Neubeginn

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Kapitel 3

Montag, 09. November, 20.10 Uhr

Vor dem kleinen, hellgelben Haus in der Chester Street in Alexandria parkte Hope ihren Wagen mit den Reifen auf dem Bürgersteig. In diesem Viertel der etwa einhundertzwanzig Meilen südlich von Shreveport ebenfalls am Red River gelegenen Großstadt war die Welt noch in Ordnung. Die englischen Rasen in den von weiß gestrichenen Holzzäunen umgebenen Vorgärten strahlten in saftigem Grün, obwohl es diesen Winter für Louisiana untypisch kalte Temperaturen hatte.

Hopes Mutter liebte Himbeeren, deshalb wirkte der Vorgarten von Haus Nummer Zwanzig kahler als die übrigen in dieser Straße, in denen pompöse Winterblüher in ihrer bunten Pracht miteinander konkurrierten. Ellen Cromworth hatte die Himbeersträucher fachgerecht zurückgeschnitten, damit sie im kommenden Frühjahr wieder austreiben konnten, was ihrem Garten jedoch zum momentanen Zeitpunkt ein recht tristes und verlorenes Aussehen verlieh.

Ihre Mutter stand hinter der Spüle und schaute aus dem Fenster. Als sie Hope erblickte, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie winkte ihr aufgeregt zu, während von ihren Putzhandschuhen in grellem Neon-Pink munter der Spülschaum heruntertropfte. Dann verschwand der dunkle Haarschopf, um kurze Zeit später an der sich öffnenden Haustür wieder in Erscheinung zu treten.

Hope stellte den Schalthebel auf Parken, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.

„Hope!“, rief ihr die Mutter zu. „Was für eine Überraschung! Wieso hast du dich nicht angemeldet, dann hätte ich doch ein Abendessen vorbereitet! Oh…“ Sie hielt in ihrer Freude inne, als sie das verweinte Gesicht ihrer Tochter sah.

„Ich bin spontan hergefahren“, flüsterte Hope und fiel ihrer Mum um den Hals, ganz wie früher, als sie noch Mamas kleines Mädchen gewesen war. Ellen Cromworth war stets der sichere Hafen in ihrem Leben gewesen, eine enge Vertraute, ein Rückzugsort für alle Fälle, ein Auffangnetz, wenn sie ganz tief zu fallen drohte.

Ellen strich Hope sanft über den Kopf wie nur Mütter es tun und sagte: „Komm erst mal herein. Ich mache dir eine heiße Milch und Kekse habe ich auch da. Danach wird es dir gleich viel besser gehen.“

Denselben Effekt wie früher, als Kekse und Milch wirklich jede Kindersorge verscheuchen konnten, hatte das liebevoll zubereitete Frustessen zwar nicht, aber dennoch ging es Hope danach ein wenig besser.

Sie saß auf ihrem breiten Lieblingssessel, wohlig eingemummelt in eine kuschelweiche Decke, den mittlerweile dritten warmen Becher mit dampfender Milch in der Hand. Auf dem Wohnzimmertisch brannte ein Stövchen, auf dem Ellen gerade eine heiße Kanne Tee postierte, während sie in der linken Hand zwei Thermo-Teetassen jonglierte. Dann nahm sie auf der kleinen Couch Platz, die im rechten Winkel zu Hopes Sessel aufgestellt war, und lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. „Ist es wegen Conrad?“, fragte sie. „Es hat mich tief getroffen, als ich deine Email über seinen Tod gelesen habe.“

„Ich habe eine Ladung zur Testamentseröffnung bekommen.“

„Oh.“

Hope nippte an der noch immer heißen Milch. „Conrads Frau war heute im Präsidium. Sie hat mich Flittchen genannt.“

Ellen legte die Stirn in Falten und wartete auf einen ausführlicheren Bericht und so sprach sich Hope alle Sorgen von der Seele. Sie erzählte vom Zusammentreffen mit Eleanor Harper, von der Feindseligkeit ihres Chiefs und der Arroganz des neuen Kollegen. Ihre Mutter hörte aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, trank schweigend ihren Tee und nickte hin und wieder, um Hope zu signalisieren, dass sie ihr noch folgen konnte.

