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1.1 Der historische und der ›andere‹ historische Roman: Ein Forschungsüberblick

Die anglistische wie amerikanistische Forschung übertrifft in Bezug auf den historischen Roman die germanistische Literaturwissenschaft an Qualität und Quantität der diesbezüglich erschienenen Arbeiten deutlich: Daher wird im Folgenden auf jene Werke der angloamerikanischen Forschung Bezug genommen, die für signifikante Zäsuren innerhalb der Gattungsforschung gesorgt haben. Diese komparatistische Ausweitung ist grundsätzlich nur unter Vorbehalt möglich, da die in den jeweiligen Werken profilierte Gattungsdefinition auf Texte rekurriert, die sich dem Gegenstandsbereich der germanistischen Literaturwissenschaft nicht nur entziehen, sondern auch eigenen, spezifischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen. Auf den Einbezug dieses wichtigen Forschungssegmentes ganz zu verzichten, wie etwa Aust in seiner Studie zum historischen Roman, bleibt dennoch problematisch.1 Gerade angesichts der sowohl gattungstheoretisch wie -historisch insgesamt unzureichenden Forschungslage lassen sich die angloamerikanischen Forschungsbeiträge nicht ignorieren. Vielmehr bilden sie konstruktive Versuche, den historischen Roman zu definieren und in seinen neuen Akzenten sichtbar zu machen. Hans Vilmar Geppert, der 2009 die bislang aktuellste Übersichtsstudie zur Gattung vorlegt, zollt diesem besonderen Umstand Rechnung und liefert einen komparatistischen Überblick, der nicht nur die internationale Forschungsliteratur, sondern Primärtexte der Weltliteratur aus den letzten zwei Jahrhunderten berücksichtigt. Zwangsläufig reduziert muss angesichts der Materialfülle dieser Studie gleichwohl die Auseinandersetzung mit spezifisch deutschsprachigen Erzähltexten der Gegenwart ausfallen.2

Mangelt es bis in die Gegenwart nicht an Versuchen, die Gattung bestimmen zu wollen, fallen die Antworten auf die Frage, was ein historischer Roman denn nun sei, in der Regel wenig präzise aus. Dies lässt nicht etwa auf nachhaltige Defizite der Gattungsforschung schließen, sondern gehört zur Programmatik der Gattung, die sich weniger über verbindliche Gattungsmerkmale als vielmehr über die Quantität potentieller Eigenschaften definiert. Zwei Namen fallen auf, welche die Diskussion konsequent prägen – auch, weil die Gattung in Abgrenzung von ihnen bestimmt wird. Zunächst handelt es sich dabei um Sir Walter Scott, den mutmaßlichen Begründer der Gattung, der mit seinem Waverley-Roman 1814 das Modellmuster eines historischen Romans liefert. Erst 2001 erscheint mit Frauke Reitemeiers Monografie zu den deutschen Vorläufern Scotts eine Untersuchung, die den Beginn der Gattung vor Walter Scott ansetzt und sich damit, so hält Reitemeier selbst fest, deutlich vom Tenor der entsprechenden Forschungsdiskussion absetzt.3 So wie die Gattungsgeschichte einerseits mit Scott ihren Anfang zu nehmen scheint, wird eine ernstzunehmende gattungstheoretische Diskussion andererseits erst mit Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzung der Studie Georg Lukács’ Der historische Roman (1955) begründet und richtet sich – wenngleich äußerst kontrovers – auch gegenwärtig noch an dessen Thesen aus:

Unabhängig davon, welchen Stellenwert Lukács’ Scott-Auffassung in der wandlungsreichen Scott-Forschung einnehmen kann, darf gelten, daß seine kanonische Entscheidung für das Verständnis des historischen Romans aller Sprachen wegweisend ist.4

Lukacs’ Studie kennzeichnet Walter Scotts historische Romane als revolutionäre Literatur, die den großen realistischen Gesellschaftsroman des 18. Jahrhunderts fortführen und gleichzeitig etwas »vollständig Neues« bedeuten.5 Der streng marxistische Ansatz Lukacs’ führt zu einer ideologischen Deutung der Gattung, deren Hauptaufgabe nach Lukacs’ darin besteht, »die Existenz, das Geradeso-Sein der historischen Umstände und Gestalten mit ›dichterischen Mitteln‹ zu beweisen.«6 Dies gelinge Scott, so führt Lukacs aus, insbesondere durch die Profilierung eines »mittleren Helden«, dessen Schicksal die Wendungen der Historie, die »großen historischen Ereignisse«, erst sichtbar mache:

Der Held der Scottschen Romane ist stets ein mehr oder weniger mittelmäßiger, durchschnittlicher englischer Gentleman. Dieser besitzt im allgemeinen eine gewisse, nie überragende praktische Klugheit, eine gewisse moralische Festigkeit und Anständigkeit, die sogar bis zur Fähigkeit der Selbstaufopferung reicht, die aber niemals zu einer menschlich hinreißenden Leidenschaft erwächst, nie begeisterte Hingabe an eine große Sache ist.7

Problematisch, insbesondere mit Blick auf historische Romane des 20. und 21. Jahrhunderts, ist Lukacs’ Deutung, weil sie die Gattung im Kontext eines strengen Realismusbegriffs als Werkzeug geschichtlicher Erkenntnis begreift, die mit ästhetischen Mitteln ein Abbild der »historischen Wirklichkeit« liefern soll:

Es kommt darauf an, nacherlebbar zu machen, aus welchen gesellschaftlichen und menschlichen Beweggründen die Menschen gerade so gedacht, gefühlt und gehandelt haben, wie dies in der historischen Wirklichkeit der Fall war.8

Damit reduziert Lukacs das Genre auf seine mimetische Funktion, ignoriert das geschichts- und erkenntnistheoretische Reflexionspotential, das den historischen Roman im Koordinatensystem von Literatur und Geschichte als Gattung ausmacht.

Erst zwanzig Jahre nach Erscheinen der deutschen Übersetzung der Lukacs’schen Studie wird die Forschungsdiskussion um Wesen und Inhalt der Gattung neu belebt. Hartmut Eggert legt 1971 seine Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850–1875 vor, die noch keinen neuen Definitionsversuch liefern, statt dessen eine Typologisierung der Romane nach den behandelten historischen Stoffen und Gesichtspunkten entwerfen und nach ihren strukturellen Besonderheiten unter dem Aspekt der Publikumswirksamkeit unterscheiden.9 Auch Michael Meyer verzichtet in seiner 1973 veröffentlichten Dissertation zur Entstehungsgeschichte des historischen Romans zunächst auf eine Definition der Gattung, macht vielmehr ihre Entstehung in Deutschland im Spannungsfeld zeitgenössischer Poetiken und Theorien der Geschichtsschreibung sichtbar.10

