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4.2 Die Ethik der Geschichte

Die im Kontext und in der Folge des linguistic turn aufgeworfene Frage nach der Zuverlässigkeit historischer Narration und die poststrukturalistische Skepsis im Bezug auf außerhalb des Textes liegende historische Referenten führen am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Standortbestimmung historischen Erzählens, die, darauf wurde bereits hingewiesen, nicht allein methodische, sondern explizit ethische Positionen verhandelt. Verantwortlich dafür ist insbesondere die neu bewertete Figur des Historikers bzw. des Historiografen, der nun nicht mehr als ›Schreiber‹ der Geschichte, sondern als ›Interpret‹, wenn nicht gar als ›Erfinder‹ der Geschichte vorausgesetzt wird. Aus dieser Prämisse resultiert die Diskussion um die Verantwortung des Historikers seinem historischen Sujet gegenüber: Angesichts seiner subjektiven Einflussnahme auf die von ihm vermittelten historischen Fakten avanciert die Geschichtsschreibung zu einer Herausforderung, die im Hinblick auf darin implizierte Prozesse der Selektion, auf die narrative ›Aufbereitung‹ der Fakten sowie die Anpassung auf ein in der Gegenwart verortetes Rezipientenbild (den potenziellen Leser) nun auch ethisch begründet ist.

Andererseits versteht sich der Eingang spezifisch ethischer Fragestellungen in die Diskussion um die narrativen wie fiktionalen Implikationen der Historiografie als unmittelbare Reaktion auf die oben skizzierten postmodernen Zweifel an der epistemologischen Bedeutung der Geschichte. Diese nämlich sorgen dafür, dass sich ethische Fragestellungen gerade nicht mit dem Geschichtsbegriff des 21. Jahrhunderts verbinden, sondern ethischen Überlegungen manchenorts eine radikale Absage erteilt wird.

4.2.1 Ende der Geschichte – Ende der Ethik?

Mit der Postmoderne ist, will man Keith Jenkins glauben, nicht nur das Ende der Geschichte, sondern auch das der Ethik erreicht. Dieses Ende leistet mit Jenkins einem Neuanfang Vorschub, der, befreit vom Korsett der Geschichte und damit einhergehender ethischer Normen, zu einem Zustand neuer Entscheidungsfreiheit führt. So jedenfalls lautet die Hoffnung, die Jenkins in seiner programmatischen Studie zum Thema enthusiastisch stark macht:

[T]his book is not just an argument against modernist histories but also a welcoming of the collapse of ethical certainties, because that allows us to embrace a radically undecidable morality that is ultimately relativistic, and thus open up new possibilities.1

Der Abschied von der Ethik stößt bei Kritikern des Jenkins’schen Postmoderne-Konzepts auf ähnlich scharfe Kritik wie sein Abgesang auf die Geschichte. Jenkins und seine Mitstreiter müssen sich dem Vorwurf stellen, dass der von ihnen postulierte postmoderne Relativismus und generelle Skeptizismus zur Legitimation einer jeglicher Verantwortung enthobenen Geschichtsschreibung wie Geschichtswissenschaft führe, die Historik damit, da die Geschichte als solche ohnehin nicht mehr zur Verfügung stünde, weder fachspezifischen Regeln noch moralischen Wertvorstellungen mehr unterliege.

Jenkins relativiert die Radikalität seiner Aussagen insofern, als das Verschwinden der Ethik bei ihm mit einer Aufwertung der Moral einhergeht: »So my argument is that we are now in a situation where we can (and do) live outside of ›ethics‹ but in ›morality‹«.2 Diese Differenzierung zwischen Ethik und Moral entwickelt Jenkins unter Rückgriff auf Derrida, wobei er in einer recht frei anmutenden Aneignung dessen Begriff des vorgegebenen Regelsystems, auf das sich eine Entscheidung beruft, als »ethical system« oder schlicht »ethics« begreift und Derridas Terminus der freien, verantwortlichen Entscheidung unter den Begriff der Moral fasst.3