Als Hope schließlich am Ende ihrer Berichterstattung angelangt war, neigte Ellen den Kopf und blickte ihre Tochter noch eine Weile nachdenklich an. „Woher kommen nur diese tiefen Selbstzweifel?“, fragte sie irgendwann ganz unvermittelt. „Du bist eine starke Frau. Du wirst dich doch nicht von einer Hure im Pelzmantel und einem Arschloch in Uniform kleinkriegen lassen!“

Klare Worte waren typisch für ihre Mum. Das Leben hatte sie geprägt. Nachdem sie mit siebzehn unverheiratet schwanger geworden war, hatten ihre streng katholischen Eltern sie aus dem Haus geworfen. In der Überzeugung, in Hopes Vater den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, war sie nach Alexandria gekommen und bei ihm eingezogen. Doch noch ehe Hope das Licht der Welt erblickte, hatte der feige Kerl sich bereits aus dem Staub gemacht und lag bei einer anderen im Bett.

Ellen Cromworth hatte alles alleine geschafft. Arbeit, Kindererziehung, Haushalt… Es hatte Hope nie an etwas gemangelt. Ellen hatte Zeit und Geduld für sie, war liebevolle Mutter und verständnisvoller Vater zugleich, eine gute Zuhörerin und sie hatte ihrer Tochter stets alles ermöglicht, was diese sich in ihren Kopf gesetzt hatte. Hope wusste, was sie ihrer Mutter verdankte.

„Ich bin nicht so stark wie du.“, warf sie ein.

„Aber Conrad war der festen Überzeugung, dass du es bist“, hielt ihre Mum dagegen. „Sonst hätte er dich nicht für seine Nachfolge bestimmt.“

Hope verzog das Gesicht, denn gegen diese logische Argumentation gab es nichts einzuwenden. Der Captain hatte an sie geglaubt und sie gefördert. Bis zum letzten Atemzug, als er sie im Haus der Familie Thomas, in dem sich eine unglaubliche Tragödie zugetragen hatte, am Boden liegend und wohlwissend, dass er sterben würde, ermahnt hatte, sich nicht unterkriegen zu lassen. „Du bist für mich die Tochter, die ich nie hatte“, waren seine Worte gewesen. „Du bist stark und klug. Lass dir von niemandem jemals etwas anderes einreden. Versprich es mir!“

„Wenn Chief Rice mich raushaben will, dann wird er das auch schaffen“, sagte Hope missmutig. „Er ist derjenige mit Macht und Einfluss und die gewinnen immer.“

„Wenn du jetzt alles hinwirfst und davonrennst, dann hat er bereits gewonnen“, schlussfolgerte Ellen. „Und es wird irgendwo irgendwann wieder eine neue Hope geben, die derselben Ansicht sein wird und hinwirft. Außer du beweist heute hier und jetzt das Gegenteil. Nämlich dass es doch möglich ist, den Mächtigen die Macht zu nehmen, den Einflussreichen den Einfluss und den Rechthabern ihre vermeintlichen Rechte.“

Hope seufzte. Das klang alles so einfach. Dabei war es alles andere als das. Und sie war diejenige, die da durch musste. Das konnte ihre Mutter ihr nicht abnehmen. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“

Ellen zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht“, gab sie offen zu. „Vielleicht würde ich das Handtuch werfen, um den Chief in seiner Überzeugung, dass Frauen in Verantwortungspositionen nichts verloren haben, zu bestärken. Und der Witwe damit die Genugtuung geben, dass sie mit ihrer Hinterhältigkeit Erfolg hatte. Und Detective Taylor die Möglichkeit bieten, zum Captain deiner Einheit aufzusteigen.“

„Ich hasse es, wenn du so gehässig bist“, murrte Hope, mehr darüber verärgert, dass ihre Mutter Recht hatte als über ihren vor Sarkasmus triefenden Satz. „Taylor wird niemals mein Team leiten. Vorher muss ihm zuerst einmal jemand Manieren beibringen und ihn von seinem hohen Ross holen.“

„Du magst ihn!“, rief Ellen aus und strahlte dabei übers ganze Gesicht.

Hope erstarrte. „Wie bitte? Nein!“, wies sie diese Idee weit von sich. „Niemals. Um Himmels Willen, Mum!“

Ellen lachte und Hope warf in gespielter Beleidigung ein Kissen nach ihr. „Aber er sieht doch bestimmt gut aus, nicht wahr?“, sagte sie neckisch.

