Geschichte im Text

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Ich bin im Unterschied zu jenen, die man als Strukturalisten bezeichnet, nicht so sehr an den formalen Möglichkeiten eines Systems wie der Sprache interessiert. Mich persönlich reizt vielmehr die Existenz der Diskurse, die Tatsache, daß Äußerungen getan worden sind, daß solche Ereignisse in einem Zusammenhang mit ihrer Ursprungssituation gestanden haben, daß sie fortbestehen und mit ihrem Fortbestand innerhalb der Geschichte eine Reihe von manifesten oder verborgenen Wirkungen ausüben.20

Entsprechend distanziert Foucault in Archäologie des Wissens sein diskursanalytisches Konzept explizit von der bloßen »Übertragung einer strukturalistischen Methode […] auf das Gebiet der Geschichte und insbesondere der Geschichte der Erkenntnisse.«21 Stattdessen profiliert Foucault eine Analysemethode, die nicht den linearen Verlauf der Geschichte, sondern die Gleichzeitigkeit (Häufung) diskursiver Formationen untersucht – ein Verfahren, das er selbst als »den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren«22 bezeichnet; augenzwinkernd erfolgt eben hier die Selbstausweisung Foucaults als »glücklicher Positivist«.23 Dabei geht Foucault von der Vorstellung eines positiv zu bestimmenden diskursiven Feldes aus, als »die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind.«24 Damit stellt die Diskursanalyse, die sich auf endliche und bestimmbare Mengen von Aussagen konzentriert, grundsätzlich andere Fragen als die sich auf ein »beliebiges« diskursives Faktum beziehende strukturalistische Sprachanalyse:

[G]emäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere ähnliche Aussagen konstruiert werden? Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?25

Whites Einsicht, der »versteckte Protagonist« der frühen Schriften Foucaults sei die Sprache, greift folglich ebenso wie seine Analyse Foucaults als »eschatologischen Strukturalisten«, für den »das ganze menschliche Leben als ein ›Text‹ zu behandeln« sei, zu kurz.26 Die Vereinnahmung Whites erklärt sich aus seinem Bemühen, Foucault als Verwandten Giambattista Vicos zu deuten, da er »eine ähnliche Art tropologischer Reduktion« in Foucaults Analyse der humanwissenschaftlichen Archäologie vorzufinden glaubt. Mit dieser Erkenntnis sieht White sich legitimiert, Foucault seine eigene These einer »Poetik der Geschichte« zuschreiben zu können, so dass er schlussfolgert:

Die Prosa in Dichtung umzuwandeln ist Foucaults Absicht und so geht es ihm vor allem darum zu zeigen, wie alle Denksysteme in den Humanwissenschaften als wenig mehr denn als terminologische Formalisierungen des poetischen Sich-Arrangierens mit der Welt der Wörter statt mit den Dingen, die sie zu repräsentieren und zu erklären behaupten, gesehen werden können.27

Eine solche Reduktion der Thesen Foucaults, wie White sie exemplarisch vorführt, ist, wie wir gesehen haben, mit Blick auf das eigentliche Ziel der Diskursanalyse, wie Foucault es in Archäologie des Wissens spezifiziert, freilich irreführend. Tatsächlich verweigert sich Foucaults Werk einer strengen Subsumierung unter den linguistic turn oder den Strukturalismus, da die von White gänzlich ausgesparte diskursive Praxis sukzessive eine größere Rolle einzunehmen scheint als die Sprache.28 Foucault schärft einen Diskursbegriff, der über eine rein sprachliche Dimension hinausgeht und die praktische Ebene des Handelns mit einbezieht. Unmissverständlich wird diese Ausweitung der sprachlichen Ebene, wenn Foucault es in Archäologie des Wissens nicht als seine primäre Aufgabe begreift,

die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben.29

Mit der Diskursanalyse schreibt Foucault Geschichte neu, schreibt sie – indem er das nicht Ausgesprochene, die den Diskurs steuernden »Ausschließungssysteme«30 in den Blick nimmt – von ihren Rändern her. Das ist der lose historiografische Faden, der sein frühes Werk mit dem späten verbindet. Damit bleibt Foucault trotz seines Denkens, »das uneinheitlich war und unruhig war, das Widersprüche oder zumindest konzeptionelle Spannungen zuließ und das sich auch ständig veränderte, ohne seine Grundlinien zu verlassen«,31 dem Leitsatz seiner frühen Veröffentlichung Wahnsinn und Gesellschaft treu, in der es heißt:

Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte; […] Eine Kultur über ihre Grenzerfahrungen zu befragen, heißt, sie an den Grenzen der Geschichte über eine Absplitterung, die wie die Geburt ihrer Geschichte ist, zu befragen.32

Es bleibt zentrales Anliegen Foucaults, die gesellschafts- und wertkonstituierenden Institutionen wie Praktiken der Macht sowie deren Ausschließungsmechanismen (Wahnsinn, Krankheit, Tod, Sexualitätsdiskurs, Anomalie, Gefängnis) ins Auge zu fassen, die er allesamt als Resultat einer dialektisch verstandenen Aufklärung begreift. Dem Nachvollziehen dieser »Geschichte über eine Absplitterung« verpflichtet sich Foucault, wenn er in Wahnsinn und Gesellschaft der Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft nachgeht, in Die Anormalen das Aufkommen von ›Normalisierungstechniken‹ und die von ihnen Ausgeschlossenen untersucht oder in Der Wille zum Wissen die »polymorphen Techniken der Macht« des abendländischen Diskurses über die Sexualität herausstellt.

Nicht zufällig zitiert Philipp Sarasin in seinem Essay zur ›Zukunftsträchtigkeit‹ Foucaults aus einem Artikel, den Foucault 1979 mit Blick auf die iranische Revolution der Jahre 1978/79 verfasst. Darin beschreibt Foucault die geschichtsmächtige Kraft jener Stimmen, die sich vom Rande der Gesellschaft und gegen die Machtinstanzen, die sie als Ausgeschlossene (Strafgefangene, Irre, unterdrücktes Volk) erst produzieren, erheben. Warum nun ist, mit Foucault, das Vernehmen dieser Stimmen so wesentlich?

Niemand muss glauben, diese wirren Stimmen sängen schöner als andere und sagten die letztgültige Wahrheit. Es genügt, dass sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen. Eine Frage der Moral? Ganz sicher eine Frage der Realität. Daran ändern auch all die Enttäuschungen der Geschichte nichts. Weil es solche Stimmen gibt, hat die Zeit des Menschen nicht die Form der Evolution, sondern die der ›Geschichte‹.33

Indem Foucault darauf beharrt, Geschichte unter Berücksichtigung dieser Stimmen zu schreiben und zu verstehen, weil sie, mit Sarasin, »die Wirklichkeit prägen und weil sich in ihnen Subjekte manifestieren«,34 erweist er sich längst nicht als jener »Verleugner der Geschichte und Verächter des Subjekts«, auf den ihn Kritiker reduzieren.35 Vielmehr nimmt Foucault, obgleich er die historische Metaerzählung, allen voran jene der Aufklärung, ablehnt, die Geschichte ernst, nicht als lineare, dem Fortschritt verpflichtete kohärente Entwicklung, sondern mit ihren Widersprüchen, Rückfällen, Zäsuren – und in der Gleichzeitigkeit von Disparatem, Zufälligem und Ähnlichem. Das Werkzeug, eine solche Geschichte aufzuschlüsseln, liefert er mit der Diskursanalyse und bereitet damit den Boden für jenen theoretischen Ansatz, der den narrativen Charakter der Geschichte mit der historischen Bedingtheit des Textes verbinden wird – dem New Historicism.