Derrida seinerseits macht in seinem zentralen Text zur Gesetzeskraft jegliche ethischen Entscheidungen und Verantwortungen abhängig von Strukturen der Unentscheidbarkeit, die diesen zugrunde liegen müssen. Moralisch und verantwortlich könne, so Derrida, nur ein freies Individuum agieren: »Wenn ein Wesen nicht frei ist, wenn es bei dieser oder jener Tat sich nicht frei verhält, sagen wir wohl kaum, daß seine Entscheidung gerecht oder ungerecht ist.«4 Gerechtigkeit kann jedoch nicht allein heißen, sich an bestehenden Regeln und Gesetzen zu orientieren, sondern muss zugleich darüber hinausgehen, ansonsten wäre der Richter mit Derrida nichts anderes als eine »Rechenmaschine«.5 Eine gerechte Entscheidung impliziere damit, hier greift Derrida auf einen Begriff Stanley Fishs zurück, ein ›fresh judment‹:

Dieses »fresh judgment« kann mit einem bereits vorgegebenen Gesetz übereinstimmen, es muß und soll damit wahrhaft übereinstimmen; doch die Deutung, die wieder eine Gründung, die wieder eine Erfindung, die ein frei Entscheidendes ist und in der Verantwortung des Richters steht, ja über dessen Verantwortlichkeit entscheidet, erfordert, daß ihre »Gerechtigkeit« nicht nur in der Übereinstimmung, in der erhaltenden und reproduzierenden Wirksamkeit des Urteils besteht. Kurz: damit eine Entscheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muß sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, […] einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen.6

Eben hier knüpft Jenkins an und macht, Derrida vermeintlich folgend, die Unentscheidbarkeit zur Basis jeder moralischen Entscheidung (so übersetzt er die »freie« und später »gerechte« Entscheidung Derridas, der selbst den Begriff der Moral hier ausdrücklich vermeidet).7 Mit dieser Deutung jedoch reduziert Jenkins die Argumentation des französischen Philosophen entscheidend und ignoriert das durch ihn aufgeworfene Paradox, welches gerade darin besteht, dass eine freie Entscheidung sowohl das Unentscheidbare wie auch vorgegebene Regeln braucht.8 Eine Entscheidung, die sich jeder Regel entzieht, ist mit Derrida weder frei noch moralisch und insofern irrt Jenkins’, wenn er schlussfolgert: »A moral decision thus escapes any and every rule; the decision has to be grounded only in itself, in its own singularity.«9 Tatsächlich denkt Jenkins das von Derrida aufgeworfene Problem nicht mit: Denn im Moment ihres Ereignens wird aus dem Einzelfall der freien Entscheidung unweigerlich wieder die Regel, so dass die eigentliche Schlusserkenntnis Derridas wie folgt lautet:

Aus diesem Paradox folgt, daß man niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgend jemand sind gerecht (das heißt frei und verantwortlich); und noch weniger: »ich bin gerecht«.10

Das mit dem Ende der Geschichte einhergehende Ende der Ethik und die Geburt der Moral im Moment des Unentscheidbaren wird von Jenkins mit Bezug auf Derrida als Befreiungsschlag begrüßt, der sich von der Last des Tradierten löse, konventionelle Binäroppositionen unterlaufe und die Mündigkeit des Subjekts verspreche. Überzeugen kann diese Derrida-Lektüre nicht, da sie zentrale Begriffe des Franzosen instrumentalisiert und ihrem Zweck entfremdet. Derrida selbst unterstreicht in aller Deutlichkeit: Kaum hat sich die freie Entscheidung der »Prüfung des Unentscheidbaren« unterzogen, hat sie erneut nach Regeln gehandelt, möglicherweise neu aufgestellten, damit zugleich nicht verbürgten, oder sie befolgt wiederum vorgegebene Regeln, die ihrerseits die Freiheit der Entscheidung beeinträchtigen. Damit gibt es mit Derrida kein Entrinnen aus dem moralischen Paradox – eine gerechte Entscheidung ist bereits im Moment ihres Ereignens keine mehr.11