„Mum, hör auf damit!“

„Ein kleines, heimliches Techtelmechtel mit einem Kollegen würde dir sicher guttun.“

Hope rollte mit den Augen. „Und mich wahrscheinlich schneller auf den obersten Platz auf Rices Abschussliste katapultieren, als ich Techtelmechtel aussprechen kann. Überhaupt – wer verwendet diesen archaischen Ausdruck heutzutage noch? Sowas kann nur von dir kommen!“

Ellen winkte ab. „Ich übe schon einmal Großmuttersprache“, zwinkerte sie. „Außerdem stehst du bereits auf dem obersten Platz dieser Liste. Egal was du tust oder wie absolut korrekt du dich verhältst, ein Fehler wird dir früher oder später unterlaufen, denn kein Mensch ist perfekt“, prophezeite sie. „Und dann schnappt die Falle zu und das einzige, was dich retten kann, wird die Unterstützung und Loyalität deiner Kollegen sein. Das Vertrauen deines Teams und zwar von jedem einzelnen. Also auch von Detective Taylor. Aber meine Tochter ist schlau, ich bin sicher, ihr wird eine Möglichkeit einfallen, auch seine Sympathie zu gewinnen. Was ist, wollen wir noch eine Folge Desperate Housewives gucken?“, schwenkte sie unvermittelt zu einem vollkommen anderen Thema.

„Diesen alten Kitsch?“, seufzte Hope. „Na los. Wirf die DVD schon ein. Kann ich danach wenigstens hier schlafen?“

Dienstag, 10. November, 03.10 Uhr

Aus einer Folge waren im Nu sieben geworden und als Hope sich in ihr altes Jugendbett fallen ließ, beschloss sie, am nächsten Morgen später arbeiten zu gehen. Ihre Pläne wurden jedoch jäh zerstört, als um kurz nach drei in der Früh ein aufgeregter, junger Polizist aus der Einsatzverteilerzentrale auf ihrem Handy anklingelte und der noch im Halbschlaf gefangenen Hope erklärte, dass man eine Leiche gefunden hatte, bei der es sich offenbar um Mord handelte.

Während Hope, das Mobiltelefon mit der einen Hand fest ans Ohr gedrückt, den näheren Einzelheiten lauschte, schlüpfte sie mit Unterstützung der anderen Hand ungeschickt in ihre Jeans und in das Shirt vom Vortag. Auf Grund des weiten Anfahrtswegs würde sie nicht einmal mehr duschen können…

Na toll, ich rieche wie ein Otter…

Die Zeit, die die Kaffeemaschine zum Brühen benötigte, nutzte Hope dafür, ihrer Mum ein paar Zeilen bezüglich ihres überhasteten Aufbruchs nieder zu kritzeln, dann füllte sie die dampfende, schwarze Brühe in eine Isolierkanne, streifte hastig die Jacke über und rannte zu ihrem Wagen. Um diese frühe Uhrzeit sollten wenigstens die Straßen frei sein. Dennoch montierte Hope vorsichtshalber das mobile Blaulicht auf dem Dach und fuhr mit laut quietschenden Reifen an.

 

Wie dankbar war sie dem Erfinder der Spracherkennungssoftware, mit deren Hilfe ihr Handy auf Zuruf die Nummer von Adrian wählte, der nach kurzem Freizeichen müde abhob. „Wir haben einen ersten Fall“, setzte sie ihn in Kenntnis. „Und laut Navi benötige ich noch fünfzig Minuten zum Tatort.“

„Scheiße, wo bist du denn?“, fragte Adrian und aus dem Rascheln im Hintergrund schloss Hope, dass er dieselbe Anziehprozedur durchlief, wie sie kurz zuvor.

„Ich war bei meiner Mum. Egal“, versuchte Hope die Sache abzutun und sich damit weitere, unnötige Erklärungen zu ersparen. „Eine weibliche Leiche auf dem Parkplatz des Kroger Food Stores in der Benton Road in Bossier City. Kannst du mit Grace früher dort sein als ich? Ich schicke auch noch Taylor los.“

„Ich versuche es. Bis dann.“

Zum Glück gestalteten sich solche Telefonate immer kurz, weil nur die wesentlichen Punkte geklärt wurden; danach musste jeder Ermittler sich auf seine ganz persönliche Art und Weise auf den Anblick eines weiteren, durch Gewalteinwirkung ausgelöschten Lebens einzustellen.

Hope drehte das Radio auf, um einem Sekundenschlaf vorzubeugen, und trällerte lauthals mit. Das blinkende Sirenenlicht gab ihr die Berechtigung, sämtliche Tempobeschränkungen zu ignorieren.