Die komparatistische Studie Walter Schiffels, Geschichte(n) Erzählen, sorgt 1975 für eine deutliche Akzentverschiebung, da sie selbstreferenzielle und -reflexive Merkmale historisch-fiktionaler Texte hervorhebt und damit auf Definitionsversuche vorbereitet, die eben darin das entscheidende Charakteristikum der Gattung sehen. Schiffels teilt Lukacs’ Einschätzung hinsichtlich der Vorbildfunktion der Scott’schen Romane, relativiert sie aber zugleich, indem er den »›klassischen historischen Roman‹ vom Typ Scott« als allein auf die Waverley Novels anwendbar begreift. Kennzeichnend für diese Form des historischen Romans ist nach Schiffels, dass Geschichte hier »zum bloßen Spannungsträger, nicht mehr zum Auskunftsträger« avanciere11 und damit gleichsam auf einen austauschbaren Kulissenhintergrund reduziert werde. Den historischen Romanen Scotts, so kann Schiffels auch im Rekurs auf die poetologischen Selbstäußerungen des Autors zu Beginn seiner Romane nachweisen, gehe es gerade nicht darum, in Konkurrenz zur Historiografie zu treten: »[I]n ihnen wird nicht Geschichte zum Roman, sondern in die Geschichte wird ein eigentlich beliebiger Roman verwoben.«12 Was erreicht wird, ist, mit Schiffels, weniger eine »Rekonstruktion« der Vergangenheit als vielmehr ihre »Verlebendigung«, die dem Leser Geschichte als ästhetischen Gegenstand nahebringe, der allein der Unterhaltung, nicht aber der Aufklärung diene. Das Scott’sche Medium dieses Verlebendigungsprozesses sei, hier schließt sich Schiffels zunächst Lucács an, tatsächlich ein Held der Mitte – dieser aber entspringe selbst gerade nicht der Geschichte, sondern verkörpere eine ahistorische, streng fiktive Figur. Bereits im Gesamtwerk Scotts zeige sich, so Schiffels, »daß die ideale Realisation der von Scott entwickelten Erzähltechniken nicht von ihm selbst geleistet worden sei.«13 Damit erteilt Schiffels dem homogenen Gattungsbegriff eine Absage und differenziert unterschiedliche Typen historisch-fiktionaler Texte, die allesamt präzise zu beschreiben seien. Die zentrale und mit Blick auf die metafiktionale Dimension der Gattung in der Gegenwart besonders relevante Schlusserkenntnis Schiffels ist die Einsicht, dass »›Historisches Erzählen‹ sich nicht durch ein signifikantes Quantum ›Geschichte‹ vor anderen epischen Texten auszeichnet, sondern nur durch dessen Thematisierung in Funktion zur Fabel des Erzählens.«14 Dieses Fazit der Studie, das nicht in der Rekonstruktion der vermeintlich historischen Fakten, sondern in der bewussten Thematisierung der Fiktionalisierung der Geschichte die eigentliche Leistung eines historischen Romans begründet sieht, antizipiert die wachsende Auseinandersetzung der literaturwissenschaftlichen Forschung mit dem von Hans Vilmar Geppert erstmals so benannten »anderen historischen Roman«.

Die komparatistisch angelegte Untersuchung Gepperts erscheint 1976 und begründet das eigene Vorgehen einleitend gerade durch die anhaltenden Definitionsprobleme, die bis dato sämtliche Versuche, die Gattung systematisch zu erfassen, kennzeichnen:

Gerade weil man tiefgreifende Unterschiede zwischen verschiedenen historischen Romanen nicht als Konsequenz einer durch jeden von ihnen hindurch laufenden kategorialen Grenze versteht, kommt es zu der eigentümlichen Situation, daß einerseits sozusagen ein offizielles Bild des historischen Romans existiert, andererseits die Einzeluntersuchungen auch da, wo sie diese communis opinio nicht als passend empfinden, niemals dazu übergehen, ›den‹ historischen Roman neu zu definieren.15

In seiner Auseinandersetzung mit gattungstheoretischen Positionen unterstreicht Geppert, dass Scott keineswegs das gültige Modell für ›den‹ historischen Roman liefere, sondern sich inzwischen eine neue Form des historischen Romans etabliert habe. Charakteristikum dieser Gattung sei, so Geppert, die metahistorische Reflexionsleistung der Texte, der es gerade nicht um eine Monumentalisierung der dargestellten Fakten, sondern um die Infragestellung historischer Referenzialität fiktionaler Texte gehe. In dieser »kritischere[n] Funktion der Geschichtsdichtung« erkennt Geppert die eigentliche Voraussetzung der Gattung: »[M]an kann sogar sagen: erst wenn er [Der historische Roman, S.C.] sie mit aufnimmt, erfüllt er seine Möglichkeiten – als Roman.«16 Unter Rückgriff auf das Kommunikationsmodell Roman Jakobsons untersucht Geppert das im historisch-fiktionalen Text kommunizierte Verhältnis von Geschichte und Dichtung und gelangt zu der zentralen Einsicht, dass das Charakteristikum historisch-literarischer Dichtung gerade in der fehlenden Übereinstimmung zwischen Fiktion und Historie zu erkennen sei – ein Phänomen, das er unter den Begriff »Hiatus von Fiktion und Historie« fasst.17 So stellt Geppert etwa mit Blick auf die Henri-Quatre-Romane Heinrich Manns fest, dass hier gezeigt werde, »daß die Bezeichnung eines Ereignisses, das heißt seine Aufnahme in ein kollektives Gedächtnis und seine Konstituierung als Faktum, immer auch bereits Interpretationen enthält.«18 Hier problematisiert er bereits den »Kollektivsingular« Geschichte, der neben den res gestae (den Fakten), immer auch die historia rerum gestarum (die Repräsentation der Fakten) meint und nimmt damit geschichtstheoretische Problematisierungen in der Folge des linguistic turn bereits vorweg.