3.4 Vom New Historicism zur historischen Kulturwissenschaft

Der in den 1980er Jahren in den USA aufkommende Theorieansatz des New Historicism verschränkt Fragestellungen einer unter dem Signum der Postmoderne stehenden Literatur- wie Geschichtswissenschaft programmatisch. Zunächst scheint er von geringer Relevanz für die Geschichtswissenschaft zu sein, da er ausdrücklich als literaturwissenschaftliche Theorie bzw. Methode implementiert wird. Als entscheidendes Bindeglied zwischen einer poststrukturalistisch verstandenen Postmoderne und der kulturanthropologisch begründeten Auffassung von »Kultur als Text« erweist sich der New Historicism insofern als interdisziplinärer Schnittpunkt der Fächer Geschichte und Literaturwissenschaft, als er, über spezifische Fächergrenzen hinaus, kulturwissenschaftliche Perspektiven, mithin den cultural turn der 1990er Jahre, mitbegründet.

Die relevantesten theoretischen Voraussetzungen des New Historicism macht Louis Montroses programmatischer und vielzitierter Bestimmungsversuch des neuen Ansatzes sichtbar:

Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte, die jetzt in der Literaturwissenschaft aufkommt, kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte.1

Die erste hier angesprochene Prämisse von der Geschichtlichkeit der Texte ist vorrangig, Moritz Baßler hat darauf hingewiesen, im Kontext einer amerikanischen Literaturwissenschaft zu verstehen, die seit den 1930er Jahren eine verstärkt textimmanente Auseinandersetzungen mit literarischen Texten, ein so genanntes close reading bevorzugt, welches in Deutschland zur selben Zeit eine eher untergeordnete Rolle spielt.2 Hier ist das Wissen um die »Geschichtlichkeit von Texten« längst etabliert und bildet die Voraussetzung geistes-, ideologie- und sozialgeschichtlicher Ansätze, die den literarischen Text grundsätzlich nicht jenseits eines historischen Kontextes rezipieren, sondern ihn in Bezug zu außerliterarischen Wirklichkeiten setzen. Nachholbedarf besteht unter deutschsprachigen Literaturwissenschaftlern vielmehr (im Gegensatz zum theoretisch ›progressiveren‹ amerikanischen Raum) im Bezug auf die von Montrose konstatierte Textualität von Geschichte, die auf Ergebnisse der oben umrissenen poststrukturalistischen Debatte fußt, welche in Deutschland, so urteilt Baßler noch im Jahr 2001, »nach wie vor nicht den theoretischen Status quo« bezeichne.3

 

Mit ihren Thesen zur »Textualität von Geschichte« erweisen sich die Vertreter des New Historicism als klare Erben jener Ansätze, die im vorausgegangenen Kapitel beleuchtet wurden. Sie teilen Hayden Whites Überzeugung von der poetischen Beschaffenheit des historischen Textes und gehen mit Jean-François Lyotard vom postmodernen Ende dominanter Metaerzählungen aus – etwa tradierter Mythen, der aufklärerischen Erzählung von der kontinuierlichen Emanzipation des Menschen und einem vermeintlich logischen Fortschritt der Geschichte.4 Auch beerbt der New Historicism die Foucault’sche Skepsis hinsichtlich der Linearität der Geschichte und einer vermeintlich konsequent fortschrittlichen Vernunftentwicklung. Das geeignete Instrument für eine Auseinandersetzung mit Texten, die den oben zitierten Chiasmus ernst nimmt, finden New Historicists in der Foucault’schen Diskursanalyse, welche die diachron-historische Perspektive um den synchronen Schnitt durch das diskursive Feld ergänzt, da nun, mit Foucault,

an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen [tritt].5

Daneben erweisen sich die Prämissen der anglo-amerikanischen interpretativen Kulturanthropologie6 als entscheidender Einfluss, allen voran deren Vertreter Clifford Geertz und James Clifford. Legt Hayden White für die Analyse historischer Texte ein literaturwissenschaftliches Verfahren nahe, fordert dementsprechend der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz eine Sensibilisierung für den literarischen Charakter der Anthropologie sowie ein Verständnis des »Anthropologen als Schriftsteller«. Dieser wird nun nicht mehr als Vermittler empirisch nachweisbarer anthropologischer Details, sondern als Interpret einer Realität verstanden, die im Medium des anthropologischen Textes ausschließlich als vom Ethnologen bzw. Ethnografen bereits gedeutete begegnet.7 Dieses interpretative, immer schon reflektierende Beschreiben nennt Geertz thick description (dt. Dichte Beschreibung) und legt es als implizite (auch unbewusste) Strategie jedes ethnografischen Textes offen:

Dieser Sachverhalt – daß nämlich das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen – tritt in den fertigen Texten der ethnologischen Literatur […] nicht mehr zutage, weil das meiste dessen, was wir zum Verständnis eines bestimmten Ereignisses, Rituals, Brauchs, Gedankens oder was immer sonst brauchen, sich als Hintergrundinformation einschleicht, bevor die Sache selbst direkt untersucht wird.8

Das Resultat solcher dichten Beschreibungen bezeichnet James Clifford, im Unterschied zum Ethnologen Geertz selbst Historiker, als Halbwahrheiten (partial truths) – und hebt in seiner programmatischen Studie Writing Culture die Trennung zwischen Fiktion und ethnografischem Text vollends auf:

To call ethnographies fictions may raise empiricist hackles. But the word as commonly used in recent textual theory has lost its connotation of falsehood, of something merely opposed to truth. It suggests the partiality of cultural and historical truths, the ways they are systematic and exclusive. Ethnographic writings can properly be called fictions in the sense of »something made or fashioned,« the principal burden of the word’s Latin root, fingere. […] Ethnographic truths are thus inherently partial – committed and inclompete.9

Bei Clifford wie bei Geertz wird die Ethnologie im Kontext eines anthropologisch begründeten Kulturbegriffs ausgeweitet und in der Folge einer Semiotisierung unterworfen, die mit der Vorstellung einer empirischen, allein an naturwissenschaftlichen Gesetzen orientierten kulturanthropologischen Arbeit bricht.

Der Kulturbegriff, den ich vertrete und dessen Nützlichkeit ich in den folgenden Aufsätzen zeigen möchte, ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich die Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.10

Mit Blick auf den hier konstatierten grundsätzlich diskursiven Charakter anthropologischer Befunde und ethnografischer Texte lässt sich, in Anlehnung an die geschichtstheoretische Diskussion, ein ähnlicher Verlust ethnologischer Referenzialität für die Anthropologie konstatieren. Die Ethnografie verweist, darin historischen Aussagen ähnlich, nicht mehr auf eine materielle Wirklichkeit, die sie genau abzubilden in der Lage wäre. Vielmehr legen auch anthropologische Texte ihren Sinn immer erst »über eine lange Kette von Übersetzungsprozessen, über ihre zunehmende Aufladung mit wechselnden Symbolen und Bildern, über ihre Überlagerungen mit neuen Bedeutungsschichten«11 offen, lassen sich dabei nicht auf den Prozess der Interpretation reduzieren, sondern vergegenwärtigen, mit Doris Bachmann-Medick, »kollektiv verankerte Deutungsinstanzen und tragen als solche dazu bei, handlungsorientierte und gefühlsausbildende ›Konzepte‹ zu entwickeln.«12 Dieser interpretive turn der Kulturanthropologie mit seinem semiotisch grundierten, zugleich aber transdisziplinär ausgeweiteten Verständnis von »Kultur als Text« formuliert unterschiedlichste Ansprüche an eine neue Art der Auseinandersetzung mit kulturellen/ethnologischen Beschreibungen, die häufig an der Grenze zu literaturwissenschaftlichen Fragestellungen angesiedelt sind. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Ethnologie und Geschichtswissenschaft gleichermaßen von einer narrativen Wende geprägt sind, die das Selbstverständnis beider Disziplinen nachhaltig aufwühlt, gleichzeitig jedoch neue Formen sowohl der historischen/ethnografischen Repräsentation wie auch ihrer Interpretation hervorgerufen hat.