Im Fünfminutentakt klingelte sie bei Detective Christian Taylor durch, doch stets meldete sich nur die Mailbox. Es war Taylors erste Woche und schon jetzt fiel er durch seine Unzuverlässigkeit negativ auf. Die Musterakten mussten gefälscht sein! Hope notierte sich im Kopf, dass sie sich bei nächster Gelegenheit einmal direkt mit den Kollegen in Milwaukee in Verbindung setzen wollte, um etwas mehr über den neuen Ermittler in ihrem Team in Erfahrung zu bringen. Aus erster Hand sozusagen.

Dienstag, 10. November, 04.00 Uhr

Hope passierte gerade das Willkommensschild von Shreveport, als ein brummelnder Taylor endlich ranging.

„Guten Morgen, Herr Kollege. Schön, Sie zu erreichen.“ Sie konnte sich den bissigen Kommentar nicht verkneifen. „Haben Sie schon einmal etwas davon gehört, dass Sie auch erreichbar sein müssen, wenn Sie Dienst haben?“

Einen etwas zu langen Augenblick blieb es still in der Leitung und Hope konnte sich lebhaft vorstellen, wie Taylor wütend mit den Zähnen knirschte. „Rufen Sie deshalb mitten in der Nacht an, um mich über meine dienstlichen Pflichten zu informieren?“, fragte er schließlich nicht weniger bissig zurück. „Das hätte auch bis morgen früh warten können.“

„Nein“, schnitt Hope ihm das Wort ab. „Ich rufe an, weil wir zu einem neuen Fall gerufen werden. Eine weibliche Leiche in der Benton Road. Wie schnell können Sie dort sein?“

Taylor räusperte sich und den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, versuchte er gerade seine Gürtelschnalle zu schließen. „Wird mir das Navi gleich verraten“, gab er kurz zurück und drückte ihren Anruf weg.

Ungläubig schüttelte Hope den Kopf, murmelte ein paar Schimpfworte auf ihren neuen Kollegen und trat mit Nachdruck auf das Gaspedal. Erst als sie in die Benton Road einbog, drosselte sie ihre Geschwindigkeit und lenkte ihren Wagen in die nächstbeste Parklücke.

Wie sie erwartet hatte, war Adrian bereits am Tatort, als sie dort eintraf. Zwei Streifenpolizisten hatten die Stelle um die Leiche mehr schlecht als recht mit gelbem Polizeiband abgesperrt und waren jetzt damit beschäftigt, betrunkene und bekiffte Discoheimgänger davon abzuhalten, eventuell vorhandene Spuren zu verwischen.

Detective Taylor war nicht zu sehen.

Hope schürzte die Lippen, drängte zwei Jugendliche etwas grob zur Seite, während diese ihr unverständliche Laute entgegenblafften. Offensichtlich wussten sie nicht, dass sie sie allein wegen ihres alkoholgeschwängerten Atems in die Ausnüchterungszelle hätte sperren können.

„Hope!“ Adrian winkte ihr mit behandschuhten Fingern zu. „Sie ist tot.“

Hope kroch unter dem viel zu hoch gespannten Band hindurch und nahm die Handschuhe entgegen, die Adrian ihr reichte.

„Kein Puls, kein Herzschlag, keine Atembewegungen… Ihr Körper ist schon relativ kalt.“ Adrian gab die Fakten wieder, während sein Atem leichte Wölkchen in der Luft formte.

Hope vermutete, dass es bei diesen Temperaturen recht schnell ging, dass ein bewegungsloser Körper auskühlte. Doch dass die Frau am Boden tot war, war dennoch eine unabänderliche Tatsache.

„Offensichtliche Wunden, an denen sie gestorben sein könnte?“

Adrian hob die Schultern. „Ich hoffe, dass die Spurensicherung demnächst mit einer Flutlichtquelle hier eintrifft. Bei diesen ständig wechselnden Lichtverhältnissen aus den umstehenden Tanzcafés ist das schwer zu sagen. Ich kann kein Blut entdecken, doch ein Schwarzlichtcheck sollte uns da bessere Auskunft geben können.“

Hope nickte. Um den mit Rock und zugeknöpfter Bluse bekleideten Leichnam der jungen Frau waren keine Blutspuren zu erkennen. Sogar die Nylonstrümpfe wiesen, abgesehen von einer kleinen Laufmasche, keine Beschädigung auf und die Pumps saßen fest an den Füßen der Toten. Hope kam aus der Hocke hoch. „Auch auf den ersten Blick nichts, das für eine Vergewaltigung spricht.“ Das war zwar erst einmal ein positives Zeichen, doch es erschwerte das Finden des Tatmotivs. Hope ließ ihren Blick umherschweifen.