 

Das selbstreflexive Potenzial des historischen Romans untersucht 1981 Ina Schabert in ihrer Studie zum historischen Roman in England und Amerika. Sie geht dabei von einer Gattungsdefinition aus, die erneut auf wenig präzise Koordinaten zurückgreift und eine kaum konturierte Bedeutung des Begriffes »historisch« vergegenwärtigt:

Ein Roman gilt als ›historischer Roman‹, wenn er sich auf Geschehen oder Zustände bezieht, die in einer bestimmten, dem Leser bekannten Epoche zu lokalisieren sind. Historisch meint hier demnach ›epochenspezifische, kollektiv vorgewußte Wirklichkeit betreffend‹. Die dazu erforderlichen außerliterarischen Bezugnahmen im Text sind Angaben von Jahreszahlen, mit Zeitangaben gekoppelte geographische Festlegungen, Benennung von Personen, von denen der Leser weiß, daß sie tatsächlich gelebt haben, Hinweise auf authentische Ereignisse. Während identifizierbare Zeit- und Ortsangaben übereinstimmend für das Genre als unerläßlich postuliert werden, kann durchaus in Frage gestellt werden, daß es notwendig ist, historische Personen einzubeziehen. […] Jede der über diese Bestimmung von ›historisch‹ hinausgehende Spezifizierung erweist sich als umstritten.19

Schabert beschäftigt insbesondere die Differenzierung zwischen historischem Roman und Gegenwartsroman, die ihres Erachtens immer dann aufgehoben werde, wenn die Forschung »vom nachzeitigen Standpunkt der eigenen, späteren Rezeptionsphase«20 ausgeht und den Gegenwartsroman in einem solchen Fall als historischen liest. Sie plädiert hingegen für ein Konzept des historischen Romans, das als Zentralmerkmal ein ›nachzeitiges‹ Erzählen (statt einer allein nachzeitigen Rezeption) impliziert. Fehlen Signale eines nachzeitigen Erzählens vollkommen, dann liege, so Schabert, »kein historischer Roman mehr vor, sondern ein fingierter Gegenwartsroman aus einer früheren Epoche.«21 Indem Schabert das Bewusstmachen der nachzeitigen Erzählsituation zum konstitutiven Merkmal der Gattung erklärt, unterstreicht sie die selbstreflexiven Bezüge derselben und grenzt zugleich jene der sogenannten Trivialliteratur vorbehaltenen historischen Romane aus: Der historische Roman ist mit Schabert erst dann ein solcher, wenn er die Historie nicht nur erzählt, sondern die Tatsache, dass er dies tut, offensichtlich macht. Im Anschluss unterbreitet Schabert eine Typologie des historischen Romans, mit deren Hilfe sie zwischen verschiedenen Vertretern der Gattung zu unterscheiden versucht: Zum einen fasst sie darunter die Gruppen an Romanen, in denen das Geschichtsmaterial Personal und Haupthandlung vorgibt – aus story werde darin hier history. Texte, in denen der historische Stoff lediglich einen »Zustands- und Ereignisraum« zur Verfügung stelle, bündelt Schabert unter dem Begriff des »historischen Gesellschaftsromans«. Das dritte von ihr erarbeitete Mikrogenre des historischen Romans meint hingegen solche Texte, in denen das Entdecken und die Vermittlung der Geschichte selbst zum Thema werden und das historische Material häufig »zu multiperspektivischen, oft fragmentarischen und kontradiktorischen Ansichten desorganisiert« werde. Diesen Gattungstyp, von Schabert als »reflektiver historischer Roman« erfasst, sieht sie insbesondere in der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts vertreten – damit antizipiert sie die Diagnose der jüngeren angloamerikanischen Forschung, welche die selbstreflexiven Bezüge des historischen Romans unter dem Begriff der historiographic metafiction einfangen wird.22