Der New Historicism, allen voran Stephen Greenblatt mit seinem Konzept einer »Poetik der Kultur«, setzt unmittelbar am semiotischen Kulturbegriff der angloamerikanischen interpretativen Kulturanthropologie an und überträgt deren Ansätze auf literaturwissenschaftliche Perspektiven. In welches Verhältnis treten Literatur und Geschichte im Zeichen des New Historicism? Zunächst einmal scheint der New Historicism mit dem traditionellen Historismus13 die historische Ausrichtung seines Interpretationsansatzes zu teilen. Greenblatt jedenfalls begründet sein Interesse an Shakespeares Werk gerade mit Verweis auf dessen extraliterarische Bezüge und grenzt sich damit klar von den streng textimmanenten Lektüren des New Criticism ab. Vordergründig scheint der New Historicism die Geschichte damit wieder in die Literatur, in die Literaturwissenschaft hineinzuholen, allerdings unter klaren poststrukturalistischen Prämissen. So heißt es etwa in der Einleitung zu Greenblatts programmatischstem Werk, Shakepearean Negotiations:

The question then was how did so much life get into the textual traces? Shakespeare’s plays, it seemed, had precipitated out of a sublime confrontation between a total artist and a totalizing society. […] The result of this confrontation between total artist and totalizing society was a set of unique, inexhaustible, and supremely powerful works of art.14

Hier bekundet Greenblatt zwar sein Interesse an der Geschichtlichkeit der Shakespeare’schen Texte, dennoch: In deutlicher Abgrenzung vom engeren, positivistisch geprägten Begriff des Historismus, der die historischen Fakten als Referenzbereich der Geschichtsschreibung voraussetzt, begreift Greenblatt den Geschichtsbegriff in seiner Textualität, der, ebenso wie der literarische Text, einer Interpretation bedarf und durch die Interpretation erst definiert wird. Greenblatt verortet den literarischen Text in einem Feld von »Resonanztexten«, die nicht einfach den historischen Hintergrund im Sinne sozialgeschichtlicher oder positivistischer Ansätze abbilden, sondern die ihrerseits ein Netz an intertextuellen Bezügen bilden, das in ein reziprokes Verhältnis mit literarischen Texten tritt:

Jeder dieser Texte wird als Brennpunkt konvergierender Kraftlinien der Kultur des 16. Jahrhunderts gesehen; ihre Bedeutung für uns liegt nicht darin, daß wir durch sie hindurch auf ihnen zugrundeliegende und vorausgehende historische Prinzipien sehen können, sondern vielmehr darin, daß wir das Wechselspiel zwischen ihren symbolischen Strukturen und denen, die in den Viten ihrer Autoren und der umfassenderen gesellschaftlichen Welt wahrnehmbar sind, interpretieren können als Konstituierung eines einzigen komplexen Selbstbildungsprozesses; denn über eine solche Interpretation kommen wir einem Verständnis näher, wie literarische und gesellschaftliche Identitäten in dieser Kultur geformt wurden.15

So werden die zur Lektüre literarischer Texte herangezogenen historischen Quellen oder andere Texte gemeinsam mit dem literarischen Text einem close reading unterworfen, das die intertextuellen Bezüge zwischen beiden aufdecken soll – ausgehend von dem Intertextualitätsbegriff Julia Kristevas, der den Text, über darin bewusst angelegte Verweise auf andere Texte hinaus, grundsätzlich als »Mosaik von Zitaten, […] Absorption und Transformation eines anderen Textes« versteht.16

In einem solchen Verfahren scheinen die Grenzen von Literatur und Geschichte, von literarischem Text und historischer Quelle erneut zu verwischen, gar bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander aufzugehen. Greenblatt selbst ist diese fehlende Trennschärfe bewusst, die insbesondere die spezifischen Merkmale des literarischen Textes einzuebnen droht. Daher beharrt er auf den Unterschieden zwischen literarischem Text und historischen bzw. kulturellem Kontext, wenn er an »den Implikationen künstlerischer Darstellung als einer besonderen menschlichen Aktivität«17 festhält, wobei zunächst unklar bleibt, was sich hinter dem Besonderen dieser »menschlichen Aktivität« verbirgt. Als Literaturwissenschaftler zeigt Greenblatt sich bemüht, an einer wenngleich eingeschränkten Autonomie des literarischen Texts festzuhalten, indem er einen Literaturbegriff formuliert, der Prämisse jeder Lektüre im Zeichen des New Historicism darstellen solle:

Literatur funktioniert innerhalb dieses Systems auf drei miteinander eng verbundene Weisen: als Manifestation des konkreten Verhaltens ihres jeweiligen Autors, als eigenständiger Ausdruck der verhaltensformenden Codes und als Reflexion auf diese Codes.18

Diese drei Funktionen müssen, so Greenblatt, unter allen Umständen gleichberechtigt ernst genommen werden, um nicht in einen autorfokussierten Biografismus, in sozial- bzw. ideologiegeschichtliche Ansätze oder auch poststrukturalistische Lektüren zu verfallen, die jeglichen Rekurs auf eine außersprachliche Einbettung des literarischen Textes verwerfen. Literatur rekonstruiert im Kontext des New Historicism nicht einfach den ihr zugrunde liegenden historischen Hintergrund, sondern konstituiert ihn in einer dem Medium eigenen Weise neu:

Es geschieht etwas mit Dingen, Überzeugungen und Praktiken, wenn sie in literarischen Texten dargestellt, neu imaginiert und inszeniert werden, etwas oft Unvorhersehbares und Beunruhigendes. Dieses »etwas« verweist sowohl auf die Macht der Kunst als auch auf das Eingebettetsein der Kultur in die historischen Kontingenzen.19

Dass die praktische Umsetzung dieses von Greenblatt formulierten Anspruches mitunter nicht leicht fällt, dokumentieren einige jener Interpretationen, die sich der neuhistoristischen Lektüre verpflichten – etwa Sabine Schütlings im Zeichen des New Historicism druchgeführte Auseinandersetzung mit »viktorianischen Verhandlungen urbaner Prostitution«.20 In Schütlings Studie wird zwischen den von ihr untersuchten literarischen Texten, theologischen, sozialwissenschaftlichen, medizinischen und anderen Studien nicht mehr differenziert, sondern diese werden in ihrer gemeinsamen Teilhabe an einer gesellschaftlichen Inszenierung der Prostituierten begriffen, die auf eine patriarchal bestimmte Machtausübung verweist Inwiefern Literatur innerhalb des zeitgenössischen Diskurses über Prostitution die mit Greenblatt »verhaltensformenden Codes« nicht nur bestätigt, sondern möglicherweise bereits kritisch reflektiert, kann der Beitrag nicht beantworten. Greenblatt selbst bestätigt spätestens mit seiner 2004 auf Deutsch veröffentlichten Shakespeare-Biografie Will in der Welt, wie schwer sich der von ihm propagierte New Historicism als Lektürepraxis (literarischer und nicht-literarischer Texte) umsetzen lässt, ohne entweder in eine biografistische Werkdeutung oder psychologisierende und mitunter spekulative Deutungsmuster zu verfallen. Mit einem close reading des literarischen Werkes und der historischen Quellen oder einem Ansatz, der intertextuelle, reziproke Verhandlungen zwischen beiden ernst nimmt, hat Greenblatts eigene Zielsetzung nur wenig zu tun:

 

Es [Das Buch, S.C.] verfolgt das Ziel, den wirklichen Menschen zu entdecken, der das wichtigste Korpus fiktionaler Literatur geschrieben hat, das in den letzten 1000 Jahren entstanden ist. Oder vielmehr sucht es, da der wirkliche Mensch wohldokumentiert und aktenkundig ist, die schattenhaften Wege zu beschreiten, die von dem Leben, das er führte, zu der Literatur hinleiten, die er schuf.21