Dieser Teil von Bossier City war bekannt für seinen hohen Anteil an afroamerikanischen Mitbewohnern. Während diese ethnische Gruppe in der Stadt Shreveport etwa die Hälfte der Einwohner darstellte, schätzte Hope sie hier auf mindestens achtzig Prozent.

In der Benton Road war man in Feierlaune. Sieben Nächte die Woche wurde hier getanzt, getrunken, gefeiert und auf jede erdenkliche Weise dem Laster gefrönt. Spielhöllen reihten sich neben Diskotheken, Tanzbars und billigen Spelunken. Das Rotlichtmilieu hielt sich dezent im Hintergrund, war aber dennoch spürbar.

Hope schaute wieder auf die Tote hinab und überlegte, ob sie wohl ein Teil dieser sündhaften Gegend oder lediglich ihr Gast gewesen war. „Was schätzt du, wie alt sie war?“, fragte sie, in Gedanken noch immer jede Option erwägend.

Adrian holte tief Luft. „Schwer zu sagen“, meinte er. „Jedenfalls ist ihr Teint nicht so dunkel wie der der übrigen, die hier herumlungern.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen“, sagte Hope und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Lateinamerikanisch. Was hatte sie hier zu suchen?“

Adrian schüttelte den Kopf. „Mann, wenn Bishop nicht bald seinen Arsch hierher bewegt, breche ich ihm alle Knochen. Mir ist schweinekalt und das Herumstehen und Warten macht es nicht besser.“

Hope warf ebenfalls einen Blick auf seine Armbanduhr. „Und wenn Detective Taylor nicht bald seinen Arsch hierher bewegt, dann breche ich ihm alle Knochen.“

„Wie charmant.“

Hope und Adrian fuhren gleichermaßen erschrocken herum.

Der hochgewachsene Mann mit den schwarzen Haaren, auf denen er nicht einmal eine Mütze trug, senkte ehrerbietend den Kopf. „Detective Taylor, zu Ihren Diensten.“

Hope hätte ihm für diesen offen zur Schau getragenen Sarkasmus am liebsten tatsächlich alle Knochen gebrochen. Doch sie gab sich mit einem kurzen: „Wie erfreulich; und das mit einer nicht nennenswerten Verspätung von… zwei Stunden?“ zufrieden.

„Wahrscheinlich suchte sie Koks“, fuhr Taylor unbeirrt fort und beantwortete damit Hopes Frage an Adrians Stelle. „Wahlweise auch Heroin. Wird hier in der Gegend ganz groß angepriesen. Zu horrenden Preisen und das Zeug ist scheiße. Gestreckter Mischmasch aus allem, was nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Aber die meisten Junkies geben sich damit zufrieden.“

Adrian pfiff durch die Zähne. „Holla! Da kennt sich wohl jemand aus.“

„Ich habe einige Zeit bei der Sitte gearbeitet. Also ja, ich kenne mich mit sowas aus.“

Hope machte sich eine Notiz im Kopf, dass sie dringend die Personalakten von Detective Christian Taylor noch einmal direkt bei den Kollegen in Milwaukee anfordern musste. Mit Nachdruck. Und zwar die unfrisierte Version. „Das sollte ja nicht so schwer nachzuprüfen sein. Einstichstellen werden sich finden lassen. Und war das Zeug dann so schlecht, dass es sie zu Tode gebracht hat?“

Mr. Superschlau schüttelte den Kopf. „Nein, gestorben ist sie, weil es sich hier um Bandenkriminalität handelt.“

„Ach“, sagte Hope und hob eine Augenbraue. „Und dafür sind Sie wohl auch spezialisiert? Weil Sie einige Zeit undercover gearbeitet haben und so etwas auf den ersten Blick erkennen?“

Detective Taylor grinste überheblich. „Exakt“, sagte er schließlich und zwinkerte ihr zu, als ob sie mit ihm ins Bett gestiegen wäre.

Der Gedanke erschreckte Hope zutiefst. Wie konnte sie überhaupt an eine Bettvorstellung im selben Atemzug mit diesem arroganten Taylor denken? Sie war völlig überarbeitet. Gott!