Raimund Borgmeier und Bernhard Reitz ziehen in ihrem 1984 erschienenen Herausgeberband zum angloamerikanischen historischen Roman des 19. Jahrhunderts die »Brauchbarkeit« der von Schabert vorgeschlagenen Typologie hinsichtlich daraus resultierender Zuordnungsmöglichkeiten in Frage, obgleich sie, ihr folgend, das nachzeitige Erzählmoment ebenfalls zum Charakteristikum der Gattung erklären und diese vom Gegenwartsroman trennen.23 Tatsächlich verzichten die Autoren bewusst darauf, eine neue Typologie zu entwerfen und bestätigen damit ihre eigene einleitend aufgestellte Beobachtung: »Jedermann weiß, was ein historischer Roman ist, ihn zu definieren wird aber dadurch offensichtlich nicht leichter.«24 Vielmehr entscheiden sich Borgmeier und Reitz, die divergierenden Merkmale, denen die Gattung mit Blick auf die unterschiedlichen Zeiten, von und in denen sie erzählt, unterworfen ist, näher zu beleuchten. Mit Blick auf die in der vorliegenden Untersuchung zu diskutierenden Texte erweisen sich die Überlegungen der Anglisten als vorausschauend, wenn sie, damit bleiben sie eine Ausnahme, einerseits die Gattung und andererseits den Geschichtsbegriff in seinem diskursiven Verlauf parallelisieren und zu dem Ergebnis kommen, dass »Zweifel an den Möglichkeiten und der Bedeutung historischer Aussagen auch auf den historischen Roman übergreifen müssen«.25 Die viel zitierte literaturwissenschaftliche Kritik an der Gattung, die sich vermeintlich an der Grenze zum Trivialen bewege und die Autonomie des literarischen Textes untergrabe, wird von Borgmeier/Reitz nicht wiederholt, sondern aus Sicht der Geschichtswissenschaft neu formuliert. Deren Einwände hätten sich, so weisen die Autoren nach, lange Zeit auf ein vermeintlich vorschnell konstatiertes Verwandtschaftsverhältnis zwischen Historiografie und Literatur bezogen. Inzwischen aber lasse sich eine Entschärfung geschichtswissenschaftlicher Kritik feststellen, die Borgmeier/Reitz zu Recht mit einem veränderten Begriff der Geschichte begründen. Spätestens mit Collingwoods »bahnbrechende[r]« Studie The idea of History (1946), welche die Subjektivität des Historikers in den Vordergrund stellt und seine Arbeit als »eine vielfältig bedingte schöpferische und imaginative Leistung« bewertet, seien Literatur und Geschichte durch die Vorstellung der kreativen, beinahe poetischen Arbeit des Historiografen neu zusammengerückt. Im unübersehbaren »Status- und Prestigeverlust« der Geschichte wie der Geschichtswissenschaft, verantwortet durch die von Hayden White und seinen Nachfolgern aufgeworfene Diskussion um die Narrativität der Geschichte, erkennen die Autoren eine Chance für die Gattung des historischen Romans, da diese »als fiktionale Literatur von sich aus zu einer subjektiv gesetzten, nur relativ gültigen Darstellung der Vergangenheit« tendiere.26

Dass ungeachtet dieser frühzeitig formulierten Sensibilisierung für die metafiktionalen und selbstreferenziellen Implikationen des historischen Romans sowie der (durch Borgmeier/Reitz formulierten) Parallelisierung eines angreifbar gewordenen Geschichtsbegriffs mit literarischen Texten die germanistische Forschung immer wieder hinter eigentlich schon aufgestellte Standards zurückfällt, zeigen Studien wie die 1986 erschienene englischsprachige Untersuchung von Bruce Broermann The german historical in exile after 1933. Broermann ignoriert die Ansätze der Forschung, die Gattung nicht allein über ihre historischen Inhalte zu definieren, wenn er feststellt: »The term ›historical novel‹ refers traditionally only to content.«27 Dem Untertitel seiner Studie Calliope contra clio folgend reduziert Broermann die Forschungsdiskussion auf Versuche, die Gattung entweder der Poesie (Kalliope) oder der Historiografie (Clio) zuzuschreiben und warnt davor, den historischen Roman fälschlicherweise als Werkzeug der Geschichtsschreibung zu verstehen.28 So richtig diese Prämisse auch ist, lässt sie sich im Hinblick auf die von der angloamerikanischen Forschung bereits erarbeiteten Ergebnisse von einem überholten Gattungsbegriff leiten.