Aus der Erkenntnis, dass ethische Entscheidungen übergeordnete Gesetzmäßigkeiten benötigen und gleichzeitig ohne sie auskommen müssen, ergibt sich Derridas Kritik an der Ethik – die jedoch keineswegs mit einem Abschied von der Ethik gleichzusetzen ist. Derrida selbst bekräftigt 1994 in einem Interview die »ethisch-politische[n] Bejahung«, die sein eigenes Denken seit jeher grundiere.12 Allerdings weist er herkömmliche Auffassungen der Ethik entschieden zurück und begreift dieselbe als Hoffnung auf ein künftiges, noch nicht eingelöstes Denkmodell, das nicht zuletzt mithilfe dekonstruktivistischer Methoden erreicht werden soll:

Zunächst möchte ich unterstreichen, daß die Dekonstruktion weit davon entfernt ist, der amoralische oder unethische Nihilismus zu sein, als der sie oft dargestellt wird. Die Dekonstruktion ist ein affirmatives Denken einer möglichen Ethik, eines Engagements jenseits der Technik des Kalkulierbaren. Die Sorge um die Verantwortlichkeit steht im Zentrum der dekonstruktiven Erfahrung.13

Die vielfach konstatierte ethische Wende in Derridas Denken sowie innerhalb dekonstruktivistischer Theorien grundsätzlich versteht sich als Ansatz, der sich nicht einer schlichten Neukonstitution des Begriffes verschreibt, sondern der, in Anlehnung an den französischen Philosophen Emmanuel Lévinas, nach den Bedingungen fragt, unter denen Ethik überhaupt möglich wird.14

Mit Emmanuel Lévinas ist der zentrale Einfluss bezeichnet, der Derridas ›ethische‹ Überlegungen nachhaltig prägt und der mit der Figur des Anderen eine neue Ethik begründet, die Derrida in seinem Nachruf auf Lévinas emphatisch feiert:

Already, well beyond France and Europe […] the reverberations of this thought will have changed the course of the philosophical reflection of our time and of the reflection on philosophy, on that which orders it according to ethics, according to another thought of ethics, responsibility, justice, the state, and so on, another thought of the other, a thought that is newer than so many novelties because it is ordered to the absolute anteriority of the face of the Other.15

Die Figur des Anderen ist es, welche die dekonstruktivische »Idee einer unendlichen Gerechtigkeit« denken lässt, die sich nicht auf übergeordnete Regeln und Gesetzmäßigkeiten reduzieren lässt, sondern stets vom Anderen aus entworfen werden muss.16 Das Denken eines absolut Anderen ermöglicht eine ethische Erfahrung, die Gerechtigkeit als Zukunftsvision etabliert – mit ihm ist keineswegs das Ende der Ethik erreicht, sondern wird, ganz im Gegenteil, eine ethische Wende eingeleitet.

 

4.2.2 Ethische Wende – ethical turn

Tatsächlich zeigt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass sich das durch postmoderne Vertreter wie Keith Jenkins ausgerufene »Ende der Ethik«, keineswegs bewahrheitet – vielmehr finden ethische Fragestellungen verstärkt Einzug in die Geisteswissenschaften. Das postmoderne ›anything goes‹ führt den pluralistischen und relativistischen Tendenzen zum Trotz zu einer selbstreflexiven Auseinandersetzung mit dem Gehalt der einzelnen Wissenschaften und ihrer spezifischen Aussagekraft.1 Selbst überzeugte Theoretiker der Postmoderne, wie der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch, unterstreichen die immer auch ethische Komponente der Postmoderne: »Die Postmoderne ist von ihrem ganzen Ansatz her ethisch grundiert. Sie tritt mit Entschiedenheit für das Eigenrecht der unterschiedlichen Orientierungen und Lebensformen ein.«2 Mit Welsch führen die pluralistischen Tendenzen unweigerlich zu einer Akzeptanz des Differenten und zur Einsicht in das Recht des Anderen. Postmoderne Ethik im Sinne Welschs bedeutet dann erstens »die Wahrnehmung der eigenen Begrenztheit und […] Anerkennung des Anderen«. Zweitens resultiere daraus ein besseres Verständnis für »die Schlüssigkeit ihrer [der Anderen, S.C.] Forderungen und Argumentationen, aber auch Adäquanz ihrer eventuell ungewohnten oder anstößigen Äußerungsformen.«3