„Du hast Recht, Adrian. Wenn Bishop nicht bald hier aufkreuzt, dann bekomme ich Frostbeulen und Ohrenkrebs.“

„Ich geh mich umsehen“, beschloss Taylor und Hope verfluchte ihn noch mehr. Sie war der Boss, sie hatte das Kommando und sie hatte ihn keinesfalls mit Herumschnüffeln beauftragt. Für ihn schien es eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass er kam, wann er wollte, und ermittelte, wie er es wollte. Und sich dazu noch respektlos seiner Vorgesetzten gegenüber verhielt.

„Sie können auch wieder nach Hause gehen“, sagte Hope steif. „Als große Hilfe erweisen Sie sich ohnehin nicht, wenn Sie unbegründete Vermutungen in den Raum stellen, für die es keine offensichtlichen Beweise gibt. Und morgen früh um neun Uhr möchte ich Sie in meinem Büro sprechen. Unter vier Augen. Ach, und Detective? Ich erwarte, dass Sie wenigstens da pünktlich erscheinen.“

Dienstag, 10. November, 05.15 Uhr

Chris biss die Zähne zusammen und zerfleischte seine neue Chefin in Gedanken. Gott, warum hasst du mich so sehr? Was habe ich nur getan, dass du mich immer wieder strafen willst? Er schüttelte den Gedanken ab. Er wusste, was er getan hatte und wofür er gestraft wurde. Wahrscheinlich lag darin eine Art von Gerechtigkeit.

Er lief ein paar ausladende Schritte auf die nächste Straßenseite, um Abstand von dieser hochnäsigen Cromworth zu gewinnen und hoffte, seine Wut bei ihr zurücklassen zu können. Eine Emanze aus dem Bilderbuch, die sich offenbar geschworen hatte, die Männerwelt unter sich zu begraben. Und an ihren freien Abenden, jobbt sie wahrscheinlich nebenbei als Domina. Chris‘ anfänglich heiteres Grinsen erstarb, als er sich der Tatsache bewusst wurde, dass er gerade einen Gedanken ausführte, in dem er Detective Hope Cromworth mit Sex in Verbindung brachte. Wie konnte er überhaupt an eine Bettvorstellung im selben Atemzug mit dieser arroganten Frau denken? Er war völlig übernächtigt. Gott!

Sich über sich selbst ärgernd, zwang er sein Gehirn zurück in die Realität und scannte die Namen der Lokale, die sich in dieser Straße aneinanderreihten. Einige davon kannte er sehr wohl aus eigener Erfahrung, denn auch er war einmal jung gewesen. Der Kroger Food Store hatte vierundzwanzig Stunden geöffnet, doch durch die Glasscheibe konnte er erkennen, dass der junge Angestellte am Handy zockte. Die Menschen, die sich um diese Uhrzeit hier herumtrieben, waren entweder zu alkoholisiert oder zu high, um einkaufen zu gehen. Wer etwas benötigte, der fand das Gesuchte meist im Gebäude, zu welchem ein Hintereingang neben dem scheinbar dicht bewachsenen Gebüsch auf der linken Seite des Einkaufsladens führte. Die Stimme der Vernunft sagte ihm ganz deutlich, dass er diesen Ort unter allen Umständen meiden musste. Auch wenn ich dort sicher ein paar wertvolle Informationen erhalten würde.

Chris schnalzte mit der Zunge und setzte sich wieder in Bewegung.

Die Tür zur PomPom-Bar war wie eh und je durch eine uralte Schnur mit einer halb verrosteten Glocke verbunden, die bei jedem Öffnen mit einem scheppernden, dumpfen und schrägen Ton neue Kundschaft ankündigte.

Ein kleines Lächeln hob seine Mundwinkel, als er den bierbauchigen, glatzköpfigen Mann hinter dem Tresen erkannte. „Ich hörte, hier gibt’s das köstlichste Bier im Umkreis von Meilen. Man sagt, der Wirt braut es nach dem berühmten deutschen Reinheitsgebot. Auch wenn der Kerl selber nicht mal weiß, wo Deutschland liegt.“

 

Berry PomPom Walsh, Inhaber des PomPom, drehte sich um und als er seinen frühen Gast erkannte, glitzerten seine dunklen Schweinsäuglein noch strahlender als die Schweißtropfen, die ihm über das puterrote Gesicht liefen. Er stellte den Bierkrug, den er gerade mit einem speckigen Tuch ausgetrocknet hatte, auf den Tresen und breitete die Arme aus. „Da hol mich doch der Teufel!“, rief er. „Mensch, Junge! Dich hab ich ja seit Ewigkeiten nicht gesehen!“ Sein gellendes Lachen, bei dem er zwei lückenhafte Zahnreihen entblößte, ging schnell in ein prustendes Husten über, bei dem er sich den dicken Bauch halten musste.

