiquarischen Historie (die zusammen mit der kritischen die nietzscheanische Trias an »Arten der Historie« repräsentieren), auf fiktionsbildende Verfahren nicht verzichten zu können, welche ihrerseits das Aussehen der Historie maßgeblich verzerren.11 Gerade das den historischen Menschen ausmachende Bemühen, der Vergangenheit nachzueifern, gegenwärtiges Handeln nach ihr auszurichten oder sie zumindest dankbar zu bewahren, steht einem objektiven historischen Wissen im Weg. Bereits am Beispiel des antiquarischen Geschichtsbegriffes, hinter dem sich mit Nietzsche der Wunsch des Menschen verbirgt, »die Bedingungen, unter denen er entstanden ist, für solche [zu] bewahren, welche nach ihm entstehen sollen«,12 macht er die Instrumentalisierung der Historie sichtbar: die Tatsache nämlich, »dass die Vergangenheit selbst leidet, so lange die Historie dem Leben dient und von Lebensdiensten beherrscht wird.«13 Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt erkennt Nietzsche, dass eine als Dienst an der Gegenwart verstandene Historiografie historisches Wissen nicht einfach objektiv rekonstruiert, sondern subjektiven Maßstäben unterwirft, die von der Gegenwart, in der sie entstehen, entscheidender geprägt sind als von der Vergangenheit, die eigentlich festgehalten werden soll. Noch deutlicher wird Nietzsche im Hinblick auf den monumentalischen Geschichtsbegriff, der sich von der Überzeugung leiten lässt, dass »das Große ewig sein solle«,14 der also ausgehend von den Errungenschaften und Leistungen der Vergangenheit die Möglichkeiten und Hoffnungen für die Gegenwart formuliert:

Solange die Seele der Geschichtsschreibung in den großen Antrieben liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt, […], ist sie jedenfalls in der Gefahr, etwas verschoben, in’s Schöne umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert zu werden; ja es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiktion gar nicht zu unterscheiden vermögen […].15

Hier warnt Nietzsche ganz ausdrücklich vor den Manipulationsversuchen, welchen die historischen Fakten in den Händen derjenigen ausgesetzt sind, die mit dem Beschwören der Vergangenheit ein bestimmtes Ziel zu erreichen suchen. Diese geschichtskritischen Reflexionen weiten sich im späteren Werk Nietzsches zu einer expliziten Kritik des Positivismus aus – erneut problematisiert Nietzsche die Deutung sämtlicher Phänomene aus ihrem historischen Charakter heraus, indem er die Zuverlässigkeit historischer Erkenntnis entschieden relativiert:

Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt »es giebt nur Thatsachen«, würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen. Wir können kein Factum »an sich« feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen. »Es ist alles subjektiv« sagt ihr: aber schon das ist Auslegung, das »Subjekt« ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. – Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist Dichtung, Hypothese.

Soweit überhaupt das Wort »Erkenntniß« Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne »Perspektivismus.«16

Nicht zuletzt in der interdisziplinären Rezeption der geschichtskritischen Schriften Nietzsches ist einer der Gründe für die hartnäckige Verurteilung des Historismus und seiner vermeintlich überholten positivistischen Positionen zu suchen. Dabei wird gerne übersehen, dass die Trennung zwischen den Fakten der Geschichte und ihrer nachzeitigen Repräsentation, mithin die Konstruktivität der Geschichtswissenschaft schon von Humboldt, Ranke (wenngleich hier weniger ausgeprägt), insbesondere aber Johann Gustav Droysen reflektiert wird.17 Ein Blick in Droysens Grundriss der Historik belegt, dass dessen Ringen um eine systematische Darstellung der Geschichtswissenschaft, ihrer Methoden und Funktion, keinesfalls blind für die nur unzureichend zur Verfügung stehenden historischen Fakten ist:

§. 28. Die [historische, S.C.] Kritik sucht nicht die »eigentliche historische Thatsache«; denn jede sogenannte Thatsache ist, abgesehen von den Mitteln, Zusammenhängen, Bedingungen, Zwecken, die mitthätig waren, ein Complex von oft unzähligen Willensacten, die, als solche mit dem Moment, dem sie angehörten, vergangen, nur noch entweder in den Ueberresten von dem, was damals und damit geformt und gethan wurd, oder in Auffassungen und Erinnerungen vorliegen.18

 

Ausgehend von der Problematisierung jeder historischen Tatsache, die retrospektiv nicht mehr zur Verfügung stehen kann, geht es der Historik, mit Droysen, keineswegs um die schlichte Rekonstruktion dieser Tatsachen, sondern lediglich um die Genese eines »geistigen Gegenbilds« der verlustig gewordenen res gestae:

§. 26. Das Ergebnis der Kritik ist nicht »die eigentliche historische Thatsache«, sondern dass das Material fertig gemacht ist, aus dem das geistige Gegenbild derselben zu gewinnen ist.19

Die Schwierigkeiten, die sich im Zuge der Überführung vermeintlich historischer Fakten in die von ihnen berichtende Geschichtserzählung einstellen, veranlassen Droysen zum Entwurf eines wissenschaftlichen Modells historischer Quellenkritik, dessen Prämisse gerade in der Erkenntnis beruht, dass sich eine verlässliche Auskunft über die res gestae nur selten im vorhandenen Quellenmaterial findet: »Jedes historische Material ist lückenhaft, und die Schärfe in der Bezeichnung der Lücken ist das Maas [sic!] für die Sicherheit der Forschung.«20

Noch deutlicher wird Droysen in seiner dem Grundriss der Historik beigelegten Beitrag zu Kunst und Methode, der das »zweideutige Glück« der Historie problematisiert, »zugleich auch Kunst sein zu sollen«.21 Droysens Überlegungen gelten in dem Beitrag einem zeitgenössischen Publikum, das historische Aufklärung vorrangig aus einer an den historischen Roman angelehnten Historiografie, wenn nicht gleich aus historischen Romanen selbst bezieht. Das neue wissenschaftliche Selbstverständnis des Faches stoße, so Droysen, beim potentiellen Leser auf nur wenig Gegenliebe: »Freilich dem grossen Publikum war mit dieser Richtung unserer Historie nicht eben gedient; es wollte lesen, nicht studiren.«22 Droysen aber plädiert für einen Geschichtsbegriff wie für eine Historik, die sich vom Publikumsgeschmack freisprechen und die Grenze zwischen Kunst und Wissenschaft endgültig vollziehen. Blind für das fiktionasaffine Potenzial der Geschichte ist Droysen jedoch nicht: Vielmehr besteht er auf eine historische Methode, die sich kritisch mit den Quellen auseinandersetzt, wohlwissend, dass die Quellen keineswegs als authentisches Zeugnis der res gestae zu verstehen sind:

Diese kritische Ansicht, dass uns die Vergangenheiten nicht mehr unmittelbar, sondern nur in vermittelter Weise vorliegen, dass wir nicht ›objektiv‹ die Vergangenheiten, sondern nur aus den ›Quellen‹ eine Auffassung, eine Anschauung, ein Gegenbild von ihnen herstellen könne, dass die so gewinnbaren und gewonnenen Auffassungen und Anschauungen Alles sind, was uns von der Vergangenheit zu wissen möglich ist, dass also ›die Geschichte‹ nicht äusserlich und realistisch, sondern nur so vermittelt, so erforscht und so gewusst da ist – das muss, so scheint es, der Ausgangspunkt sein, wenn man aufhören will in der Historie zu naturalisiren.23

Die von Droysen hier kritisch reflektierte Differenzierung zwischen res gestae und historia rerum gestarum vergegenwärtigt ein wissenschaftliches Problembewusstsein, das mit seiner These einer ›objektiv‹ nicht zur Verfügung stehenden Historie bereits weit über den an Ranke orientierten positivistischen Historismus hinausgeht.

Wie gewinnbringend eine Auseinandersetzung mit der historistisch und positivistisch geprägten Forschung des 19. Jahrhunderts für literaturwissenschaftliche Reflexionen, gerade auch in Hinblick auf historisch-fiktionale Texte, sein kann, führt die von Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger und Gotthart Wunberg gemeinsam verfasste Untersuchung zu Historismus und literarische Moderne (1996) vor Augen.24 Grundlage der Studie bildet ein über den geschichtswissenschaftlichen Kontext hinausführender Historismus-Begriff, der sich auf die Isolierung der Fakten durch eine historisch wie positivistisch orientierte Forschung bezieht, und nun anschlussfähig gemacht werden soll für ein bestimmtes Text-Verfahren moderner Literatur: das Phänomen der Lexemautonomie. Gerade in ihrer Auseinandersetzung mit historischen Stoffen entwickle die moderne Literatur, so die These der Autoren, »eine eigene Lexik, die erst in der Erledigung der Geschichte als ihres Gegenstandes zu sich selbst kommt.«25 Mit dem Begriff der Lexemautonomie wird die ›Unverständlichkeit‹ moderner Texte beschrieben, die sich hermeneutischen Ansätze scheinbar verschließt, das fehlende Referenzsystem zwischen Signifikant und Signifikat, »eigentlich die Dispensierung der gesamten herkömmlichen Semantik« sichtbar mache.26 Diese Loslösung der Fakten von ihrer Beschreibung formuliere jedoch nur scheinbar einen Widerspruch zur Dominanz der Fakten im positivistisch geprägten Historismus, tatsächlich aber resultiere sie eben daraus: »Die Geschichtswissenschaften, die gerade erst entstehenden Wissenschaften überhaupt, erreichen folglich zugleich, was sie keineswegs wollen.«27 Was innerhalb der Geschichtswissenschaften die ›Krise des Historismus‹ begründet, versteht sich für die Literatur der Moderne damit als Befreiungsschlag:

Der Favorisierung der Fakten in historischer Forschung korrespondiert die Autonomie der Lexeme im historischen Roman – in der Literatur aber führt das damit initiierte Verfahren zu Konsequenzen, die die methodischen Begrenzungen des Positivismus auf unabsehbare Weise sprengen.28

Die These von der Lexemautonomie im historischen Roman erstaunt zunächst, handelt es sich doch gerade dabei um eine Gattung, die, so räumen die Autoren selbst an anderer Stelle ein, ausschließlich »unter der Voraussetzung narrativer Heteronomie«29 funktioniere. Gerade hier bleiben sprachliche Zeichen als Träger semantischer Bedeutung eng auf bestimmte Erscheinungen der außerliterarischen Wirklichkeit bezogen, etwa auf historische Figuren und Fakten. Tatsächlich aber weisen die Autoren nach, wie literarische Texte, die sich vordergründig auf historistische Verfahren beziehen und unter dem Begriff des technischen Historismus figurieren, ihre Lexeme dem historischen Kontext entlehnen und im Anschluss autonomisieren. So werden Darstellungsmodi historischer Forschung, im Zuge der literarischen Moderne und endgültig im Kontext avantgardistischer Literatur, auf den poetischen Text übertragen und dort als innovative Textverfahren sichtbar gemacht. Zu solchen Darstellungsweisen gehören etwa: »der Katalog, die hyperdetaillierte Beschreibung, der disgressive Exkurs, name-dropping, Essayistik«. Diese ursprünglich der positivistischen Historiografie, »einer auf bessere Verständlichkeit der Welt zielenden Wissenschaft«, entlehnten Textverfahren avancieren nun zu einem literarischen Verfahren, »das in seiner Radikalität unverständliche Texte produziert« und autonome Lexeme hervorbringt, die schlussendlich auf kein textexternes Referenzsystem mehr verweisen.30 Diese Entwicklung eines technischen Historismus, der, so die Autoren, zu einer Auflösung der Sinnkategorie, zu der finalen Autonomie der Lexeme erst in der Literatur der Jahrhundertwende führe, problematisiert von Beginn an die Kohärenz literarischer Repräsentation. Dies hat unübersehbare Folgen für den historischen Roman bereits im 19. Jahrhundert, sowohl für Vertreter einer streng an den historistischen Positivismus angelehnten Gattung (genannt werden Dahn, Ebers und, mit Einschränkung, Scheffels) als auch im Besonderen für jene Autoren, die das historisch-fiktionale Erzählen bereits mit geschichtskritischen Reflexionen verbinden (etwa Fontane oder Raabe).31

3 Geschichte als Text: Linguistic turn und die Folgen

Noch immer versteht sich der linguistic turn als der ›Mega‹-Turn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – häufig auch als Paradigmenwechsel aufgefasst, dem sämtliche sich anschließende und vorrangig kulturwissenschaftliche turns verpflichtet bleiben.1 Die dieser sprachlichen Wende zugrunde liegende zentrale Erkenntnis fasst Richard Rorty, dessen Herausgeberband The linguistic turn 1967 für die Namensgebung verantwortlich zeichnet, in seiner Einleitung pointiert zusammen:

Since traditional philosophy has been (so the argument goes) largely an attempt to burrow beneath language to that which language expresses, the adoption of the linguistic turn presupposes the substantive thesis that there is nothing to be found by such burrowing.2