Die Denkfigur des Anderen lässt sich als die entscheidende Schnittstelle lesen, an der sich ethische Neupositionierungen und kulturwissenschaftliche Ansätze treffen. Ethical turn und cultural turn begegnen sich in ihrer gemeinsamen Fokussierung auf Figurationen des Anderen, des Dritten sowie insbesondere auf das im Kontext hegemonialer wie logozentrischer Repräsentationen nicht mehr Repräsentierte. Mit Levinas und seiner Rezeption durch Derrida wird innerhalb der (politischen Philosophie) eine auf ethische und moralphilosophische Fragestellungen fußende Diskussion angestoßen, die eine Innovation versprechende Brücke zwischen dekonstruktivistischen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen errichtet.4 Im Mittelpunkt der ethischen Position Levinas steht die asymmetrische, nicht-reziproke Beziehung zwischen dem Ich und einem Anderen, dessen als grundsätzlich gedachte Anwesenheit das Ethische erst hervorbringt:

Die Begegnung mit dem Anderen ist die bedeutende Erfahrung oder das bedeutende Ereignis schlechthin. Die Begegnung mit dem Anderen lässt sich nicht auf den Erwerb eines zusätzlichen Wissens reduzieren. Ich kann den Anderen niemals vollständig erfassen, gewiss, doch die Verantwortung ihm gegenüber, in der die Sprache und auch die Gemeinschaft mit ihm ihren Ursprung nimmt, übersteigt selbst das Wissen, auch wenn unsere griechischen Lehrer diesbezüglich vorsichtig geblieben sind.5

Damit avanciert der Andere zum einzig möglichen Korrektiv des Selbst, erst durch die Begegnung mit ihm werden Prozesse der Selbstreflexion angeregt, die Grundpfeiler des Levinas’schen Ethikverständnisses bilden:

Eine Infragestellung des Selben – die im Rahmen der egoistischen Spontaneität des Selben unmöglich ist – geschieht durch den Anderen. Diese Infragestellung meiner Spontaneität durch die Gegenwart des Anderen heißt Ethik.6

Ausgehend von der als ursprünglich begriffenen Präsenz des Anderen und dem Ort, an dem sie erfahrbar wird, dem »Antlitz«, begreift Levinas Ethik als die »Anerkennung der Heiligkeit« – und meint mit »Heiligkeit« die Sorge für den Anderen, die über die Sorge um sich selbst siege. Erst über die Akzeptanz dieses Vorrangs des Anderen definiert sich »Menschlichkeit« und kann eine »Liebe zum Anderen« entstehen, die »geistiger ist als die Wissenschaft«.7

Die Sorge um den Anderen im Sinne Levinas’ lässt sich leicht zu jener Kritik am Ethnozentrismus weiterdenken, wie sie in postkolonialen Positionen formuliert wird. Tatsächlich radikalisieren Levinas’ Überlegungen die postkoloniale Kritik – auch wenn sein Plädoyer für die ethisch grundierte Besinnung auf den Anderen weniger aus einer Auseinandersetzung mit eurozentrischen Vereinnahmungen als in seinen biografischen Erfahrungen als Überlebender des Holocausts begründet liegt.8 Postkoloniale Theoretiker wie Homi K. Bhaba beziehen sich ausdrücklich auf Levinas’ ethische Begründung des ›Anderen‹, etwa dort, wo sie Figurationen oder Orte des Dritten (third space) entwerfen, mit denen hegemoniale Ordnungen nachhaltig gestört werden sollen.9