In der schmalen Bar stand der Rauch aber auch wie eine Wand und es war nicht möglich, bis zum hinteren Ende des Raumes zu sehen. „Alter, du rauchst zu viel!“, stellte Chris fest und klopfte auf den Tresen, während er sich auf einem Barhocker niederließ, dessen Beine ungleich gearbeitet zu sein schienen. Er wippte hin und her. Vielleicht lag es auch an den schäbigen Dielen auf dem Boden. Oder Berry hatte die Beine mit Absicht abgesägt, um den Betrunkenen dadurch zu helfen, ihr eigenes Schwanken auszugleichen.

„Aber nur passiv, mein Lieber. Deshalb kommen die Menschen hierher. Hier dürfen sie noch ungestraft ihrem Laster nachgehen, während sie dafür in allen anderen Kneipen wie Aussätzige behandelt und verstoßen werden. Ein Bier, mein Freund?“, fragte Berry und es schien eine rhetorische Frage gewesen zu sein, denn er war bereits dabei, das bräunlich gelbe Gebräu in den noch nicht ganz trockenen Bierkrug abzufüllen. „Die Nichtraucher sind eine Pestilenz.“

„Du hattest schon immer ein Herz für die Ausgestoßenen und Verfemten“, lachte Chris und nahm einen großen Schluck, während ihn der kühle, weiße Schaum an der Oberlippe kitzelte.

„Ich weiß“, sagte Berry und winkte ab. „Das beste Bier weit und breit. Und ich weiß, wo Deutschland liegt. Es liegt direkt neben Bayern!“

Er sagte das mit einer Inbrunst der Überzeugung, dass Chris es sich verkniff, ihn über die geografische Lage europäischer Länder aufzuklären. Die Leute, die hierherkamen, hielten Deutschland wahrscheinlich für eine Kolonie irgendwo auf der anderen Seite des Atlantiks.

„Aber komm schon, dem alten Berry kannst du nichts vormachen. Weshalb bist du hier? Ganz bestimmt nicht wegen dem Frühschoppen…“

Wenn ich an das bevorstehende Gespräch mit Detective Ich-mach-auf-strengen-Chef denke, kann ich gar nicht genug davon trinken.

„Bin ich so durchschaubar?“

Berry hob die Augenbrauen. „Wer ist das nicht?“, fragte er.

Chris nickte um offensichtliche Resignation bemüht. „Okay, erwischt.“ Er strich sich theatralisch durch die Haare und wuschelte seine Frisur durch. „Hübsches Gesicht, jung, wallendes Haar, Beine bis zum Boden… Du weißt schon. Die junge Puerto-Ricanerin mit dem hübschen Lächeln…“

Berry grinste wissend und ein wenig anzüglich. Wusste ich es doch, lobte Chris innerlich seinen treuen Instinkt und musste sich ein triumphierendes Grinsen verkneifen. „Lucía. Eine hübsche Braut. In der Tat. Aber glaub mir, sie wird dich unglücklich machen.“

„Warum?“, fragte Chris. Ich bin ganz Ohr.

„Ach, ein durchtriebenes, kleines Luder, das Mädel. Aber für ne Prise Koks bläst sie dir einen. Jedenfalls hat sie das dem Kerl versprochen, mit dem sie gestern hier angebandelt hat.“ Berry zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder seiner Abtrockenarbeit. „Keine Ahnung, was sie dafür verlangt, wenn sie mit dir ins Bett gehen soll.“

„Eine Bordsteinschwalbe also. Hätt ich mir ja denken können.“

„Nein, nein“, wehrte Berry ab. „Ein Junkie, keine Nutte. Käuflich, aber keine Bitch. Du kennst doch hoffentlich den Unterschied?“

„Hm“, brummte Chris. Wenn eine Frau mit einem Mann gegen Bezahlung ins Bett ging, dann war sie eine Prostituierte, auch wenn es nicht ihr Hauptberuf war. „Und der Kerl? Ihr Freier?“

„Nein!“, verbesserte ihn Berry. „Ihr One-Night-Stand. Keine Ahnung. Kein Latino jedenfalls.“

„Schwarz?“

„Politisch korrekt heißt das glaube ich jetzt anders, aber ja. War sehr angetan der Kerl. Dicke Hose. Du weißt schon. Konnte jeder sehen, als er aufgestanden ist. Flinke Fingerchen diese Lucía.“

„Und wenn ich mehr über ihre Zunge in Erfahrung bringen möchte, dann wende ich mich an…“ Chris ließ den Satz unvollendet und hob fragend die Brauen.