Wenn aber mit Rorty jenseits der Sprache keine Realität zu finden ist und man sich der Wirklichkeit ausschließlich über die Einsicht in ihre sprachliche Verfasstheit zu nähern vermag, hat das unmittelbare Konsequenzen für gerade jene Wissenschaft, die sich der (Re-)Konstruktion einer vergangenen Wirklichkeit verschreibt – die Geschichtswissenschaft eben. Das viel zitierte positivistische Bemühen Rankes zu »zeigen, wie es eigentlich gewesen,« führt spätestens jetzt nicht mehr zu den Fakten der Vergangenheit, den res gestae, sondern ausschließlich zu ihrer sprachlichen Vermittlung (historia rerum gestarum) zurück, welche die Fakten erst konstituieren. Mit dem linguistic turn gerät die Geschichtswissenschaft in eine Legitimations- und Existenzkrise: Nicht zufällig werden der linguistic turn und die Frage nach dem »Ende der Geschichte als Wissenschaft« häufig in einem Atemzug genannt.3 Von einer zeitnahen Reaktion der (zumindest deutschsprachigen) Geschichtswissenschaft auf den vermeintlichen Paradigmenwechsel kann dabei schwerlich die Rede sein, vielmehr werden Einsichten des linguistic turn erst verspätet rezipiert und reflektiert.4

Der Begriff selbst, darauf wurde in jüngster Zeit hingewiesen, ist durchaus missverständlich, insbesondere wenn er vorschnell zu einer Übersetzung mit »die linguistische Wende« führt.5 Um eine solche handelt es sich bei dem Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft im Eigentlichen nicht – vielmehr bietet sich hier der Ausdruck narrative, zumindest aber sprachliche Wende an.6 Denn hinter den geschichtswissenschaftlichen bzw. -theoretischen Überlegungen im Anschluss an den linguistic turn verbergen sich in der Regel keine die Linguistik als Struktur- oder Systemwissenschaft reflektierenden oder rein semiotische Fragestellungen, sondern erzähltheoretische, hermeneutische und textanalytische Ansätze. Dementsprechend ist die Referenzgröße in den seltensten Fällen Ferdinand de Saussure, mitunter Roland Barthes, vor allem aber Hayden White. Gerade letzterer fällt hingegen, wie noch zu zeigen sein wird, in seinen frühen, zugleich aber am stärksten rezipierten Schriften, hinter die Radikalität textsemiotischer Analysen, wie sie etwa Barthes vollführt, zurück.

Die sprachliche Wende der Geschichtswissenschaft ist in ihrer ambivalenten Auswirkung zu begreifen, die auf die grundsätzlich Polyvalenz des Geschichtsbegriffes zurückzuführen ist: Zunächst leitet die Fokussierung auf die ›Sprache der Geschichte‹ zur Geschichtsschreibung als dem Diskurs über, der die historischen Fakten im Medium der Erzählung, der historia rerum gestarum, erst verfügbar macht. Die Einsicht in die rhetorische Verfasstheit der Geschichte und die Gleichsetzung des Historikers weniger mit dem ›Entdecker‹ als vielmehr dem Interpreten der Geschichte sind im Ganzen dabei nicht neu. Sie finden sich, wie bereits dargelegt wurde, im auslaufenden 18. Jahrhundert, allen voran bei Schiller, und später im Kontext der Diskussion um einen weiter gefassten Historismusbegriff und die Positivismus-Kritik Nietzsches. In der Tat erfolgt das eben dargestellte, neu entdeckte Interesse der Geschichtswissenschaft an der Aufklärungshistorie nicht zufällig zu einer Zeit, in der Geschichte als Text und damit mit seiner narrativen Qualität diskutiert wird. Diese Diskussion steht dem Selbstverständnis der Geschichtsschreiber um 1800 deutlich näher als den positivistischen Zugriffen auf die historischen Fakten, wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts von den Vertretern eines positivistischen Historismus verteidigt wurden. Neben dieser Problematisierung der Geschichtsschreibung im Besonderen, der sprachlichen Verfasstheit der Geschichte, zielt der linguistic turn – gerade in seiner Fortführung durch poststrukturalistische Ansätze – auf eine weitere, ungleich brisantere Diskussion, in der nun die historischen Fakten selbst, die res gestae, verhandelt werden: Wenn eine der Sprache vorgängige Wirklichkeit in Frage gestellt wird, wenn das Signifikat, mit Derrida, »seit je als ein Signifikant« fungiert,7 dann wird die bis dato vollzogene scharfe Trennung zwischen den res gestae und der historia rerum gestarum hinfällig. Da auch das historische Faktum als erst ›gemacht‹ und nicht etwa immer schon vorhanden gedacht werden muss, geraten sowohl die Konstitutions- wie Konstruktionsbedingungen der Geschichtserzählung wie auch das von ihnen Bezeichnete unter den Verdacht der Unzuverlässigkeit.

 

Erst in dieser zweifachen Rückführung zur ›Sprache der Geschichte‹ und der damit verbundenen gleichzeitigen Problematisierung von res gestae und historia rerum gestarum versteht sich das Ausmaß der Erschütterung, die das Fach in der Folge prägt.

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