Perspektiven des Anderen (Levinas) oder des Dritten (Bhaba) sind es, welche den Einzug ethischer Fragestellungen in die Geschichtswissenschaft nach sich ziehen. Beispielhaft liest sich in diesem Zusammenhang die im Jahr 2002 veröffentlichte Studie Jörn Rüsens, Geschichte im Kulturprozeß, die das historische Denken von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart beleuchtet. Der dritte und letzte Teil der Untersuchung setzt sich mit Fragen der »Identität und [des] Anderssein[s] im Spiegel der Geschichte« auseinander und verhandelt dabei die Kritik an ethnozentrischen Vereinnahmungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ebenso wie die Aufgaben einer »interkulturellen Kommunikation«, die mit Rüsen, »das Gebot der Stunde im Bereich der Geschichtskultur« darstellt.10 Die ethische Herausforderung der Geschichte liegt Rüsen zufolge darin, ihre Rolle jenseits aller postmodernen Einwände als »Medium des Selbstverständnisses, der Artikulation und Hervorbringung der eigenen (personalen und sozialen) Identität und der Konzipierung des Andersseins des Anderen außerhalb und innerhalb des Lebensraums der eigenen Gruppe«11 ernst zu nehmen – zugleich aber auch sich der daraus resultierenden Verantwortung zu stellen. Diese meint ein Nachdenken über neue Formen der »Meistererzählungen des Westens« – deren Gültigkeit Rüsen allein aufgrund ihrer ethnozentrischen Implikationen und keineswegs in Übereinstimmung mit der postmodernen These vom Ende der Geschichte einschränkt. Das Wissen um die identitätsstiftende Funktion der Geschichte lässt ihn mit Nachdruck am Fortbestehen historischer Meistererzählungen festhalten, weil es ohne sie, so Rüsen, »keine kulturelle Identität« gebe.12 Angesichts eines historischen Denkens aber, das »zutiefst ethnozentrisch« sei, liege die Herausforderung einer ethischen Prinzipien unterstellten Geschichte bzw. Geschichtsschreibung gerade darin begründet, neue Erzählungen zu formulieren, »die sagen können, wer wir jetzt sind, da wir das nicht bleiben können und wollen, was wir einmal waren.«13 Merkmal dieser neuen Meistererzählungen müsse eine Haltung sein, die sich dem Anderen nicht mehr aus der Sichtweise der eigenen Kultur nähert, sondern Geschichte ausschließlich als Konglomerat unterschiedlicher Perspektiven begreift, welche auch da, wo sie sich zu widersprechen scheinen, »keine Schmälerung, sondern eine Bekräftigung von Wahrheit ist.«14

Insgesamt macht sich der ethical turn in der Geschichtswissenschaft im Versuch bemerkbar, radikale postmoderne Ansätze mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Historik zu versöhnen.15 So wird nun die bereits von Carr hervorgehobene Subjektivität des Historikers sowohl beim Blick auf die res gestae wie auch beim Verfassen der Geschichte, der historia rerum gestarum in Bezug auf ihre ethischen Implikationen untersucht. Führte man die in historischen Texten zwangsläufig enthaltenen moralischen Urteile lange Zeit als Argument gegen die Wissenschaftlichkeit von Geschichte an, erfolgte in den letzten Jahren eine Neubewertung dieser moralischen Dimension historiografischer Tätigkeit, etwa durch Frank Ankersmit. Der niederländische Geschichtstheoretiker fordert nicht nur mit Nachdruck die Subjektivität des Historikers ein, sondern unterstreicht die handlungs- und erkenntnisleitende Relevanz ethischer Positionen in historischen Texten:

[A] historical writing that has successfully eliminated all traces of moral and political standards from itself can no longer be of any help to us in our crucial effort to distinguish between good and bad moral and political values. Having knowledge of the past surely is one thing; but it is perhaps no less important to know what ethical and political values we should cherish. So both our insight into the past and our orientation in the present and towards the future would be most seriously impaired by a historical writing which tries […] to avoid all moral and political standards.16

Der hier zitierte Text Ankersmits aus dem 2004 erschienenen Herausgeberband The Ethics of History dokumentiert ebenso wie der im gleichen Band veröffentlichte Beitrag Jörn Rüsens zur ethischen Dimension der historiografischen Tätigkeit, wie sehr ethische Fragen an die Geschichte und Geschichtswissenschaft mit einer neuen Aufmerksamkeit für die Figur des Historikers wie Historiografen verknüpft sind.17 Für Jörn Rüsen sind diese Fragen zudem der Ausgangspunkt für sein Modell historischer Vernunft und Verantwortung, das er, wie im Nachfolgenden zu zeigen ist (vgl. Kap. 4.2.5), dem postmodernen Abschied von der Geschichte entgegensetzt.