Einem eindeutigen Gattungsbegriff verweigert sich auch Richard Humphreys englischsprachige Untersuchung der historischen Romane Alexis’, Fontanes und Döblins The historical novel as philosophy of history (1986). Diese liefert anstelle einer konkreten Gattungsdefinition zunächst einen Überblick über die gesamteuropäische Gattungsgeschichte, um im Anschluss daran festzustellen:

The shortest appropriate answer to the question, ›What is an historical novel?‹ is that an historical novel is a novel which so resembles the above family of historical novels that it makes sense to describe it in those terms rather than in others.29

Eine Gattung schlicht aus der Tradition der Gattung zu erklären, erweist sich jedoch als problematisch, zumal der von Humphrey erarbeitete gattungshistorische Überblick von einer recht begrenzten Textauswahl ausgeht, die mit Blick auf andere, von Humphrey nicht berücksichtigte Gattungsvertreter in Frage gestellt werden könnte. Desweiteren vergibt Humphrey mit seiner Begriffsbestimmung die Möglichkeit, die Gattung des Romans ausgehend von aktuellen geschichtstheoretischen, -philosophischen oder auch literarischen Modellen neu zu denken.

Wie sehr die deutschsprachige Gattungstheorie hinter den Ergebnissen oben dargestellter angloamerikanistischen Untersuchungen zurückbleibt, stellt Harro Müller in seiner 1988 erschienenen Studie zum deutschsprachigen historischen Roman des 20. Jahrhunderts heraus: Darin skizziert er einleitend die »Legitimationsnöte«, denen sich der historische Roman ausgesetzt sehe, und betont das Unbehagen der Forschung angesichts einer Gattung, die einen zweifelhaften Literaturbegriff besetze:

Den Hauptvorwurf kann man vielleicht so pointieren: Der historische Roman sei eine Zwittergattung von trauriger Gestalt. Die ganze Gattung bleibe hinter dem ästhetischen Autonomie-Postulat zurück, weil sie ästhetikfernes – referentialisierbares Material benutzen muß und auf ästhetikexterne – praktische, politische – Effekte beim Leser schiele. Der historische Roman vermenge auf unselige Weise wissenschaftlichen und literarischen Diskurs, sei ein didaktisch angelegtes, auf Unterhaltungseffekte kalkulierendes Verdopplungsunternehmen zum Transport von Erkenntnissen, die im wissenschaftlichen Diskurs besser und valider vermittelt werden könnten. Das Motto dieser Gattung: Kleine Didaktik für kleine Menschen oder wie sage ich es meinem Kinde! 30

Die hier gesammelten stereotypen Vorstellungen von der Gattung verweisen auf einen deutschsprachigen Forschungskonsens, der den historischen Roman noch immer auf seine geschichtsvermittelnde Funktion, mithin auf ein Instrument der Historiografie reduziert: Das etwa von Schabert und Geppert herausgestellte Reflexionspotenzial zahlreicher früh erschienener historisch-fiktionaler Texte bleibt hier unberücksichtigt. Müller verteidigt die Gattung gegen Vorbehalte, welche die komparatistische Gattungstheorie eigentlich schon ausgeräumt hat, wenn er unterstreicht, dass es dem historischen Roman weder um ein historisches »So-ist-es-eigentlich-gewesen« noch um die schlichte Vergegenwärtigung »aktueller Erfahrungsmomente des Autors« gehe.31 Ganz richtig stellt Müller fest, dass es die literarische Qualität des historischen Romans seit 1800 gerade ausmache, auf die Kategorie der »Potenzialität« zurückgreifen zu können, Geschichte also nicht nur zu re- sondern erst zu konstruieren und den Konstruktionscharakter der Geschichte dabei durch bestimmte ästhetische Verfahren sichtbar zu machen. Geppert analog unterscheidet Müller zwischen einem »traditionellen historischen Roman«, dem es um die Darstellung historischer Einheit gehe, und einem Textmodell, in dem die Einheit der Geschichte nachhaltig gestört und sie durch »Akzentuierung von reflexiven, metahistorischen Verfahren« in ihren Konstruktionsmechanismen offen gelegt werde.32 Diesen eben auch ›anderen‹ historischen Roman sucht Müller historisch zu verorten und sieht ihn insbesondere im 20. Jahrhundert vertreten, was er im Folgenden anhand exemplarischer Analysen (zu Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin und Alexander Kluge) nachzuweisen sucht. Ungeachtet seiner Bemühungen um einen Gattungsbegriff, der die ästhetischen, dezidiert literarischen Möglichkeiten des historischen Romans stärker bewertet als dessen vermeintliches Bemühen, historisches Wissen zuverlässig zu vermitteln, verknüpft Müller in seiner Studie seine Thesen noch nicht mit der zeitgleich stattfindenden Debatte um narrative Verfahren der Historiografie bzw. die »Poetik der Geschichte«. Diese aber weitet Einsichten der literaturwissenschaftlichen Forschung entscheidend aus, indem sie nicht allein den Konstruktionsprozessen fiktionalisierter, sondern jeder narrativ vermittelten Geschichte nachgeht.