„Mackie, wen sonst“, sagte Berry leichthin.

Chris stieß ein paar lautlose Flüche aus. „Mackie, wen sonst“, wiederholte er und leerte sein Glas auf Ex.

Berry schaute ihm dabei aufmerksam zu und nickte dann anerkennend. „Respekt, Mann. Soll ich nochmal auffüllen?“

„Nein, danke“, lehnte Chris ab. Wenn ihm auch nur der Hauch von Alkohol anhängen sollte, würde Detective Cromworth ihm zweifellos unverzüglich eine schriftliche Abmahnung zukommen lassen.

„Ach komm, das geht aufs Haus“, erklärte Berry, als Chris sein Portemonnaie aus der Hosentasche zog.

„Ich schulde dir was, Alter!“, bedankte sich Chris und verließ das PomPom, bevor Berry den Versuch unternahm, mit ihm in vergangenen Zeiten zu schwelgen.

Dienstag, 10. November, 08.45 Uhr

Abgesehen davon, dass Tom Bishop, der Leiter der Spurensicherung eine Kanne mit heißem Kaffee mitgebracht hatte, über den Hope und Adrian nur zu gerne hergefallen waren, konnte er ihnen ad hoc leider auch keine nützlichen Informationen geben. Nachdem er dann auch noch ausgeplaudert hatte, dass der Kaffee koffeinfrei und mit Sojamilch zubereitet worden war, hatten Hope und Adrian sich unauffällig verflüchtigt.

Beim nächsten Starbucks Store holte Adrian ihnen einen heißen Cappuccino mit einer Extraportion dampfendem Milchschaum. Während sie stillschweigend und müde daran nippten, fuhr Hope langsam durch die dunklen Straßen Shreveports und setzte Adrian schließlich direkt vor seinem Haus ab. Durch die Rollladenritze schien Licht auf die Straße und als ihr Kollege die Tür öffnete, konnte Hope beobachten, wie er von einer hübschen, braunhaarigen Frau im Morgenmantel empfangen und umarmt wurde. Sie seufzte.

In ihrer Wohnung wartete keiner auf sie.

Dennoch setzte sie den Wagen wieder in Bewegung, denn die Zeit drängte. Bereits um halb zehn hatte sie das Meeting mit der gesamten Truppe angesetzt und eine halbe Stunde vorher stand das Gespräch mit Christian Taylor an. Wie peinlich wäre es, wenn sie zu spät käme.

Leider war es, als sie schließlich immer noch müde ihren Wohnungsschlüssel umdrehte, schon so spät, dass es sich nicht mehr gelohnt hätte, sich noch einmal für ein paar Minuten hinzulegen. So hatte Hope lediglich schnell geduscht, sich einen raschen Obstsalat zusammengeschnippelt und ihren Laptop gepackt, bevor sie sich wieder in den Verkehr stürzte.

Nun war es kurz vor neun und sie saß in ihrem Büro, das immer noch aus jedem noch so kleinen Winkel den Namen seines Vorbesitzers zu schreien schien. Dass Conrad mit allem Grünzeug auf Kriegsfuß gestanden hatte, sah man an den verwelkten Blumen in staubigen Töpfen, die sich auf der langgedehnten Fensterbank aneinanderreihten. Selbst die Erde war in einigen Töpfen bereits angeschimmelt. Hope beschloss, sich dieser Nische als erstes zu widmen und die toten Pflanzen gegen irgendwelche Bilderrahmen mit lustigen Sprüchen auszutauschen. Tausche Tristesse gegen Fröhlichkeit, notierte sie sich auf ihrer gedanklichen To-do-Liste, auf der bereits die Beantragung der tatsächlichen Personalakte ihres neuen Kollegen stand.

Detective Taylor hatte sie heute früh beinahe zur Weißglut gebracht, doch als Vorgesetzte durfte sie sich ein solches Verhalten eigentlich nicht erlauben. Captain Conrad Harper war zwar mindestens zehn Mal an einem gewöhnlichen Arbeitstag ausgerastet, doch niemals gegen sein Team. Meistens gingen die Angriffe gegen Journalisten. Mit der Presse stand er ebenso auf Kriegsfuß wie mit seinem Grünzeug.

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