4.2.3 Den Holocaust erzählen

Die unbestritten nachhaltigste Brisanz entwickelt die Diskussion um die ethische Wende in der Geschichtswissenschaft im Kontext der Frage nach der historischen Aufarbeitung des Holocausts. Diese Diskussion wird ungleich deutlicher unter internationalen Vertretern des Faches ausgetragen, da in Deutschland, aus naheliegenden Gründen, die postmodernen Stimmen zur Unverfügbarkeit der nationalen Geschichte spürbar verhaltener ausfallen:

In the discourse of the defenders of history as a reconstructive enterprise, the gas chambers constitute a fixed point of reference for the assessment of historiographical theories in the face of the uncertainties introduced by the linguistic turn.1

Richard J. Evans geht in diesem Zusammenhang so weit, das postmoderne »intellektuelle Klima« als (wenngleich unfreiwilligen) Katalysator für die seit Mitte der 70er Jahre zunehmenden Aktivitäten der Holocaust-Leugner zu bewerten. Insbesondere in den USA werde, so Evans, der postmoderne Relativismus häufig instrumentalisiert, um propagandistischen Bemühungen um eine Revision der nationalsozialistischen Geschichte Vorschub zu leisten.2

Der israelische Historiker Omer Bartov, einer der profiliertesten Forscher zum deutschen Nationalsozialismus, insbesondere zur deutschen Wehrmacht, problematisiert wie Evans die postmoderne Negierung historischer ›Wahrheit‹ und verlangt von seinen Historiker-Kollegen, sich ihrer moralischen Verantwortung im Kontext der historiografischen Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes zu stellen. In diesem Kontext fordert er, die postmodernen Theorien im Lichte dieser Verantwortung neu zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren:

But a murder has taken place; we did not construct it in our imagination. In that sense, it is not relative. […] The historian cannot escape the responsibility of acting as judge in this context. […] Perhaps what we believed to be interesting, intellectually stimulating, even playful, when applied to an extreme case proves to be morally dubious. And then, perhaps, we should admit that we had made an error, and that if our theory does not work here, it can no longer be called a theory, and might have to be discarded, or at least radically modified.3

In Deutschland, wo die Kontroverse zwischen postmodernen und modernen Historikern leiser und mit größerer Kompromissbereitschaft ausfällt, wird mit Blick auf historische Darstellungen des Holocausts die Frage nach ihrer Referenzialität eher vorsichtig gestellt – mit Nachdruck hingegen die Frage nach ihrer narrativen Darstellbarkeit im Grenzraum von Dichtung und Historiografie. Bezeichnend für die ungebrochene Aktualität der Debatte sind etwa die Beiträge und Diskussionen im Rahmen des 2011 vom Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts veranstalteten Symposiums Den Holocaust erzählen. Mit Hayden White, Saul Friedländer, Christopher R. Browning und Dan Diner sind in Jena einige der Protagonisten zugegen, die bereits 20 Jahre zuvor in Los Angeles zusammengekommen waren, um die Möglichkeit, den Holocaust (fiktional wie faktual) darzustellen, kritisch und äußerst kontrovers zu diskutieren.4 Insbesondere zwischen Friedländer und White entflammt während des kalifornischen Kolloquiums eine Kontroverse um die These des Amerikaners, dass kein historisches Ereignis über das Medium der Sprache objektiv zur Verfügung stehe, sondern im Rahmen eines historisch-faktualen Textes als Interpretation der Wirklichkeit und damit als fiktionaler Text gelesen werden müsse. Friedländer problematisiert die relativistische Geschichtsauffassung Whites aus epistemologischer wie ethischer Perspektive, da sie die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des Holocausts letztlich bestreite.5 Als Relativierung seiner früheren, als postmodern gekennzeichneten Position wertet Friedländer hingegen Whites eigenen Beitrag in Los Angeles, in dem jener aller Skepsis zum Trotz das Modell einer historiografischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus entwickelt, das sich am literarischen Stil der Moderne orientieren und gleichzeitig auf eine realistische Schreibweise, wie White sie als typisch für sowohl die Literatur als auch die Historiografie des 19. Jahrhunderts wertete, verzichten müsse.6