 

Aus den Veröffentlichungen zum historischen Roman im Anschluss an das von Geppert vorgeschlagene Modell des »anderen historischen Romans« sticht Michael Limleis 1988 veröffentlichte Dissertation zum deutschen historischen Roman zwischen 1820 und 1890 hervor, da er explizite Kritik an Gepperts Hiatus-Modell als zentralem Gattungsmerkmal übt. Dieses ist nach Limlei keineswegs gattungsspezifisch für den historischen Roman, sondern – hier greift Limlei auf die Theorien Ingardens und Barthes’ zurück – für fiktives Erzählen grundsätzlich:

Nicht das polare Nebeneinander von Historie und Dichtung, sondern die spezifische Vermittlungsabsicht zwischen geschichtlicher Welt und individualisiertem Entwurf; nicht der Hiatus zwischen Realität und Fiktion, sondern die wie immer problematische Absicht ihrer Verschränkung innerhalb eines dynamischen und zielgerichteten Handlungsverlaufs, können als signifikante Besonderheiten des historischen Erzählens bezeichnet werden.33

In seinem ausführlichen Überblick über die Gattung im 19. Jahrhundert fühlt Limlei sich folglich weniger den Ergebnissen der jüngeren Forschung als vielmehr der Studie Lukács’ verpflichtet, wenngleich er dessen literaturpolitische Zielsetzung nicht teilt. Mit Lukács und unter Rückgriff auf das ästhetische Modell Jan Mukarosvkys begreift Limlei Literatur als genuin referenziellen Text, der »in mehrfacher Hinsicht an eine außerhalb des Werks gegebene Realität gebunden« sei; mit anderen Worten: »[…] jeder literarische Text besteht aus nichts anderem als ›historischem Material‹.«34 Im Vergleich zu seinen Vorgängern befreit Limlei den literarischen Text damit nicht von einer lediglich auf Referenzialität abzielenden Wirkungsintention, sondern schreibt sie ihm als Charakteristikum ein: »In der Vermittlungsabsicht des historischen Romans, Historie und Dichtung ineinander aufgehen zu lassen, steckt eine Aussage über die historische und mittelbar über die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit.«35 Insgesamt kann Limleis Versuch einer Neuorientierung der Gattung nicht überzeugen – er bleibt in seinen Definitionsversuchen weit hinter dem sowohl selbstreferenziellen wie auch gattungspoetologischen Potenzial zurück, welches die Auseinandersetzung mit dem »anderen historischen Roman« aufdecken konnte. Wenn Limlei als die eigentliche Gattungsbesonderheit des historischen Romans ausmacht, »daß er sie [die Geschichte, S.C.] als einziges und unübersteigbares Feld der Bewährung für die handelnden Figuren und die von ihnen vertretenen Werte, Prinzipien und Zielsetzungen darstellt und in seine Struktur aufnimmt«,36 dann lässt sich das spätestens für jene Texte der Gegenwart, die in der vorliegenden Untersuchung in den Blick genommen werden, nicht mehr halten.