Mit der Absicht, den »wirklichen Menschen« Shakespeare zu entdecken, fällt Greenblatt ebenso wie mit der Überzeugung, dass dieser »wohldokumentiert und aktenkundig« sei, hinter die Prämissen seines eigenen Ansatzes zurück, der einen zuverlässigen historischen Referenzbereich, mit Hayden White ebenso wie mit Clifford Geertz, in Frage stellt. Das Aufdecken intertextueller Bezüge gerinnt hier zu einer spekulativen Interpretation, die weniger ein sorgfältiges close reading als vielmehr die eigene Vorstellungskraft bemüht: »Und damit wir verstehen, wie Shakespeare seine Phantasie gebrauchte, um sein Leben in seine Kunst zu verwandeln, ist es wichtig, daß wir von unserer eigenen Phantasie Gebrauch machen.«22

Mit seinem Vorhaben, Shakespeares Werk aus Shakespeares Leben zu erklären, tappt der ›Erfinder‹ des New Historicism in die durch seinen Ansatz selbst gestellten Fallen – und hat wohl deshalb die Literaturkritik in ihrem Urteil über Greenblatts Studie zu ungewöhnlich harschen Tönen verleitet: »Derart grob ist der notorische Zirkelschluss des Biographismus wohl lange nicht mehr exerziert worden.«23

Insgesamt lässt sich feststellen, dass der New Historicism dem Verhältnis von Literatur und Geschichte nur bedingt Neues hinzuzufügen hat, da er auf eine differenzierte Begriffsbestimmung beider Diskurse sowie jener Textsorten, die sie konstituieren, verzichtet und damit ähnliche Kritik herausfordert wie die Ansätze Hayden Whites, etwa die fehlende Berücksichtigung der genuin unterschiedlichen Ansprüche literarischer und historischer Texte, was ihre Wissenschaftsspezifik, ihren implizierten Wahrheitsanspruch und die unterschiedlichen Bedingungen ihrer Rezeption und Produktion betrifft.24 Eine Marginalisierung des Literaturbegriffes wie auch des Geschichtsbegriffes kann im Rahmen neohistorischer Lektüren nicht ausbleiben, da der Einzeltext, etwa der literarische, gegenüber der Textualität der gesamten Kultur bzw. jeglicher kultureller Repräsentation an Relevanz verliert. Diesen Verlust des ›spezifisch Literarischen‹ als Folgeerscheinung des New Historicism sowie im erweiterten Sinne der Medienkulturwissenschaft kennzeichnet Oliver Jahraus entsprechend als »Aushöhlung und Entleerung des Textbegriffes«.25

Moritz Baßlers Auffassung liest sich vergleichsweise optimistisch, wenn er das innovative Potential des New Historicism im Bezug auf die Begründung einer neuen Auffassung der Geschichte zu beschreiben versucht:

Jeder neohistoristische Text gibt in seiner rhetorisch strukturierten Verknüpfung diskursiver Zusammenhänge zugleich eine Grammatik mit, eine Grammatik für jenes Sprachspiel, das man auf dem schwankenden Boden poststrukturalistischer Theorie noch und jeweils als historisches, als »Geschichte« bezeichnen kann.26

Tatsächlich aber unterliegt der Geschichtsbegriff hier bereits einer Überlagerung durch jenen der Kultur. Die eigentliche Innovation des New Historicism zeigt sich gerade dort, wo seine Ansätze zu einer neuen Bestimmung des Kulturbegriffs einladen. Entsprechend ersetzt Stephen Greenblatt die Bezeichnung New Historicsm in seinen späteren Schriften durch jenen Begriff, welchen er zu Beginn schon favorisierte: den einer »Poetik der Kultur«.27