 

20 Jahre nach dieser Ausgangsdiskussion bekräftigt White in Jena seine Position erneut und plädiert für einen an der literarischen Moderne orientierten Darstellungsstil des Holocausts, wie er ihn ausgerechnet in Saul Friedländers zweibändiger Studie Nazi Germany and the Jews wiederzufinden glaubt.7 Unmittelbar vor Whites Tagungssbeitrag stellt Wulf Kansteiner in seinem Eröffnungsvortrag die These auf, dass der 2006 erschienene zweite Band des Friedländer’schen Monumentalwerks, The Years of Extermination, die theoretischen Prämissen Whites geradezu praktisch einlöse – eine Auffassung, die Kansteiner bereits zuvor in einem Interview öffentlich gemacht hat:

Meiner Ansicht nach geht Friedländer ein Stück weit in Richtung der Dekonstruktion der wichtigsten Grundelemente geschichtswissenschaftlichen Erzählens. Und das ist Zeit, Raum und Kausalität. Und er schafft durch eine komplexe literarische erzählte Welt Widersprüche in diesen Grundparametern historiografischen Erzählens, die – das ist der Clou an seinem Schreiben – die den Leser ein Stück weit in die Gefühlswelt der Opfer des Holocaust hineinversetzen soll. Das heißt, Zeit und Ort ist so konstruiert, so unübersichtlich, so verstörend zum Teil, dass der Leser ein Echo der Ängste, der Befürchtungen der Opfer erleben kann. 8

Tatsächlich verwehrt sich Friedländer im Rahmen der auf die Beiträge folgenden Diskussion dieser Vereinnahmung seiner historiografischen Studie durch Whites narratives Modell und spricht sich ausdrücklich gegen eine Einebnung der Grenze zwischen literarischem und historiografischem Erzählen aus.9 Friedländers Projekt einer »integrierten Geschichte des Holocausts« geht es zwar um eine Fokussierung auf die Opferperspektive innerhalb der Geschichtserzählung, keineswegs aber um deren Ästhetisierung mittels literarischer Stilmittel. Sein Misstrauen einer Historiografie gegenüber, die sich zur »Lust am geschichtlichen Erzählen« bekennt, äußert Friedländer wiederholt – nicht zuletzt in seinem Briefwechsel mit Martin Broszat zur Historisierung des Nationalsozialismus, in welchem Friedländer betont, dass seiner Auffassung nach »die Möglichkeiten historischer Erzählung in Bezug auf den Nationalsozialismus eher begrenzt sind.«10 (vgl. dazu Kap. 8.3)

Die Diskussion zwischen den Teilnehmern des Jenaer Symposions dokumentiert insgesamt, auch im Vergleich mit der 20 Jahre zuvor stattgefundenen Begegnung in Los Angeles, das anhaltende Ringen um die Positionierung der Historiografie zwischen Fakten und Fiktion – und zeigt, dass die Auseinandersetzung gerade angesichts der Frage nach der Darstellbarkeit des Holocausts schwerlich eindeutige Antworten finden kann. Diese Uneindeutigkeit bezieht sich allein auf die durch den linguistic turn angestoßene Frage nach der Narrativität der Geschichte – nicht aber auf die postmoderne Absage an die historischen Fakten als einer jenseits des Textes verorteten Referenzebene der Geschichtserzählung. An dieser muss, gerade unter Berücksichtigung ethisch begründeter Ansprüche und insbesondere mit Blick auf das Erzählen des Holocausts festgehalten werden: Die Frage nach der Verantwortung des Historikers für die von ihm (re-)konstruierte Geschichte erhält moralische Bedeutung nur dort, wo ihr Bezug auf die Vergangenheit, ihr gegenwärtiges Wirkungspotenzial sowie ihre handlungsleitende Richtlinie für die Zukunft an einer historischen Wahrheit gemessen wird, die ohne die Annahme von Fakten, die dem historischen Text vorausgehen, keinen Sinn macht.

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