Limleis Position erweist sich mit Blick auf die sich anschließende Forschung als nicht nachhaltig. Entsprechend stellt Gerhard Kebbel in seiner 1992 veröffentlichten Dissertation zur Poetik des historischen Romans fest, dass nach der durch Gepperts Studie evozierten Zäsur keine »innovativen Forschungsergebnisse« mehr vorgelegt werden konnten.37 Blickt man auf dazwischen liegende Veröffentlichungen, wie etwa David Roberts Herausgeberband zum deutschen historischen Roman,38 zeigt sich, dass Kebbels Urteil berechtigt ist und sich das Fortschreiben der Gattungsgeschichte zumeist in einem Positionierungsversuch zwischen den konträren Ansätzen Lukács’ und Gepperts erschöpft. Im Gegensatz zu Limlei bekräftigt Kebbel die durch Gepperts Modell des anderen historischen Romans für die Forschung erbrachte Innovationsleistung und sieht die zentrale Problematik der Gattung »mit der Differenz zwischen den Kategorien des Historischen und des Fiktiven« hinlänglich bestimmt.39 Unter Rückgriff auf dekonstruktive Lektüremodelle schlägt Kebbel eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit historischen Romanen vor, der es gerade nicht darum geht, den Gegensatz von Hiatus und Fiktion in seiner narrativen Verarbeitung aufzuschlüsseln, sondern diesen als grundsätzliches der Gattung eingeschriebenes Paradoxon aufzufassen. Die Konfrontation von fiktionalem und historischem Wissen entstehe, weil der historische Roman mit Elementen aus einem außerliterarischen Kontext arbeite, »zu denen der grundsätzliche Konsens best[ünde], daß sie vergangene Wirklichkeit wahrheitsgetreu schildern: eben der Geschichtsschreibung.«40 Mit seiner Gegenüberstellung von fiktionalen literarischen und authentischen, wirklichkeitsabbildenden historischen Texten ignoriert Kebbel die Diskussionen um die Konstruktion der Geschichte nicht erst im literarischen Text, sondern im Medium des Narrativen grundsätzlich. Gerade diese Debatten erschüttern den Begriff der Geschichte in der Folge des linguistic turn nachhaltig – und ziehen Termini wie »Wahrheitstreue« für historiografische Texte bereits in Zweifel. Dessen ungeachtet strebt Kebbel in seiner Studie eine dekonstruktive Lektüre historisch-fiktionaler Texte an, deren Ziel es sein müsse, »zu zeigen, an welchen Stellen im System des Textes die spezifische Form der Geschichtserzählung sich gegen sich selbst wendet und so das immer schon vorhandene Paradoxon akzentuiert.«41 Letztlich entspricht diese Leitfrage eben jener, mit der bereits Geppert an das Modell des »anderen« historischen Romans herangetreten war. Auf diese gattungsimmanente Differenzierung aber verzichtet Kebbel bewusst, da die selbstreferenzielle Problematisierung der Opposition von Fakt und Fiktion sämtlichen Texten inhärent und es damit Aufgabe der dekonstruktiven Lektüre sei, diese herauszufiltern. Entsprechend meint der Lektüreprozess bei Kebbel immer auch die Auseinandersetzung mit bereits stattgefundenen Textlektüren, welche eine »Rezeptionsgeschichte als eine Geschichte der misreadings« begründen soll.42 Auf das Problem einer Lektüre im Zeichen der Dekonstruktion muss Kebbel jedoch selbst hinweisen: »Die Dekonstruktion kann den Prozeß des Mißverstehens nicht beenden: Sie kann ihn nur über die Reflexion zu einem anderen Status im kritischen Bewußtsein verhelfen.«43 Neben diesem methodologischen Problem, das Kebbel stellvertretend für jede dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit Texten formuliert, macht es seine reduzierte und kaum systematische Auswahl an Primärtexten (die sich auf Romane Scotts, Brechts und Pynchons beschränkt) unmöglich, über die jeweils spezifische Textpoetik hinaus tatsächlich repräsentative Aussagen für die gesamte Gattungsgeschichte zu formulieren. Hier liegt wohl der entscheidende Grund für die nur marginale Wirkungskraft des von Kebbel vorgeschlagenen Lektüremodells.

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