In fast sämtlichen seiner Schriften thematisiert Greenblatt weniger das historische Subjekt als das kulturell geprägte bzw. konstituierte: Indem Greenblatt Kultur als »Ensemble von Überzeugungen und Praktiken« definiert, die als »eine umfassende Kontrolltechnologie, eine Reihe von Beschränkungen, in denen sich das Sozialverhalten zu bewegen hat, ein Repertoire von Modellen, mit denen die Individuen konform gehen müssen« fungiere,28 lenkt er den Blick auf die sinnkonstituierende, performative Dimension von Kultur. In Anlehnung an den anthropologisch begründeten Begriff der Kultur Clifford Geertz’ als »selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe« begreift Greenblatt Kultur als Form einer Machtausübung, die, indem sie normierte Verhaltensweisen vorführt, Einschluss- und Ausschlussmechanismen nach sich zieht. Für die Literaturwissenschaft (wie auch die Geschichtswissenschaft) bedeutet diese Einsicht, ihre Texte als »wichtiges Vehikel der Übertragung von Kultur« aufzufassen und jene Wege zu untersuchen, »auf denen die Verhaltensrollen kommuniziert und von Generation zu Generation weitergegeben werden, nach denen Männer und Frauen ihr Leben strukturieren sollen.«29 Hier erkennt Greenblatt die Herausforderung einer interpretativen Methode, an der Geschichts- wie Literaturwissenschaft gleichermaßen beteiligt sind und fordert ein Ende der konsequenten Trennung des Geschichtsstudiums vom Literaturstudium. Tatsächlich finden, mit Greenblatt, Geschichts- und Literaturbegriff im Kontext einer Poetik der Kultur neu zusammen und

entwickeln Historiker in immer stärkerem Maße ein Gespür für die symbolischen Dimensionen gesellschaftlicher Praxis, während sich die Literaturwissenschaftler in den letzten Jahren mit wachsendem Interesse den gesellschaftlichen und historischen Dimensionen symbolischer Praxis zuwenden.30

Die problematischen Konsequenzen dieser Annäherung beider Disziplinen und der von ihnen produzierten Texte im Kontext eines neu formulierten Kulturbegriffes reflektiert Greenblatt kaum: Tatsächlich wird mit der Fokussierung auf das subversive Potenzial von ›kulturschaffenden‹ Texten die Autonomie des literarischen Textes weniger beschnitten als das wissenschaftliche wie methodologische Selbstverständnis der Historiografie, der es nicht nur um Fragen der historischen Repräsentation, sondern immer auch um das Erkenntnisinteresse einer historischen Forschung gehen muss.

Die Spezifik historiografischen Schreibens im Verbund mit einer historischen Forschung bleibt durch den New Historicism, gerade weil er gleichberechtigt Spuren unterschiedlichster Diskurse kreuzt, im Grunde unberücksichtigt – auch er unterstreicht in erster Linie die in der Folge des linguistic turn sichtbar gewordene Unsicherheit der Geschichte. Seine zukunftsweisende Fortsetzung findet der Ansatz allerdings in der in den 1990er Jahren ausgerufenen anthropologischen, später auch kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften, die mit dem New Historicism eingeleitet wird. Denn mit dem neuen Kulturbegriff, der den diachronen Faden der großen historischen Metanarration durch die Netzstruktur synchron verlaufender Diskursfäden ersetzt, geraten zum einen die unterschiedlichen kulturellen Repräsentationsmechanismen, zum anderen die damit verbundenen normativen Prozesse und die von ihnen erzeugten ›Ränder‹ der Geschichte in den Blick. Eben hier liegen etwa die Ansätze der Genderforschung verborgen, die nach den kulturellen, historischen wie politischen Repräsentationsformen der Geschlechter fragt und deren patriarchal geprägte Steuerung zu dekonstruieren sucht. Insbesondere aber leitet der Kulturbegriff des New Historicism zu den postkolonialen Perspektiven über, die (wie Edward Said in seinem Gründungstext Orientalism)31 den Blick auf die eurozentrische Konstruktion hierarchisch strukturierter Binäroppositionen von Fremdem und Eigenem (Prozesse des so genannten ›Otherings‹) richten und anschließend nach Wegen suchen, diese Differenzstruktur und das in ihr gespiegelte hegemoniale Mächte- und Kräfteverhältnis durch den Entwurf neuer, hybrider Ordnungen zu unterlaufen.32

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